24. Juli 2024

Heimatelixier Erinnerung: Die Geburt der virtuellen Hermannstadt aus dem Geiste der erinnerten Sehnsucht

Dagmar Dusil (Hrsg.): „Im Schnee der Erinnerungen. Hermannstadt: dokumentiert · erinnert · recherchiert“. Traian Pop Verlag, Ludwigsburg, 2024, 444 Seiten, 29,90 Euro, ISBN 978-3-86356-407-0; bestellbar in jeder Buchhandlung sowie beim Verlag. Die Buchpräsentation findet am 3. August um 14.00 Uhr in Hermannstadt (Sibiu) im Spiegelsaal des Deutschen Forums unter Mitwirkung der Autoren statt. Rahmenprogramm: Trio Eybler/Nürnberg und Hans Günter Seiwerth.
Hermannstadt (Sibiu) ist eine rumänische Boomtown, eine Stadt mit erheblichen Zuzugsraten aus dem ganzen Land. Die Stadt hat knapp 150.000 Einwohner. Darunter sind nur noch wenige Siebenbürger Sachsen, die aber mit dem Demokratischen Forum der Deutschen tatkräftig an einer rumänienweit mustergültigen Stadtverwaltung mitwirken und dem Land immerhin wie noch nie in ihrer jahrhundertelangen Geschichte ein Staatsoberhaupt „geschenkt“ haben. Die industrielle Entwicklung ist beeindruckend, die Dienstleistungsquote fast auf westlichem Niveau, der Tourismus boomt. Die europäische Kulturhauptstadt von 2007 (zusammen mit Luxemburg) ist seit Jahren ein begehrtes Reiseziel, das von Michelin die höchste Einstufung – drei Sterne – erhalten hat. Es gibt kaum einen strukturellen Unterschied zu ähnlichen Städten im Westen mit langer historischer Tradition und einem regen Wirtschaftsleben.

Aber all das wird von den Autoren auch dieser zweiten Hermannstädter Erinnerungsanthologie weitgehend ausgeblendet. Die Gegenwart der Stadt ist dröhnend abwesend, allein die Vergangenheit zählt. Was hier zwischen zwei Buchdeckeln erzählerisch-beschreibend vereint wurde, ist überwiegend virtuell. Diese Hermannstadt gibt es nicht mehr. Sie ist längst entschwunden und lebt nur noch als Konstrukt in unseren Köpfen. Die Erinnerungssyntax gehorcht der Regel: Je länger zurückliegend, desto intensiver die Seelenverbundenheit. Die Autoren sind im Schnitt um 1949 geboren, also heute durchschnittlich rund 75 Jahre alt. Nach wenigen Jahren werden nur noch ihre Kinder und Enkel von den längst vergangenen Zeiten berichten können … dann wohl meist nicht mehr aus eigener Anschauung.

Vom 2. bis 4. August 2024 findet in Hermannstadt, der „Serenissima“ Siebenbürgens, wie ich sie einmal genannt habe, ein gesellschaftliches Großereignis statt. Hunderte, ja Tausende Siebenbürger Sachsen kehren aus der ganzen Welt zum Großen Sachsentreffen in ihre Heimat, viele von ihnen in ihre Heimatstadt, zurück. Es wird ein Fest der erinnerten Sehnsucht, eine Feier des Heraufbeschwörens des verlorenen Paradises, eine Party heißer Nostalgiewallungen, ein Happening durchritualisierter Heimatverbundenheit. Dazu kommt diese Anthologie wie gerufen.

„Mer wälle bleiwen, wat mer sänjen“, singt Hans Günter Seiwerth, einer der Autoren der Anthologie – ist das heute Schönfärberei oder gar eine Lebenslüge? Sind wir noch tatsächlich das, was wir einst im ausgehenden 20. Jahrhundert waren: nämlich nur Siebenbürger Sachsen und sonst nichts? Steckt dahinter ein wahrhaftes Bestreben oder ist es nur eine pittoresk vorgelebte Seelenstaffage? Den Grad der Authentizität seines Heimatgefühls wird wohl jeder mit sich selbst ausmachen müssen. Mir will aber scheinen, dass die Verbundenheit zu unserer alten Heimat uns vermeintlichen Identitätsflachwurzlern bei näherem Hinsehen ungeahnte Wurzeltiefen erschließt, wie es übrigens auch die vorliegende Anthologie der innigen Reaktivität beweist. Die Spätwirkungen der jahrhundertelangen transsilvanischen Sachsengeschichte lassen sich nicht leugnen. Sie wirken beständig nach. Ob man es will oder nicht, befrachten sie gehörig die gegenwärtige Seelenlage eines tapferen Völkchens und seiner Nachkommen. Die „Finis-Saxoniae“-Stimmung der 2000er Jahre scheint längst überwunden. Aus jeder Zeile der Anthologie scheint es zu tönen: Das waren wir und wir sind davon emotional randvoll gefüllt; heute haben wir uns zwar überall dort, wo wir leben, neu erfunden, aber das steht auf einem neuen Blatt in einer anderen (möglichen) Anthologie.

Das Webmuster dieser jüngsten Hermannstadt-Anthologie wird auch diesmal von prägnant reißstarken Kettfäden zusammengehalten: wissenschaftlichen, literarischen, philosophischen und betont autobio­graphisch-erzählerischen. Die niedrig-enge Horizontlinie der Hermannstädter Sachsen transzendieren zwei Beiträge deutlich: der eine von einem rumänischen Autor und Diplomaten geschrieben, der andere von einem deutschen Schriftsteller Siebenbürgens, der seiner Heimat treu geblieben ist. Emil Hurezeanu befreit Hermannstadt aus den nur siebenbürgisch-sächsischen Erinnerungsfesseln. Seine städtephilosophischen Überlegungen umreißen das Bild einer Ortschaft, die fraglos in die genuine Matrix europäischer Stadtlandschaften passt und die keinen Vergleich zu scheuen braucht. Auch für ihn ist Hermannstadt Heimat, aber eine Heimat mit deutlichen rumänischen Akzenten innerhalb einer einst fruchtbaren Multikulturalität. Joachim Wittstock schreibt nicht einfach lose dahin wie im Zeitalter der Beliebigkeit üblich, sondern er raunt von geologischen Jahrhunderttausenden, er beschwört die städtebauliche Expansion in Jahrhundertdimensionen, er verdichtet lyrische „Bilder (…) aus dem Dasein und Nichtsein der Stadt“. Die real-irrealen gespenstischen Mühlen im Jungen Wald führen, ja zwingen ihn schließlich zur seherischen „Ahnung“ dessen, „was dereinst (…) mit der Stadt jenseits des Stadtwalds, mit den Menschen jenseits der Menschen“ geschehen wird. Eine Mutmaßung der schmerzhaften Hoffnungslosigkeit, die er nicht näher ausführt, sondern dem Leser schultert. Wittstock ist ein begnadeter Geschichtsflüsterer.

In den drei Teilen der Anthologie, nämlich „Hermannstadt: dokumentiert, erinnert und recherchiert“, glänzen weitere lesenswerte Beiträge.

Volker Wollmann zeichnet ein sehr kenntnisreiches Bild der gewerblich-industriellen Hermannstadt im ausgehenden 19. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und beschreibt einen Prozess, der in den 1940er Jahren ein erschreckendes Ende fand. Paul Niedermaier und Ioan-Cosmin Ignat würdigen das einzigartige Astra-Freilichtmuseum im Jungen Wald. Sigrid Haldenwang beschreibt die Eigenheiten des Hermannstädter sächsischen Dialekts. Thomas Ziegler bietet einen detailreichen Abriss der vorbildlichen medizinischen Versorgung entlang der Jahrhunderte. Jürgen Schlezack entreißt die „Wasserstadt“ Hermannstadt dem Vergessen und Marianne Hügel macht deutlich, dass auch Hermannstadt ohne seinen kommunalen Friedhof nicht denkbar wäre – wie etwa Paris ohne den Père Lachaise oder Berlin ohne den Dorotheenstädtischer Friedhof.

Ansonsten besteht die Anthologie überwiegend aus mal elegisch-melancholischer, mal heiter-humorvoller Erinnerungstopographie – für Hermannstadtkenner und -liebhaber allesamt informativ und lesenswert. Die Beiträge decken ein breites Spektrum ab, das von kurzen haus- und straßenbezogenen Erinnerungsclustern bis zur beeindruckenden monographischen Gesamtschau der Arzstraße (str. Bucegi) reicht, die mit erheblicher Detailtiefe in ihrer vollen Länge im Beitrag von Konrad Klein „Unter den Linden oder Die Schöne vom Rosenfeldgrund“ evoziert wird und als das Paradigma einer Straße der besseren Wohngegenden Hermannstadts gelten kann.

Die Herausgabe der Anthologie wurde von der äußerst rührigen Heimatgemeinschaft der Deutschen aus Hermannstadt e. V. Heilbronn gefördert. Es ist der HDH mit ihrer Vorsitzenden Dagmar Dusil, die auch als erfahrene Herausgeberin fungiert, im Zusammenspiel mit dem Pop-Verlag erneut gelungen, eine überzeugende Anthologie im Kampf gegen das Vergessen zu organisieren und zu veröffentlichen.

Walter Fromm

Schlagwörter: Rezension, Neuerscheinung, Hermannstadt

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