11. September 2013

Hans Bergel: politisch wacher Zeitgenosse und stupender Kenner europäischer Kunst und Literatur

Hans Bergel, Das Spiel und das Chaos. Essays und Vorträge. Berlin, Edition Noack & Block in der Frank Timme GmbH, 2013. 195 Seiten, 18,00 Euro. Mit dieser Sammlung zu unterschiedlichen Zeiten verfasster Essays bzw. gehaltener Vorträge gewährt Hans Bergel seinen Lesern Einblick in den breit gefächerten geistigen und ästhetischen Kosmos seines literarischen Schaffens. Glänzend und präzise formuliert, zeigen die Essays und Vorträge dieses Bandes, wie auch in Zeiten der Globalisierung nationale und regionale Identität mit europäische Alterität gelebt, Kunst, Moral und Bürgersinn miteinander verbunden werden können.
Am Anfang steht für Bergel die Frage: Was soll, was kann Kunst bewirken? In dem Essay „Spiel und die Aggression des Chaos“, dessen Titel – leicht abgewandelt – auch den Titel des Gesamtbandes bildet, definiert der Autor das Spiel als die reifste Form der Auseinandersetzung des Menschen mit dem Chaos in seinem Inneren und in der Welt. Das Spiel ist eine existentielle Notwendigkeit des Menschen, doch erst die künstlerische Gestaltung der Welt kann zur „Erlösung des Chaos“ durch den „genius ludens“ führen. Der Musik als der unmittelbarsten Form der Kunst widmet Bergel einen der schönsten und tiefgründigsten Texte dieses Bandes. Sie vermittelt ein Bild von den Dingen vor und jenseits der Vernunft sowie eine Ahnung vom Beginn und Ende der Schöpfung.

Der Gedanke der Kunst als Mittel zur Erziehung des Einzelnen zum Wahren, Guten und Schönen sowie der Humanisierung der menschlichen Gesellschaft liegt auch dem Essay über Friedrich Schillers Theorie der Kultur zugrunde. Auch und gerade in der Gegenwart, so Bergel, sei es wichtig, die Bedeutung von Kultur und Kunst in der Auseinandersetzung mit dem raumgreifenden Materialismus, der Verführung durch Ideologien, der zunehmenden Preisgabe des europäischen Kulturerbes und den Sprachverfall hervorzuheben.

Neue Fragen stellt der Essay „Goethe und Kleist – Erscheinungen deutschen Selbstbegreifens“. Anhand des historisch belegten Versuchs des jungen Heinrich von Kleist, sich dem älteren, etablierten Dichterfürsten Johann Wolfgang von Goethe „auf den Knien seines Herzens“ anzunähern, der bei Goethe eine ungewöhnlich schroffe Reaktion auslöste, stellt Bergel dem „abstrakten Humanismus der Klassik“, der bereits in Versteinerung umschlägt, die ungebändigte, „moderne“ Wahrheitssuche Kleists entgegen. Dass sich der siebenbürgische Autor mit dem „Kleistschen Weg“ im Leben und in der Kunst identifiziert, wird anhand zahlreicher Verweise auf diesen Dichter im Verlauf des gesamten Bandes immer wieder deutlich.

Die Gegenüberstellung der beiden Dichter als Archetypen deutscher Befindlichkeit verweist auch auf ein weiteres Grundthema Bergels – die unaufgelösten Widersprüche des nationalspezifischen Charakters der Deutschen. In seiner Rezension eines von Heimo Schwilk und Ulrich Schacht 1994 herausgegebenen Bandes zur deutschen Debatte über die Nation geißelt Bergel, hier ganz streitbarer Zeitgenosse, die Unfähigkeit zahlreicher tonangebender deutscher Intellektuellen zur „Normalität“ der Sicht auf die eigene deutsche Nation, die einhergeht mit der Taktlosigkeit, mit der sie den anderen europäischen Nationen ihre eigene Interpretation der Nation aufzudrängen versuchen. Gegen die (besonders) in Deutschland vorherrschende „political correctness“ bei der Weigerung, die Opfer des kommunistischen Systems in gleicher Weise wie die Opfer des Nationalsozialismus zu würdigen, packt der Autor in seiner Rede zum Volkstrauertag in Dinkelsbühl ein weiteres heißes Eisen an. Dadurch, dass die Toten im Osten zur Anonymität verdammt seien, würden sie, so Bergel, zugleich um ihre Würde gebracht.

Der Verweis auf die Notwendigkeit, sich zur eigenen deutschen Identität zu bekennen, geht bei Bergel einher mit einer sehr persönlichen Sicht auf die Kräfte, die ihn als Menschen und Schriftsteller, der in Siebenbürgen und in Rumänien geboren wurde und dort einen Teil seines Lebens verbracht hat, geprägt haben. Es ist eine doppelte Prägung, so wie er sie auch im Nachruf bei der „deutschen Jahrhundertschauspielerin“ Ioana Maria Gorvin wahrnimmt, in deren Schauspielkunst er die perfekte „Synthese aus östlicher Emotionalität und perfektionistischer westlicher Rationalität“ erblickt. Verwiesen sei in diesem Zusammenhang auch auf Bergels Dankesrede anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die Universität Bukarest, worin er die Spezifika des rumänischen Weltsicht und des Kulturverständnisses der Rumänen analysiert. Die Begegnung mit der rumänischen Welt zwischen Okzident und Orient, so der Autor, habe ihn nachhaltig bereichert und seinen Blick für das Europa der „Einheit in der Vielfalt“ geschärft. Wiederholt widmet Bergel sich in diesem Band – wie in den Essays über Ana Blandiana oder Émile Cioran – den Besonderheiten rumänischen Selbstverständnisses und der rumänischen Literatur.

Nicht zuletzt sollte auf die zwei Vorträge verwiesen werden, in denen Hans Bergel seinen Lesern einen Blick hinter die „Kulissen seines Schreibens“ gestattet. Sein Werkstattbericht über die Entstehung seines Romans „Die Wiederkehr der Wölfe“ ist eine exemplarische Darstellung des schriftstellerischen Prozesses mit all seinen inhaltlichen und sprachlichen Herausforderungen im Allgemeinen und dem Schreiben dieses Romans im Besonderen. In einem Vortrag vor Schülern der Sommerakademie der Gedenkstätte für die Opfer des Kommunismus in Sighet, im Nordwesten Rumäniens, erläutert Bergel die Entstehungsgeschichte seiner berühmten Novelle „Fürst und Lautenschläger“, die eng verzahnt ist mit seinem persönlichen Erleben im Kampf gegen die kommunistische Diktatur in Rumänien und der dafür erlittenen Verbannung und Kerkerhaft.

Am Ende der Lektüre steht eine überzeugende, in sich schlüssige Synthese aus ethischen Grundüberzeugungen, humanistischen Idealen und ästhetischen Gestaltungsprinzipien. Dabei ist der Mensch Hans Bergel, der politisch wache Zeitgenosse und stupende Kenner europäischer Kunst und Literatur, von dem Sprachkünstler Hans Bergel nicht zu trennen. Für all jene, die einen tieferen Blick in seine Gedankenwelt und sein literarisches Werk werfen wollen, sind diese Texte unverzichtbar.

Dr. Anneli Ute Gabanyi

Schlagwörter: Bergel, Essays, Rezension

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