9. April 2016

Fachtagung in Berlin über den "Luthereffekt" im östlichen Europa

Lesen Sie im Folgenden Momentaufnahmen von der internationalen Fachtagung „Der Luthereffekt im östlichen Europa. Geschichte, Kultur, Erinnerung“ vom 8. bis 10 März in Berlin, veranstaltet vom Deutschen Historischen Museum und Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa (Oldenburg) in Kooperation mit der Universität Wrocław (Breslau), der Universität Stuttgart und der Technischen Universität Berlin.
Martin Luthers reformatorischer Geist schlug im östlichen Europa wie ein Blitz ein. Dem „Luthereffekt“ in Polen, Böhmen oder Ungarn vom 16. Jahrhundert bis heute nachzugehen, ist demnach ersprießlich. Im Themenjahr 2016 des Reformationsjubiläums „Reformation und die eine Welt“ richteten prominente Wissenschaftler und Experten das Augenmerk auf Folgen und Auswirkungen der lutherischen Lehre im östlichen Europa. Dabei stand nicht nur der große historische Rahmen zur Disposition, auch die kleinteilige Erinnerungsarbeit und die künstlerischen wie architektonischen Ausformungen des Protestantismus, einer religiösen und politischen Strömung, wurden berücksichtigt. Der Konferenz gelang es, überzeugend aufzuzeigen, dass die Reformation weit über ihr Epizentrum Wittenberg hinaus zu spüren war.

Wie wichtig der Blick auf den Osten Europas ist, betonte Prof. Dr. Matthias Weber (Oldenburg) bereits in seinem Grußwort: Noch immer sei hierzulande der „Blick gen Westen“ dominant. Ein Paradebeispiel für die West- bzw. Fernorientierung hierzulande war die Präsentation von Anne-Katrin Ziesak (Berlin), Leiterin des Ausstellungsprojekts „Der Luthereffekt. 500 Jahre Protestantismus in der Welt“, das vom 12. April bis 5. November 2017 im Martin-Gropius-Bau realisiert werden soll. Die geplante Ausstellung wird Schweden, Tansania, Korea, Nordamerika fokussieren. Die Veranstalter wollen den „Luthereffekt“ in der Welt aufspüren, ohne auf Martin Luther zu rekurrieren, den politisch in vielerlei Hinsicht unkorrekten Reformator, der mit seiner Sprachgewalt so manch ein Dogma hinwegfegte.

Dass der Luthereffekt im Rahmen der Berliner Tagung nicht marketingtechnisch eingesetzt wurde, ist mit großem Dank zu quittieren. Die Tagung rückte weder die ambivalente Persönlichkeit Luthers noch den schwer zugänglichen Osten in die Ferne, sondern stellte sich der Herausforderung – und zwar gleich mit dem Eröffnungsvortrag von Prof. Dr. Winfried Eberhard (Leipzig), der die Rezeption der lutherischen Reformation in Ostmitteleuropa „holzschnittartig“ präsentierte. Eberhard zeigte, wie viele Faktoren zusammenspielen mussten, um die reformatorische Lawine in den Königreichen Polen, Ungarn, Böhmen loszutreten.

Dass der Osten keine diffuse oder schwer zu fassende Region ist, zeigte Prof. Dr. Matthias Weber in seinem Vortrag „Koexistenz und Religionsfrieden in Ostmitteleuropa“. Er hob hervor, dass es Alternativen zum Augsburger Religionsfrieden 1555 gab. Im Vergleich zum Kuttenberger Religionsfrieden in Prag 1485, dem Religionsedikt von Thorenburg 1568, der Warschauer Konföderation 1573 sowie dem Böhmischen Majestätsbrief von Kaiser Rudolph II. 1609 schneidet der Augsburger Religionsfriede sogar schlechter ab: Er berücksichtigte lediglich zwei Konfessionen, während die ostmitteleuropäischen Beschlüsse bis zu fünf Konfessionen betrafen. Zudem hielt er mit dem Prinzip „cuius regio, eius religio“ („wessen Gebiet, dessen Religion“) den Druck auf die Untertanen aufrecht, während im Großteil der östlichen Regionen die Untertanen ihre Konfession frei wählen durften. Mittels des „ius reformandi“ war das im Reich nur den Landesherren erlaubt. Selbst wenn sich der Augsburger Religionsfriede weniger liberal erweist als seine östlichen Pendants, eines hat er mit Letzteren gemein: Er war eine Strategie, um der Gewaltanwendung durch eine einzige Konfession vorzubeugen. Langfristig ist die friedliche Koexistenz nur in einigen Teilen des östlichen Europas gelungen.

Dass der Luthereffekt schwerlich ohne „Luther“ auskommt, zeigte der Vortrag von Dr. Edit Szegedi (Klausenburg) – an Luther arbeiteten sich auch die siebenbürgischen Antitrinitarier im 16. und 17. Jahrhundert ab. Luther war in Klausenburg, der Hochburg der Antitrinitarier (später: Unitarier), für Persönlichkeiten wie den Bischof Dávid Ferenc „die Bezugsgröße“. Bedauert wurde der Reformator dennoch: Er sei lediglich im „Vorzimmer des Gelobten Landes“ hängen geblieben.

Dass sich das Paradies für Martin Luther nicht auftut, davon sind auch jene überzeugt, die sich vehement „wider Luthers Satanismus“ wenden und Luthers Kurs nicht nur korrigieren, sondern rückgängig machen wollen. Allen voran Stanislaus Hosius, den Dr. Kolja Lichy (Gießen) und Dr. Maciej Ptaszyński (Warschau) in ihren Vorträgen behandelten. Der katholische Theologe bezichtigte in seiner Schrift „Opus elegantissimum varias teomporis nostri temporis sectas & Haereses ab origine recenses“ (Paris 1560) Luther, er habe Zwietracht in die Welt der Gläubigen gebracht. Dass Luther des Satans sei, verbreiteten auch viele weitere Autoren wie Jakub Wujek, Tomáš Bavarovsky, Johann Hasenberg.

Luther wurde in ganz Ostmitteleuropa zur „Chiffre der Häresie“. So verurteilte Pawel Piasecki die „deutsche Häresie“ in der „Chronica gestorum“ (Krakau 1645) und befördert damit die katholisch-xenophobe Publizistik, so Prof. Dr. Hans-Jürgen Bömelburg (Gießen). In seinem Vortrag geht er der brisanten Frage nach, inwieweit das Luthertum an die deutsche Sprache gebunden war und zum Zustandekommen der deutschen Minderheit im östlichen Europa beigetragen hat. Anhand des Thorner Tumults („Thorner Blutgerichts“) von 1724 lässt sich diese konfessionsnationale Perspektive exemplarisch aufdecken: Vor der lutherischen Elite hatte man in Polen wegen der Zuspitzung der nationalen Konflikte und dem Erstarken Preußens Angst, deshalb sah man sich „gezwungen“, ihr ein gewaltsames Ende zu bereiten.

Obwohl die Gegenreformation auf Erfolgskurs war, fand man Wege, um Luthers Schriften zu verbreiten. Einen entscheidenden Beitrag leistete die Hanse, die Dr. Anja Rasche (Speyer/Lübeck) behandelte. In vielen Hansestädten wurden Luthers Schriften und Gesangbücher gedruckt und als „Schmuggelware“ nach Ostmitteleuropa gebracht. Der politische Einfluss und die Mobilität von Kaufleuten waren ausschlaggebend, aber auch ihr Einfallsreichtum: Umschlagseiten wurden so gestaltet, dass sie den „ketzerischen“ Inhalt nicht verrieten, so Prof. Dr. Joachim Bahlcke (Stuttgart). Der „Bücherschmuggel“ wurde über die verschiedensten Handelswege vor allem ab Mitte des 17. bis ins 18. Jahrhundert hinein betrieben. Die „Bücher-Inquisitionen“, bei denen ketzerische Bücher konfisziert und öffentlichkeitswirksam verbrannt wurden, ließ Ende des 18. Jahrhunderts nach: Politische Schriften wurden durch die Einführung der weltlichen Zensur in der Habsburger Monarchie interessanter.

Trotz der „Hinrichtungen von Büchern“ und strengen Verfolgungen lutherischer Sympathisanten in Polen lohnt es sich – Dr. Anna Mańko-Matysiak (Breslau/Wrocław) und Małgorzata Balcer (Thorn/Toruń) zufolge – einen Blick auf die polnische Erinnerungskultur zu werfen und das „Lutherbild in Polen“ bis in die Gegenwart zu rekonstruieren. Der lutherische Gedanke, der Glaube sei ein Geschenk zur Befreiung des Einzelnen, führte von der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bis heute zu einer Aufwertung des Luthertums. So finden wir in Bielsko-Biała/Bieleitz-Biala auf dem Luther-Platz ein Luther-Denkmal; in der Friedenskirche in Schweidnitz/Swidnica gaben sich anlässlich eines ökumenischen Gottesdienstes Angela Merkel und Eva Kopacz die Hand – bezeichnenderweise unter einem Luther-Gemälde mit der Inschrift „Ein feste Burg ist unser Gott“. Und die Friedenskirche in Jawor/Jauer entwickelt sich neuerdings zu einem lebendigen deutsch-polnischen Erinnerungsort. In Polen scheint Martin Luther mehr als ein Marketingtrick zu sein. Der Blick gen Osten ist manchmal doch recht ergiebig, wenn es um deutsche Identitätsfindung geht.

Ingeborg Szöllösi

Schlagwörter: Luther, Tagung

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