2. Juni 2013

Wir gehören dazu – mit unseren Gaben und Erfahrungen

Anders als bei den vorangegangenen Heimattagen bewegte sich am Pfingstsonntagabend kein Fackelzug durch die Straßen Dinkelsbühls hin zur Gedenkstätte der Siebenbürger Sachsen in der Lindenallee der Alten Promenade. Die traditionelle Rede zum Gedenken an die Opfer von Krieg, Verfolgung, Flucht und Vertreibung hielt Pfarrer i.R. Hans-Martin Trinnes ohne den seit so vielen Jahren ritualisierten feierlichen Rahmen, ohne den Großen Zapfenstreich der Dinkelsbühler Knabenkapelle. Aufgrund der nachmittäglichen Regengüsse war die Feierstunde in die St.-Pauls-Kirche verlegt worden.
In seiner nachdenklich stimmenden Ansprache formulierte Pfarrer i.R. Hans-Martin Trinnes die bittere Erkenntnis: „Herrscher, Könige, Potentaten wollen gerne über ein möglichst großes, starkes Volk herrschen. Nicht zur Ehre Gottes, sondern zur Durchführung ihrer eigenen Ziele. Volk ist eine Masse, die man führen, ja sogar verführen kann. Schade nur, dass vor allem die Begeisterungsfähigkeit junger Menschen in falsche Kanäle geleitet wird.“ Der Redner appellierte an die zahlreich versammelten Zuhörer im Gotteshaus, „mit feinem Gehör die Äußerungen von Intoleranz und Fremdenfeindlichkeit“ ebenso „wie alle übertriebenen Machtansprüche“ zu entdecken und nicht dazu zu schweigen. Die Ansprache wird im Folgenden ungekürzt wiedergegeben.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Brüder und Schwestern, liebe Landsleute! Ich möchte mit einem Märchen beginnen. Es heißt „Sieben Söhne“ und wurde von dem Dichter Ernst Wiechert zur Zeit des Zweiten Weltkriegs geschrieben. Ernst Wiechert stand der „Weißen Rose“ sehr nahe.

Eine Mutter hatte sieben Söhne. Ihr Mann war schon lange tot. Sie freute sich an ihren stattlichen Kindern, genoss es, wenn sie scherzend ihrem Tagewerk nachgingen – in Feld und Wiesen oder beim Fischfang. Eines Tages kam ein altes Weiblein zu ihnen. Sie sah der Mutter zu, wie sie Hemden für ihre Kinder spann, und riet ihr, sie möglichst lang zu machen, so dass sie auch die Füße bedeckten (so wie Totenhemden). Dann schenkte sie der Mutter für ihre Söhne wertvolle Geschenke zum Schutz vor dem Bösen. Die Mutter war erschrocken über diesen Besuch und sie ahnte, dass der Sommer bald vorüber sei und dass sie noch nicht alle Tränen geweint hätte.

Bald darauf zogen Boten des Königs über Land und riefen alle Männer und Jünglinge zu den Waffen. Denn der König hatte beschlossen, das Nachbarreich mit Krieg zu überziehen, weil es ihm zu mächtig geworden war. Da rüsteten sich die drei Ältesten und waren fröhlich, dass das Einerlei ihrer Tage ein Ende hatte und dass sie Ruhm und Ehre gewinnen konnten. Sie knieten vor ihrer Mutter nieder und baten um ihren Segen. „Wenn es nun sein muss“, sagte sie, „so besteht es in Ehren. Aber ich weiß nicht, ob es sein muss.“ Die Söhne aber scherzten und meinten, der König werde es schon wissen, auch wenn sie alle es nicht wüssten.

Nach einigen Tagen kam ein verwundeter Nachbar vom Schlachtfeld heim und erzählte ihr, wie tapfer ihre Söhne gekämpft hätten, und beschrieb die Stelle, wo die drei Toten zu finden waren. Die andern Brüder holten die Toten heim und begruben sie auf dem Hügel über dem See, bei den sieben Eichen, die der Vater gepflanzt hatte.

Kurze Zeit darauf gingen wieder Boten des Königs durchs Land und auch die drei jüngeren Söhne wurden unter die Waffen gerufen. Die Mutter gab ihnen ihren Segen, zweifelte aber, ob der König wisse, was er tut. Auch diese drei Söhne fielen im Kampf und der Jüngste brachte die Gefallenen nach Hause, um sie zu bestatten. Als wiederum nach acht Tagen ein Bote des Königs den jüngsten Sohn zum Kampf rief, da machte sich die Witwe auf und ging in die Hauptstadt zum König, weil sie um ihren kleinsten Sohn bitten wollte. Der König saß in einer großen, von Kerzen erleuchteten Halle, umgeben von seinen Großen. Seine Augen waren finster, als er das Anliegen der Witwe hörte. „Es ist viel, was du gegeben hast“, sagte er, „aber ein guter Untertan hat alles zu geben, und nicht nur viel.“ – „Gibst du auch alles?“, fragte sie ruhig. „Rede nicht so, Weib!“, sagte er zornig. „Weißt du nicht, dass du vor deinem König stehst?“ – „Vor dem Tod ist niemand König“, erwiderte sie, „und du scheinst nicht zu wissen, dass du vor einer Mutter sitzest.“ – „Was ist mir eine Mutter?“, fragte er verächtlich. „Die Mütter haben zu gebären, das ist ihr Handwerk.“ – „Hast du geboren?“ fragte sie, „dass du etwas von unserem Handwerk weißt? Und hast du noch eine Mutter ...?“ – Sie konnte auch das Leben ihres Jüngsten nicht retten. Der Fluch aber, den sie dem König an den Kopf schleuderte, ging kurze Zeit danach in Erfüllung.


Soweit die Kurzfassung dieses Märchens. Die Aussage des Königs aus diesem Märchen, „Mütter haben zu gebären, das ist ihr Handwerk“, rief die Erinnerung an einen Aufruf wach: „ Jede Frau schenkt dem Führer ein Kind“, ein Aufruf, der nicht unerhört blieb. Ich brauchte als Pfarrer in Siebenbürgen, wenn ich den Namen „Adolf“ in der Gemeindeliste entdeckte, nicht nach dem Geburtsjahr zu schauen.

Herrscher, Könige, Potentaten wollen gerne über ein möglichst großes, starkes Volk herrschen. Nicht zur Ehre Gottes, sondern zur Durchführung ihrer eigenen Ziele. Volk ist eine Masse, die man führen, ja sogar verführen kann. Schade nur, dass vor allem die Begeisterungsfähigkeit junger Menschen in falsche Kanäle geleitet wird. Und schade auch, dass man offenbar aus den Fehlern der Geschichte nicht immer lernt.

Pfarrer i.R. Hans-Martin Trinnes während der ...
Pfarrer i.R. Hans-Martin Trinnes während der Gedenkrede. Foto: Hans-Werner Schuster
Ein ähnlicher Aufruf an alle Mütter erging einige Jahrzehnte später – unter einem anderen Vorzeichen, von einem anderen Herrscher. Die Knaben, die daraufhin geboren wurden, trugen den Namen Nicușor.

Als Nachkriegsgeborene haben wir die Darstellung der Ereignisse des Zweiten Weltkrieges und der Nachkriegsjahre in vielfältiger und unterschiedlicher Weise erlebt: Es gab „Heldenfriedhöfe“, die besucht wurden, aber da waren nur bestimmte Namen zu finden. Zu Hause aber wurden die Namen anderer junger Männer genannt, die auch im Krieg gefallen waren und oft an unbekannten Orten ruhten. Sie wurden nicht „Helden“ genannt. Die Filme, die wir zu sehen bekamen, stellten das Kriegsgeschehen glorifizierend dar, was keinesfalls zum Frieden beitrug; zu Hause aber erfuhren wir von Leid und Trauer, Vergeltung und Unrecht. Wir merkten sehr früh, dass Wahrheiten von der aktuellen Doktrin abhängig waren. Langsam wuchs die Erkenntnis, dass sie alle, denen Krieg und die Nachkriegsjahre das Leben geraubt hatten, Opfer waren. Und viele Menschen sind bis heute Mitleidende und Betroffene. So haben wir von Klein auf gelernt, die Vielschichtigkeit der Botschaften und der Sichtweisen zu hören und die Vielfalt der „Wahrheiten“ abzuwägen. Ich glaube, dass wir ein feines Gespür entwickelt haben für das Leise, das Verborgene und eine gewisse Aversion gegen jedes Aufdringliche, Laute und Absolute.

Wir blieben Suchende in einem Land und in einer Zeit, wo man uns eigentlich alle Lebenskonzepte schon fertig als Rezepte vorlegte oder vorlegen wollte. Wir sind in gewissem Sinne immer Wanderer zwischen den Welten gewesen. Diese Denkweise und Lebenseinstellung ist in uns und mit uns gewachsen. Und ich glaube, es ist ein wertvolles Gut, das wir als Spätaussiedler selbstverständlich in die neue Heimat herüber gerettet haben. Es ist nicht nur die Liebe zu unseren Traditionen, unseren Trachten, unseren Kulturgütern. Es ist auch die Erfahrung der Gemeinschaft, die trägt und stützt, ermutigt und anspornt.

Diese Rede sollte, so war es ursprünglich geplant, geleitet von einem Fackelzug und festlicher Musik, am Mahnmal gehalten werden. Die Atmosphäre wäre eine andere gewesen.

Es ist uns ein Bedürfnis, alljährlich diese Gedenkrede zu halten. Wir stehen im Geiste am Mahnmal für die Opfer des Krieges, der Gefangenschaft und der Nachkriegsjahre; für die Opfer von Verfolgung, Vertreibung und Gewaltherrschaft. Es gilt nicht nur, immer wieder aufs Neue das Leid zu benennen und die Ereignisse zu vergegenwärtigen, sondern es gilt auch für jede Generation, Antworten zu suchen, die weiter helfen. Die Begabungen, die wir mitbringen, die Erfahrungen aus einer ganz anders gearteten Gesellschaftsordnung, aber auch die Lebenseinstellung, als Wanderer zwischen den Welten – sie sind meines Erachtens wertvolle Gaben, für die wir dankbar sein dürfen und die wir in aller Bescheidenheit einbringen können – an dem Ort, wo wir heute in der Gesellschaft stehen.

Von Dank und Verpflichtung redet das Motto des diesjährigen Heimattages. Ein Gedanke dazu: Die Erklärung der Bekenntnissynode von Barmen (1934) redet im 2. Artikel davon, dass Gottes Zuspruch der Vergebung in Jesus Christus uns befreit aus den gottlosen Bindungen. Aber genau dieser beglückende Zuspruch ist auch zugleich ein kräftiger Anspruch an unser ganzes Leben. Mit einem Bibelwort darf ich es noch einmal anders sagen: (Lk. 12, 48) „Wem viel gegeben ist, bei dem wird man viel suchen; und wem viel anvertraut ist, von dem wird man umso mehr fordern.“

Dank, dass wir in einer Zeit leben dürfen, die ihresgleichen in der Geschichte sucht – über 60 Jahre Frieden in Europa; und in einem demokratischen Land, das jedem Bürger Freiheit garantiert. Dank auch, dass wir hier zu Hause sind. Darum ist es uns ein Herzensanliegen, jede und jeder mit diesen besonderen Begabungen dazu beizutragen, dass Zusammenleben gelingt. Toleranz und gute Nachbarschaft ist uns wichtig, denn Frieden zwischen den Ländern kann nur echt sein, wenn er vor Ort, im Zwischenmenschlichen funktioniert. Wir wollen mit feinem Gehör die Äußerungen von Intoleranz und Fremdenfeindlichkeit entdecken, genauso wie alle übertriebenen Machtansprüche – und wir wollen nicht schweigen dazu. Wir wollen zur Wahrheit stehen. Wir wollen nicht nur dafür beten, sondern auch dafür einstehen, dass solche Opfer, wie die, derer wir heute gedenken, für immer der Geschichte angehören. Das schenke uns Gottes friedensstiftender Geist. Danke!


Pfarrer i.R. Hans-Martin Trinnes bat – buchstäblich zum Ausklang der Veranstaltung –, noch gemeinsam den Kanon „Dona nobis pacem“ erst ein-, dann dreistimmig zu singen.

Schlagwörter: Heimattag 2013, Rede, Dinkelsbühl, Gedenkstätte

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