2. Februar 2018
Siebenbürger Sachsen – eine Minderheit
Beginnen wir mit der Frage, ob die Gruppe der Siebenbürger Sachsen dem Modell bzw. Konzept einer Minderheit entspricht oder entsprochen hat. Vermutlich ist die Vergangenheitsform die passendere. Als die Siebenbürger Sachsen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mehrheitlich in ihr Ursprungsland zurückkehrten, waren sie in Siebenbürgen zweifellos eine Minderheit, denn es gab innerhalb der dortigen Bevölkerung eine eindeutige Mehrheit, die Rumänen. Aber bewahrten sie die Charakteristika einer Minderheit nicht in gewissem Sinne auch im ursprünglichen Herkunftsland, in der neuen Heimat? Und wenn ja, war das positiv, weil sie Werte verkörperten, die von der größeren Gemeinschaft erkannt und anerkannt werden konnten?
Diese Mehrheit- Minderheit-Relation bildete sich historisch in Siebenbürgen erst über die Jahrhunderte heraus. Denn als die ersten Siedler aus Mitteleuropa nach Siebenbürger kamen, sollten sie nach Vorstellung des ungarischen Königs Geisa (Géza) II. ein nur äußerst dünn besiedeltes Gebiet zu ihrer neuen Heimat machen, in Teilen sumpfiges Gelände entwässern und jenen Landstrich gegen Einfälle der Mongolen verteidigen, die gerade diesen Königsboden bis nach Ungarn hinein überrannt und verwüstet hatten.
Das bedeutet, dass die deutschen Siedler anfangs wohl nicht Minderheit genannt werden können.
Was die reine Bevölkerungszahl angeht, darf man bei einer historischen Betrachtung das allgemeine Bevölkerungswachstum in diesen acht Jahrhunderten nicht unberücksichtigt lassen. Zum Zeitpunkt der ersten Siedler im Karpatenbogen (um die Mitte des 12. Jahrhunderts) betrug die Bevölkerung des ganzen Planeten rund 400 Millionen Menschen, Ende des 20. Jahrhunderts aber hatte sie sich um das über 16-fache auf knapp sieben Milliarden vergrößert. Als erste deutsche Siedler, die wohl aus den linksrheinischen Gebieten Lothringen bis Luxemburg kamen, gilt eine Gruppe von etwa 520 Familien, die man auf ca. 2.600 Personen schätzte. Später gab es weitere „Wellen“ von Siedlern, aber die deutschsprachige Bevölkerung Siebenbürgens stieg – z.B. im Verhältnis zur rumänischen Bevölkerung – über die Jahrhunderte doch nur moderat an, weil diese Volksgruppe dem eigenen Boden anhaftete und einer Zersplitterung desselben durch mehrere Kinder vorbeugen wollte. Das spricht für aktive Familienplanung. (Wesentlich soll dazu der sogenannte sächsische Griff beim Koitus beigetragen haben.) Als sich 800 Jahre später, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die älteste deutsche Diaspora auflöste, waren es rund eine Viertel Million Nachfahren, die in den Westen zurückkehrten.
Die Siebenbürger Sachsen, die immer eine sprachlich, religiös und historisch kulturell definierte Ethnie waren, die über den Großteil ihrer 800-jährigen Geschichte in einem Umfeld lebte, das keine ihrer Charakteristika mit ihnen teilte, bildeten damit eine identifizierbare Gruppe, waren aber nicht die einzige Minderheit. Schon bei ihrer Einwanderung im Karpatenbogen stießen sie auf ungarische Siedler, die dort die früher eingetroffenen Szekler missionierten und zahlenmäßig eine größere Volksgruppe darstellten. Rund 200 Jahre später kam die Ethnie der Zigeuner hinzu. Selbst die Ansiedlung der späteren Mehrheit, der Rumänen, erfolgte in Siebenbürgen erst allmählich; ihr Hauptsiedlungsgebiet lag südlich und östlich des Karpatenbogens. Rund 400 Jahre nach der Einwanderung der ersten deutschen Siedler verwalteten sich die Siebenbürger praktisch selbst, allerdings nur die dort siedelnden Ungarn, Siebenbürger Sachsen und Szekler. Denn Rumänen und Zigeuner waren von der siebenbürgischen Selbstbestimmung ausgeschlossen. Auch das macht es schwer, in jener Zeit in den Siebenbürger Sachsen eine Minderheit zu sehen.
Dabei gilt zu berücksichtigen, dass die Siebenbürger Sachsen auch keine durchwegs eigenständige, dort entstandene, nur auf sich selbst bezogene Ethnie waren (wie dies z.B. bei den Minderheiten indigener Völker Amerikas und Afrikas der Fall war und ist), denn ihr Ursprung verweist auf Mitteleuropa: sprachlich, religiös und historisch kulturell – und diese Beziehung zum Herkunftsland hat die Volksgruppe über die Jahrhunderte aufrecht erhalten. Es war eine Ethnie in der Diaspora, eine von einer deutschen Mehrheit abgespaltene Bevölkerungsgruppe, die im neuen Umfeld über Jahrhunderte die Rolle einer minoritären ethnischen Gruppe (wenngleich mit Sonderrechten) wahrnahm.
Auch muss klar sein, dass eine Minderheit keine vorbestimmte Identität ist, d.h. einem Muster entsprechen müsste, und damit mit irgend einer anderen Minderheit deckungsgleich wäre. Wie in der Biologie so auch in unbelebter Natur sind Teilentitäten nie deckungsgleich; keine zwei Menschen sind völlig identisch, aber auch keine zwei Berggipfel, keine zwei Flussläufe, keine zwei Planeten oder Sonnensysteme usw. Und dieser Unterschied von Minderheiten untereinander ist sicher nicht nur an der schieren Anzahl der Menschen festzumachen. Wenn wir hier vorschlagen, die klar definierbare Volksgruppe der Siebenbürger Sachsen als Minderheit zu verstehen, so mit der Absicht, herauszufinden, ob ihr in der Geschichte eine, wenn ja – welche Rolle zukam. Historisch gesehen kann nämlich eine Gemeinschaft in einer Mehrheit-Minderheit-Relation eine oft klar umrissene Rolle, manchmal eine ausschlaggebende spielen. Denken wir nur an die Kolonialmächte, die als Minderheiten immer Mehrheiten dominierten oder andere Minderheiten in die Lage versetzten, dies in ihrem Auftrag zu tun. (Zum Teil mit schrecklichen Folgen, wie z.B. im Tutsi-Hutu-Bürgerkrieg/Völkermord von Ruanda). Oder denken wir an die Eroberer, z.B. die „Conquistadores“, nur ein paar hundert spanische Soldaten, die in Mittel- und Südamerika Millionen von Indianern unterwarfen, ihnen das Christentum aufzwangen, deren eigene Kultur zerstörten und sie außer durch eingeschleppte Krankheitserreger auf Plantagen sowie in Gold- und Silberminen dezimierten. Aber dann auch die Minderheit der maurischen Eroberer Spaniens, die mit Hilfe einer anderen Minderheit (der Juden) die Mehrheit der iberischen Bevölkerung zu einer einmaligen kulturellen Blüte führte. Über die Rolle der Minderheiten in der Geschichte ist wohl noch viel Forschungsarbeit zu leisten.
Was war davon auf die Siebenbürger Sachsen anwendbar? Wenn sie auch nicht als Eroberer kamen, auch später politisch keine Machtansprüche entwickelten, sondern sich immer der jeweiligen Landesherrschaft unterwarfen (bis 1526 dem Königreich Ungarn, ab 1689 dem Habsburgischen Kaiserreich, ab 1867 Österreich-Ungarn, ab 1918 dem Königreich Rumänien, nach 1945/47 dem kommunistischen Rumänien und ab 1989 der Republik Rumänien), konnte auch in ihren Reihen ein zentrales Anliegen aller deklarierten Minderheiten wahrgenommen werden: das ausgeprägte Bewusstsein einer eigenen Gruppenidentität. Das kann sprachlich, konfessionell und/oder durch andere kulturelle Indikatoren (Sitten, Bräuche, Mentalität und eine gemeinsame Geschichte) erreicht werden. Ihre politischen Ansprüche gingen über die Sicherstellung der Autonomie ihres Gemeinwesens (am wirkungsvollsten in der Form der „Sächsischen Nationsuniversität“, der eigenen Verwaltung und Rechtsprechung in der Zeit vom 15. bis 19. Jahrhundert) nie hinaus.
In Toledos maurischem Spanien kleideten sich die Juden wie die Araber und sprachen Hocharabisch (sie waren schließlich die großartigen Übersetzer des antiken Wissens), hielten aber durch gemeinsame Sitten und Bräuche, ihre Religion und ein kulturell ausgeprägtes Gruppenbewusstsein in ihrem jüdischen Wohnviertel und damit ihr Selbstverständnis als Minderheit problemlos aufrecht. Die Siebenbürger Sachsen sprachen Deutsch und zahlreiche in Siebenbürgen entstandene Dialekte des Deutschen, die dem Herzen der Menschen sicher näher standen, und was zudem ihrem Selbstverständnis der Ortsgebundenheit förderlich war, somit ihre Identität einer eigenständigen deutschen Sprachgemeinschaft als Abgrenzung zum Ursprungsland festigen half. Auch hier spielte eine Ansiedlung in Clustern, in von ihnen gegründeten deutschen Städten und Dörfern, eine weitere identitätsstiftende Rolle (wie wir dies z.B. besonders bei den kleinen Minderheiten der Amish oder den Mennoniten bis heute kennen). Und doch nahm man auch jede weitere Gelegenheit wahr, dem abgrenzenden Bestreben ihres Gruppenbewusstseins mit neuen Alleinstellungsmerkmalen Vorschub zu leisten. Da bot sich im 16. Jahrhundert die Möglichkeit, geschlossen zum Protestantismus überzutreten. (Mit der Evangelisch-Lutherischen Kirche Augsburger Bekenntnisses entstand so eine weitere bindende Kraft dieser Minderheit). Sprache und Religion sind m.E. die wichtigsten „Marker“ einer kulturellen Gruppenidentität.
Wie sensibel diese Marker sind, möchte ich am Beispiel Sri Lankas zeigen. Dort lebten über Jahrhunderte neben der Mehrheit der Singhalesen die Minderheiten der Tamilen und der sehr kleinen Minderheiten der Malaien und Burgers in Frieden miteinander. Als jedoch um die Mitte des letzten Jahrhunderts der Präsident der in die Freiheit entlassenen Kolonie die nationalistische Karte spielte und die singhalesische Mehrheit ausschließlich an den Buddhismus band, dabei die tamilische Sprache aus den Schulen verbannte, empfand vor allem die tamilische Minderheit, deren Konfession ohnehin nicht buddhistisch, sondern hinduistisch oder christlich war (und ist), diese Entscheidung als existentielle Bedrohung ihrer Identität als Minderheit. Die Situation führte zu Protestbewegungen und schließlich zur Gründung der „Tamil Tigers“ und zu einem dreißigjährigen blutigen Bürgerkrieg. (Ähnlich die Gründung der radikal-nationalistischen „ETA“ im spanischen Baskenland 1959 und ihre seit 1961 verübten Sabotageakte mit dem Ziel der Loslösung und der Unabhängigkeit des Baskenlandes. Auch hier hatte „die Mehrheit“, in diesem Fall der herrschende Diktator Franco, die Sprache der Basken aus den Schulen und dem öffentlichen Leben verbannt).
Das blieb den Siebenbürger Sachsen erspart. Sie hatten das Recht, ihre Sprache zu sprechen (seit dem 14. Jahrhundert sind eigene Volksschulen nachgewiesen), ihre Bräuche zu pflegen (wodurch unter ihnen verständlicherweise eine konservative, bewahrende Grundhaltung verbreitet war); ihre Kirche einte sie und gab ihnen Halt. Sie hatten ihre Schulen und ihre Gesetzgebung.
Allein der Erwerb einer Fremdsprache erweitert den Horizont und das Wissen. Das leistet jeder Sprachkurs. Aber erst das Leben im fremden Kulturraum potenziert dieses Wissen zu einer gelebten interkulturellen Kompetenz (die weltweit von Großfirmen gesucht und umworben wird). Denn jede sprachliche Abgrenzung gegenüber anderen Volksgruppen muss gleichzeitig gepaart sein mit Möglichkeiten und der Bereitschaft zur Interaktion. Das kann kein Kurs leisten! Dasselbe betrifft die Religion. Je mehr Kenntnisse dieser „anderen“ Sprache und Religion sich der Einzelne durch eigenes Erleben erworben hat, desto mehr kann er „Fremdes“ zum „Eigenen“ werden lassen, geistige und emotionale Beweglichkeit entwickeln und dabei das erreichen, was heute die Welt als erstrebenswerte Ziele immer und überall formuliert: Abbau von Arroganz und Ignoranz, stattdessen Toleranz, Respekt, gegenseitiges Verständnis, Flexibilität und Empathie.
Eine Minderheit lebt eben nicht im luftleeren Raum. In welchem Maße und in welcher Form konnte sich die deutsche Minderheit im sozialen, ökonomischen und kulturellen Netzwerk ihres Siedlungsgebietes artikulieren? Ein schwieriges Feld, denn Form, Inhalt und richtiges Maß bestimmen weltweit über historischen Erfolg oder Misserfolg. Und diese Ausgangslage unterscheidet sie dabei wesentlich von der deutschen Bevölkerung, von der sie sich einst abgespalten hatte.
Deutsche Bauern, Handwerker und auch kleiner Adel fanden in Siebenbürgen eine neue Heimat. Die Verteidigung dieses östlichen Teils des ungarischen Königsreiches gegen Einfälle aus dem Osten (Mongolen, Tataren und später Osmanen) wollte der ungarische König durch Steinbauten sicherstellen. In der Hochzeit des Mittelalters zogen die neuen Siedler in den sieben „Stühlen“ um den Hauptstuhl Herrmannstadt herum und in umliegenden Dörfern demzufolge imposante Steinbauten hoch, darunter die zahlreichen Wehrburgen, die auch heute noch als ein Hauptmerkmal des (materiellen) kulturellen Erbes der Siebenbürger Sachsen gelten dürfen und von denen etliche auf der UNESCO- Liste des Weltkulturerbes zu finden sind. Diese urwüchsigen und robusten Baudenkmäler Siebenbürgens mit zum Teil meterdicken Mauern wären allein schon ein Beleg für eine bedeutende historische Rolle ihrer Erbauer, auch wenn sie dabei keine Pionierarbeit leisteten. (Denn der Bau der Großen chinesischen Mauer begann schon im 7. Jahrhundert v. Chr., Festungen und Steinburgen gab es seit der Antike; im Mittelalter wurden europaweit verstärkt viele Stadt- und Fliehburgen, Kirchenburgen und Wehrkirchen errichtet, bis sie im 17. Jahrhundert durch die Technik der Feuerwaffen schließlich obsolet wurden).
Der wirtschaftliche Erfolg der deutschen Minderheit in Siebenbürgen (beruhend neben Fleiß auf Sonderrechten und dem kontinuierlichen Austausch mit dem Herkunftsland), brachte nicht nur der ungarischen Krone hohe Steuereinnahmen, es stärkte nicht zuletzt auch das Identitätsbewusstsein dieser Ethnie. Mit sogenannten Nachbarschaften schaffte sich die Volksgruppe ihre eigene soziale Absicherung. Eine strenge Einhaltung von Sitten und Normen, darunter auch die Ablehnung, wenn nicht gar Ächtung der Einheirat ethnisch Fremder, sicherten über die Jahrhunderte den Zusammenhalt dieser relativ homogenen Minderheit.
In der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts, als die Besiedlung Siebenbürgens durch deutsche Einwanderer begann, war dies „Peripherie“, denn es dominierte, wie von Anbeginn der Geschichte, immer noch der Kulturraum zwischen der Ostküste des Mittelmeers und dem Himalaya als Zentrum, als hegemonialer „Ompahlos“ der Welt, der in alle Richtungen ausstrahlte. Wollte man dieses Netzwerk an Austausch, Information, Inspiration und Handel mit einem Nervensystem vergleichen, könnte man als seine wichtigsten „Adern“ die Seidenstraßen bezeichnen. Hier erreichte die Kultur der Menschheit in ihren ersten Jahrtausenden immer neue Höhen. Von diesem „Nabel“ der Welt gelangten mit den Mauren im Jahr 711 die fortschrittlichsten Ideen auf dem Weg über Nordafrika und Gibraltar zwar recht früh auch nach Europa, allerdings nur auf die iberische Halbinsel, wo sich im Zusammenwirken von islamischer, christlicher und jüdischer Tradition in den folgenden Jahrhunderten eine Hochkultur entwickelte, die auf dem restlichen Kontinent ihresgleichen suchte. Erst langsam wurde dieses Wissen, wurden Teile dieser Errungenschaften auch nach Mittel- später auch nach Osteuropa weitergegeben, wenn auch noch nicht zur Zeit der Besiedlung Siebenbürgens durch deutsche Einwanderer. Schon Karl der Große hatte Mönche und Gelehrte ins maurische Spanien entsandt, um Wissen und Fortschritt in die klösterlichen und urbanen Zentren Mitteleuropas zu „importieren“.
Und es war wieder ein Austausch zwischen den Kulturen, der Handel mit Ideen und Waren (vor allem mit Gewürzen, Gewebe und Edelsteinen), der im 12. Jahrhundert blühende Hafenstädte im Norden Italiens reich und bedeutend werden ließ. Wenn auch Mitteleuropa weiterhin von dieser Entwicklung größtenteils abgehängt blieb (bis zur historischen Zäsur um das Jahr 1500, Ende des Mittelalters und Beginn der Renaissance), weil der Handel vor allem über das Meer verlief, war doch ein Geist des Aufbruchs zu spüren – Kaufleute, Ideen , Verkehr von Waren und der Wandel als Hoffnungsträger müssen zumindest in geringem Maße wohl auch die Siedler und Handwerker erreicht gehabt haben, die sich auf den Weg nach Siebenbürgen machten. Eine beträchtliche Rolle für den Anstoß zu diesem beispiellosen Aufbruch muss auch die Schwächung der Fürstentürmer und der weltlichen Macht Mitteleuropas insgesamt gespielt haben, die Migration in diesem Ausmaß nicht mehr unterbinden konnte. Im Ringen zwischen Fürsten und Königen einerseits, aber auch untereinander, und dem Papst und der Kirche andererseits neigte sich die Waage zugunsten der Letzteren. Der Kaiser des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation verlor seine Hegemoniestellung an den Papst und an die römisch-katholische Kirche. Das Christentum begann sich endgültig als das gemeinsame kulturelle Fundament herauszubilden, das Europa formen sollte; die weltliche Macht verliert entsprechend ihre Vormachtstellung.
Wenn die Minderheit der Siebenbürger Sachsen (wie die anderen deutschen Minderheiten Rumäniens auch, die hier nicht thematisiert werden) schließlich im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts aufgrund der Erfahrungen vor allem ihrer letzten Generation nahezu geschlossen aufbrach, Siebenbürgen und die Diaspora in Rumänien zu verlassen, richtete sich ihr Blick größtenteils auf Deutschland, in kleinem Maße auch auf andere Orte der westlichen Welt.
Wie vieler und welch einschneidender Erfahrungen bedarf es, den Verlauf, die Kontinuität einer 800-jährigen Geschichte willentlich abzubrechen? Sollte dies ein Ausstieg aus ihrer Gruppenidentität sein, oder konnte man sich aus dem Bewusstsein einer Minderheit in die sprachlich-kulturell umfassendere Mehrheit des ursprünglichen und nun auch erneut einladenden Kulturraums hinüberretten? War man bereit, nur die sogenannt nackte Existenz zu retten? Diese Menschen ließen ja Hof und Dorf und Stadt zurück, blühende Landschaften und alle mehr und weniger sichtbaren Zeugen einer in Jahrhunderten geschaffenen Heimat. Aber große Teile materieller und immaterieller Werte hatte man ihnen in den Jahren des rumänischen Kommunismus ohnehin schon entrissen. Aus einer Minderheit mit gewachsenen Sonderrechten war eine diskriminierte Minderheit geworden, deren Kräfte des Zusammenhalts schwanden. Die deutschsprachige Minderheit erlebte in Rumänien all die Auswüchse, die von Beobachtern des gelebten Sozialismus auf der ganzen Welt bezeugt werden können. Ein Prozess der Auflösung der Gruppenidentität hatte eingesetzt (siehe allein die sprunghafte Zunahme der Eheschließungen außerhalb der eigenen Ethnie sowie die Durchlässigkeit bisheriger Barrieren in sprachlicher und soziokultureller Hinsicht). Man mag das opportunistische Interkulturalität nennen, die sich in Richtung Assimilation entwickeln kann, wie dies bei den wenigen noch in Siebenbürgen lebenden sächsischen Nachfahren erkennbar ist.
Was ist aus der Gruppenidentität der jahrhundertealten Minderheit der Siebenbürger Sachsen geworden? Nur ein Kapitel „tote“ Geschichte (Bauten dort und Museumsstücke hier wie herrliche Meeresmuscheln in der Vitrine)? Mit welchem „kulturellen“ Gepäck kehrten die Erben der ursprünglichen Siedler nun erneut als „Aussiedler“ in eine alte Heimat zurück (die natürlich auch nicht mehr jene war, aus der die Vorfahren einst den Aufbruch in ein besseres Leben wagten)? Wenn diese Generation keine Antwort auf diese Frage (sucht oder) findet, ist die Frage selbst mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in der nächsten Generation ohnehin obsolet. Selbst wenn die identitätsstiftenden sächsischen Dialekte auf Tonträger aufgezeichnet werden, wer soll sie in der Zukunft noch verstehen? Trachten und Tänze können eine Folklore-Nische finden. Doch die zentrale Frage bleibt:
Was bringen diese deutschen Aussiedler an anderen, bereichernden Kenntnissen, Fähigkeiten und Verhaltensmustern mit, als sie in der Mehrheit der Menschen im alt-neuen Mutterland schon vorhanden sind? Das wäre der kulturgeschichtlich bezeichnende positive Beitrag der Siebenbürger Sachsen. Ihn zu identifizieren, zu fördern, wäre die sozial-ethische Aufgabe ihrer Eliten bzw. der institutionellen Vertretungen dieser Minderheit in Deutschland.
Das bedeutet, dass die deutschen Siedler anfangs wohl nicht Minderheit genannt werden können.
Was die reine Bevölkerungszahl angeht, darf man bei einer historischen Betrachtung das allgemeine Bevölkerungswachstum in diesen acht Jahrhunderten nicht unberücksichtigt lassen. Zum Zeitpunkt der ersten Siedler im Karpatenbogen (um die Mitte des 12. Jahrhunderts) betrug die Bevölkerung des ganzen Planeten rund 400 Millionen Menschen, Ende des 20. Jahrhunderts aber hatte sie sich um das über 16-fache auf knapp sieben Milliarden vergrößert. Als erste deutsche Siedler, die wohl aus den linksrheinischen Gebieten Lothringen bis Luxemburg kamen, gilt eine Gruppe von etwa 520 Familien, die man auf ca. 2.600 Personen schätzte. Später gab es weitere „Wellen“ von Siedlern, aber die deutschsprachige Bevölkerung Siebenbürgens stieg – z.B. im Verhältnis zur rumänischen Bevölkerung – über die Jahrhunderte doch nur moderat an, weil diese Volksgruppe dem eigenen Boden anhaftete und einer Zersplitterung desselben durch mehrere Kinder vorbeugen wollte. Das spricht für aktive Familienplanung. (Wesentlich soll dazu der sogenannte sächsische Griff beim Koitus beigetragen haben.) Als sich 800 Jahre später, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die älteste deutsche Diaspora auflöste, waren es rund eine Viertel Million Nachfahren, die in den Westen zurückkehrten.
Die Siebenbürger Sachsen, die immer eine sprachlich, religiös und historisch kulturell definierte Ethnie waren, die über den Großteil ihrer 800-jährigen Geschichte in einem Umfeld lebte, das keine ihrer Charakteristika mit ihnen teilte, bildeten damit eine identifizierbare Gruppe, waren aber nicht die einzige Minderheit. Schon bei ihrer Einwanderung im Karpatenbogen stießen sie auf ungarische Siedler, die dort die früher eingetroffenen Szekler missionierten und zahlenmäßig eine größere Volksgruppe darstellten. Rund 200 Jahre später kam die Ethnie der Zigeuner hinzu. Selbst die Ansiedlung der späteren Mehrheit, der Rumänen, erfolgte in Siebenbürgen erst allmählich; ihr Hauptsiedlungsgebiet lag südlich und östlich des Karpatenbogens. Rund 400 Jahre nach der Einwanderung der ersten deutschen Siedler verwalteten sich die Siebenbürger praktisch selbst, allerdings nur die dort siedelnden Ungarn, Siebenbürger Sachsen und Szekler. Denn Rumänen und Zigeuner waren von der siebenbürgischen Selbstbestimmung ausgeschlossen. Auch das macht es schwer, in jener Zeit in den Siebenbürger Sachsen eine Minderheit zu sehen.
Dabei gilt zu berücksichtigen, dass die Siebenbürger Sachsen auch keine durchwegs eigenständige, dort entstandene, nur auf sich selbst bezogene Ethnie waren (wie dies z.B. bei den Minderheiten indigener Völker Amerikas und Afrikas der Fall war und ist), denn ihr Ursprung verweist auf Mitteleuropa: sprachlich, religiös und historisch kulturell – und diese Beziehung zum Herkunftsland hat die Volksgruppe über die Jahrhunderte aufrecht erhalten. Es war eine Ethnie in der Diaspora, eine von einer deutschen Mehrheit abgespaltene Bevölkerungsgruppe, die im neuen Umfeld über Jahrhunderte die Rolle einer minoritären ethnischen Gruppe (wenngleich mit Sonderrechten) wahrnahm.
Auch muss klar sein, dass eine Minderheit keine vorbestimmte Identität ist, d.h. einem Muster entsprechen müsste, und damit mit irgend einer anderen Minderheit deckungsgleich wäre. Wie in der Biologie so auch in unbelebter Natur sind Teilentitäten nie deckungsgleich; keine zwei Menschen sind völlig identisch, aber auch keine zwei Berggipfel, keine zwei Flussläufe, keine zwei Planeten oder Sonnensysteme usw. Und dieser Unterschied von Minderheiten untereinander ist sicher nicht nur an der schieren Anzahl der Menschen festzumachen. Wenn wir hier vorschlagen, die klar definierbare Volksgruppe der Siebenbürger Sachsen als Minderheit zu verstehen, so mit der Absicht, herauszufinden, ob ihr in der Geschichte eine, wenn ja – welche Rolle zukam. Historisch gesehen kann nämlich eine Gemeinschaft in einer Mehrheit-Minderheit-Relation eine oft klar umrissene Rolle, manchmal eine ausschlaggebende spielen. Denken wir nur an die Kolonialmächte, die als Minderheiten immer Mehrheiten dominierten oder andere Minderheiten in die Lage versetzten, dies in ihrem Auftrag zu tun. (Zum Teil mit schrecklichen Folgen, wie z.B. im Tutsi-Hutu-Bürgerkrieg/Völkermord von Ruanda). Oder denken wir an die Eroberer, z.B. die „Conquistadores“, nur ein paar hundert spanische Soldaten, die in Mittel- und Südamerika Millionen von Indianern unterwarfen, ihnen das Christentum aufzwangen, deren eigene Kultur zerstörten und sie außer durch eingeschleppte Krankheitserreger auf Plantagen sowie in Gold- und Silberminen dezimierten. Aber dann auch die Minderheit der maurischen Eroberer Spaniens, die mit Hilfe einer anderen Minderheit (der Juden) die Mehrheit der iberischen Bevölkerung zu einer einmaligen kulturellen Blüte führte. Über die Rolle der Minderheiten in der Geschichte ist wohl noch viel Forschungsarbeit zu leisten.
Was war davon auf die Siebenbürger Sachsen anwendbar? Wenn sie auch nicht als Eroberer kamen, auch später politisch keine Machtansprüche entwickelten, sondern sich immer der jeweiligen Landesherrschaft unterwarfen (bis 1526 dem Königreich Ungarn, ab 1689 dem Habsburgischen Kaiserreich, ab 1867 Österreich-Ungarn, ab 1918 dem Königreich Rumänien, nach 1945/47 dem kommunistischen Rumänien und ab 1989 der Republik Rumänien), konnte auch in ihren Reihen ein zentrales Anliegen aller deklarierten Minderheiten wahrgenommen werden: das ausgeprägte Bewusstsein einer eigenen Gruppenidentität. Das kann sprachlich, konfessionell und/oder durch andere kulturelle Indikatoren (Sitten, Bräuche, Mentalität und eine gemeinsame Geschichte) erreicht werden. Ihre politischen Ansprüche gingen über die Sicherstellung der Autonomie ihres Gemeinwesens (am wirkungsvollsten in der Form der „Sächsischen Nationsuniversität“, der eigenen Verwaltung und Rechtsprechung in der Zeit vom 15. bis 19. Jahrhundert) nie hinaus.
In Toledos maurischem Spanien kleideten sich die Juden wie die Araber und sprachen Hocharabisch (sie waren schließlich die großartigen Übersetzer des antiken Wissens), hielten aber durch gemeinsame Sitten und Bräuche, ihre Religion und ein kulturell ausgeprägtes Gruppenbewusstsein in ihrem jüdischen Wohnviertel und damit ihr Selbstverständnis als Minderheit problemlos aufrecht. Die Siebenbürger Sachsen sprachen Deutsch und zahlreiche in Siebenbürgen entstandene Dialekte des Deutschen, die dem Herzen der Menschen sicher näher standen, und was zudem ihrem Selbstverständnis der Ortsgebundenheit förderlich war, somit ihre Identität einer eigenständigen deutschen Sprachgemeinschaft als Abgrenzung zum Ursprungsland festigen half. Auch hier spielte eine Ansiedlung in Clustern, in von ihnen gegründeten deutschen Städten und Dörfern, eine weitere identitätsstiftende Rolle (wie wir dies z.B. besonders bei den kleinen Minderheiten der Amish oder den Mennoniten bis heute kennen). Und doch nahm man auch jede weitere Gelegenheit wahr, dem abgrenzenden Bestreben ihres Gruppenbewusstseins mit neuen Alleinstellungsmerkmalen Vorschub zu leisten. Da bot sich im 16. Jahrhundert die Möglichkeit, geschlossen zum Protestantismus überzutreten. (Mit der Evangelisch-Lutherischen Kirche Augsburger Bekenntnisses entstand so eine weitere bindende Kraft dieser Minderheit). Sprache und Religion sind m.E. die wichtigsten „Marker“ einer kulturellen Gruppenidentität.
Wie sensibel diese Marker sind, möchte ich am Beispiel Sri Lankas zeigen. Dort lebten über Jahrhunderte neben der Mehrheit der Singhalesen die Minderheiten der Tamilen und der sehr kleinen Minderheiten der Malaien und Burgers in Frieden miteinander. Als jedoch um die Mitte des letzten Jahrhunderts der Präsident der in die Freiheit entlassenen Kolonie die nationalistische Karte spielte und die singhalesische Mehrheit ausschließlich an den Buddhismus band, dabei die tamilische Sprache aus den Schulen verbannte, empfand vor allem die tamilische Minderheit, deren Konfession ohnehin nicht buddhistisch, sondern hinduistisch oder christlich war (und ist), diese Entscheidung als existentielle Bedrohung ihrer Identität als Minderheit. Die Situation führte zu Protestbewegungen und schließlich zur Gründung der „Tamil Tigers“ und zu einem dreißigjährigen blutigen Bürgerkrieg. (Ähnlich die Gründung der radikal-nationalistischen „ETA“ im spanischen Baskenland 1959 und ihre seit 1961 verübten Sabotageakte mit dem Ziel der Loslösung und der Unabhängigkeit des Baskenlandes. Auch hier hatte „die Mehrheit“, in diesem Fall der herrschende Diktator Franco, die Sprache der Basken aus den Schulen und dem öffentlichen Leben verbannt).
Das blieb den Siebenbürger Sachsen erspart. Sie hatten das Recht, ihre Sprache zu sprechen (seit dem 14. Jahrhundert sind eigene Volksschulen nachgewiesen), ihre Bräuche zu pflegen (wodurch unter ihnen verständlicherweise eine konservative, bewahrende Grundhaltung verbreitet war); ihre Kirche einte sie und gab ihnen Halt. Sie hatten ihre Schulen und ihre Gesetzgebung.
Allein der Erwerb einer Fremdsprache erweitert den Horizont und das Wissen. Das leistet jeder Sprachkurs. Aber erst das Leben im fremden Kulturraum potenziert dieses Wissen zu einer gelebten interkulturellen Kompetenz (die weltweit von Großfirmen gesucht und umworben wird). Denn jede sprachliche Abgrenzung gegenüber anderen Volksgruppen muss gleichzeitig gepaart sein mit Möglichkeiten und der Bereitschaft zur Interaktion. Das kann kein Kurs leisten! Dasselbe betrifft die Religion. Je mehr Kenntnisse dieser „anderen“ Sprache und Religion sich der Einzelne durch eigenes Erleben erworben hat, desto mehr kann er „Fremdes“ zum „Eigenen“ werden lassen, geistige und emotionale Beweglichkeit entwickeln und dabei das erreichen, was heute die Welt als erstrebenswerte Ziele immer und überall formuliert: Abbau von Arroganz und Ignoranz, stattdessen Toleranz, Respekt, gegenseitiges Verständnis, Flexibilität und Empathie.
Eine Minderheit lebt eben nicht im luftleeren Raum. In welchem Maße und in welcher Form konnte sich die deutsche Minderheit im sozialen, ökonomischen und kulturellen Netzwerk ihres Siedlungsgebietes artikulieren? Ein schwieriges Feld, denn Form, Inhalt und richtiges Maß bestimmen weltweit über historischen Erfolg oder Misserfolg. Und diese Ausgangslage unterscheidet sie dabei wesentlich von der deutschen Bevölkerung, von der sie sich einst abgespalten hatte.
Deutsche Bauern, Handwerker und auch kleiner Adel fanden in Siebenbürgen eine neue Heimat. Die Verteidigung dieses östlichen Teils des ungarischen Königsreiches gegen Einfälle aus dem Osten (Mongolen, Tataren und später Osmanen) wollte der ungarische König durch Steinbauten sicherstellen. In der Hochzeit des Mittelalters zogen die neuen Siedler in den sieben „Stühlen“ um den Hauptstuhl Herrmannstadt herum und in umliegenden Dörfern demzufolge imposante Steinbauten hoch, darunter die zahlreichen Wehrburgen, die auch heute noch als ein Hauptmerkmal des (materiellen) kulturellen Erbes der Siebenbürger Sachsen gelten dürfen und von denen etliche auf der UNESCO- Liste des Weltkulturerbes zu finden sind. Diese urwüchsigen und robusten Baudenkmäler Siebenbürgens mit zum Teil meterdicken Mauern wären allein schon ein Beleg für eine bedeutende historische Rolle ihrer Erbauer, auch wenn sie dabei keine Pionierarbeit leisteten. (Denn der Bau der Großen chinesischen Mauer begann schon im 7. Jahrhundert v. Chr., Festungen und Steinburgen gab es seit der Antike; im Mittelalter wurden europaweit verstärkt viele Stadt- und Fliehburgen, Kirchenburgen und Wehrkirchen errichtet, bis sie im 17. Jahrhundert durch die Technik der Feuerwaffen schließlich obsolet wurden).
Der wirtschaftliche Erfolg der deutschen Minderheit in Siebenbürgen (beruhend neben Fleiß auf Sonderrechten und dem kontinuierlichen Austausch mit dem Herkunftsland), brachte nicht nur der ungarischen Krone hohe Steuereinnahmen, es stärkte nicht zuletzt auch das Identitätsbewusstsein dieser Ethnie. Mit sogenannten Nachbarschaften schaffte sich die Volksgruppe ihre eigene soziale Absicherung. Eine strenge Einhaltung von Sitten und Normen, darunter auch die Ablehnung, wenn nicht gar Ächtung der Einheirat ethnisch Fremder, sicherten über die Jahrhunderte den Zusammenhalt dieser relativ homogenen Minderheit.
In der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts, als die Besiedlung Siebenbürgens durch deutsche Einwanderer begann, war dies „Peripherie“, denn es dominierte, wie von Anbeginn der Geschichte, immer noch der Kulturraum zwischen der Ostküste des Mittelmeers und dem Himalaya als Zentrum, als hegemonialer „Ompahlos“ der Welt, der in alle Richtungen ausstrahlte. Wollte man dieses Netzwerk an Austausch, Information, Inspiration und Handel mit einem Nervensystem vergleichen, könnte man als seine wichtigsten „Adern“ die Seidenstraßen bezeichnen. Hier erreichte die Kultur der Menschheit in ihren ersten Jahrtausenden immer neue Höhen. Von diesem „Nabel“ der Welt gelangten mit den Mauren im Jahr 711 die fortschrittlichsten Ideen auf dem Weg über Nordafrika und Gibraltar zwar recht früh auch nach Europa, allerdings nur auf die iberische Halbinsel, wo sich im Zusammenwirken von islamischer, christlicher und jüdischer Tradition in den folgenden Jahrhunderten eine Hochkultur entwickelte, die auf dem restlichen Kontinent ihresgleichen suchte. Erst langsam wurde dieses Wissen, wurden Teile dieser Errungenschaften auch nach Mittel- später auch nach Osteuropa weitergegeben, wenn auch noch nicht zur Zeit der Besiedlung Siebenbürgens durch deutsche Einwanderer. Schon Karl der Große hatte Mönche und Gelehrte ins maurische Spanien entsandt, um Wissen und Fortschritt in die klösterlichen und urbanen Zentren Mitteleuropas zu „importieren“.
Und es war wieder ein Austausch zwischen den Kulturen, der Handel mit Ideen und Waren (vor allem mit Gewürzen, Gewebe und Edelsteinen), der im 12. Jahrhundert blühende Hafenstädte im Norden Italiens reich und bedeutend werden ließ. Wenn auch Mitteleuropa weiterhin von dieser Entwicklung größtenteils abgehängt blieb (bis zur historischen Zäsur um das Jahr 1500, Ende des Mittelalters und Beginn der Renaissance), weil der Handel vor allem über das Meer verlief, war doch ein Geist des Aufbruchs zu spüren – Kaufleute, Ideen , Verkehr von Waren und der Wandel als Hoffnungsträger müssen zumindest in geringem Maße wohl auch die Siedler und Handwerker erreicht gehabt haben, die sich auf den Weg nach Siebenbürgen machten. Eine beträchtliche Rolle für den Anstoß zu diesem beispiellosen Aufbruch muss auch die Schwächung der Fürstentürmer und der weltlichen Macht Mitteleuropas insgesamt gespielt haben, die Migration in diesem Ausmaß nicht mehr unterbinden konnte. Im Ringen zwischen Fürsten und Königen einerseits, aber auch untereinander, und dem Papst und der Kirche andererseits neigte sich die Waage zugunsten der Letzteren. Der Kaiser des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation verlor seine Hegemoniestellung an den Papst und an die römisch-katholische Kirche. Das Christentum begann sich endgültig als das gemeinsame kulturelle Fundament herauszubilden, das Europa formen sollte; die weltliche Macht verliert entsprechend ihre Vormachtstellung.
Wenn die Minderheit der Siebenbürger Sachsen (wie die anderen deutschen Minderheiten Rumäniens auch, die hier nicht thematisiert werden) schließlich im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts aufgrund der Erfahrungen vor allem ihrer letzten Generation nahezu geschlossen aufbrach, Siebenbürgen und die Diaspora in Rumänien zu verlassen, richtete sich ihr Blick größtenteils auf Deutschland, in kleinem Maße auch auf andere Orte der westlichen Welt.
Wie vieler und welch einschneidender Erfahrungen bedarf es, den Verlauf, die Kontinuität einer 800-jährigen Geschichte willentlich abzubrechen? Sollte dies ein Ausstieg aus ihrer Gruppenidentität sein, oder konnte man sich aus dem Bewusstsein einer Minderheit in die sprachlich-kulturell umfassendere Mehrheit des ursprünglichen und nun auch erneut einladenden Kulturraums hinüberretten? War man bereit, nur die sogenannt nackte Existenz zu retten? Diese Menschen ließen ja Hof und Dorf und Stadt zurück, blühende Landschaften und alle mehr und weniger sichtbaren Zeugen einer in Jahrhunderten geschaffenen Heimat. Aber große Teile materieller und immaterieller Werte hatte man ihnen in den Jahren des rumänischen Kommunismus ohnehin schon entrissen. Aus einer Minderheit mit gewachsenen Sonderrechten war eine diskriminierte Minderheit geworden, deren Kräfte des Zusammenhalts schwanden. Die deutschsprachige Minderheit erlebte in Rumänien all die Auswüchse, die von Beobachtern des gelebten Sozialismus auf der ganzen Welt bezeugt werden können. Ein Prozess der Auflösung der Gruppenidentität hatte eingesetzt (siehe allein die sprunghafte Zunahme der Eheschließungen außerhalb der eigenen Ethnie sowie die Durchlässigkeit bisheriger Barrieren in sprachlicher und soziokultureller Hinsicht). Man mag das opportunistische Interkulturalität nennen, die sich in Richtung Assimilation entwickeln kann, wie dies bei den wenigen noch in Siebenbürgen lebenden sächsischen Nachfahren erkennbar ist.
Was ist aus der Gruppenidentität der jahrhundertealten Minderheit der Siebenbürger Sachsen geworden? Nur ein Kapitel „tote“ Geschichte (Bauten dort und Museumsstücke hier wie herrliche Meeresmuscheln in der Vitrine)? Mit welchem „kulturellen“ Gepäck kehrten die Erben der ursprünglichen Siedler nun erneut als „Aussiedler“ in eine alte Heimat zurück (die natürlich auch nicht mehr jene war, aus der die Vorfahren einst den Aufbruch in ein besseres Leben wagten)? Wenn diese Generation keine Antwort auf diese Frage (sucht oder) findet, ist die Frage selbst mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in der nächsten Generation ohnehin obsolet. Selbst wenn die identitätsstiftenden sächsischen Dialekte auf Tonträger aufgezeichnet werden, wer soll sie in der Zukunft noch verstehen? Trachten und Tänze können eine Folklore-Nische finden. Doch die zentrale Frage bleibt:
Was bringen diese deutschen Aussiedler an anderen, bereichernden Kenntnissen, Fähigkeiten und Verhaltensmustern mit, als sie in der Mehrheit der Menschen im alt-neuen Mutterland schon vorhanden sind? Das wäre der kulturgeschichtlich bezeichnende positive Beitrag der Siebenbürger Sachsen. Ihn zu identifizieren, zu fördern, wäre die sozial-ethische Aufgabe ihrer Eliten bzw. der institutionellen Vertretungen dieser Minderheit in Deutschland.
Richard Lang, Buenos Aires, Januar 2018
Zum Autor
Richard Lang, geboren 1945 in Schäßburg in Siebenbürgen, war zuletzt sechs Jahre lang Leiter des Goethe-Instituts Sri Lanka, bevor er in den Ruhestand trat. Nach Studien der germanischen Sprachen, der Kunstgeschichte und der Weltliteratur arbeitete er von 1963-1974 als Rundfunkredakteur in Bukarest. 1976 begann seine 33-jährige Tätigkeit am größten deutschen Kulturinstitut, dem Goethe-Institut, wo er die Dozentenlaufbahn einschlug und als Dozent 1985 mit einem Aufenthalt am Goethe-Institut Buenos Aires seine Auslandslaufbahn begann. Sie führte ihn von Deutschland aus nach Indien, Nigeria, Mexiko und Sri Lanka, vom Leiter der Abteilung für Kulturprogramme zum Leiter der Sprachabteilung und schließlich Institutsleiter in Lagos/Nigeria, Guadalajara/Mexiko und Colombo/Sri Lanka. Zu seinen interessantesten Goethe-Projekten zählten Kulturvergleiche mit Deutschland in Indien, in Westafrika und Lateinamerika, z.B. grenzüberschreitende Projekte (die Industalzivilisation, Himalaja, Buddhismus, der Indo-Lanka-Kulturraum). Auch beschäftigte er sich mit der bildhaften Vermittlung von Fremdkulturen. Der Anstoß zu und die Durchführung von interkulturellen Theaterprojekten wie „Africa Project“ (mit Magisterarbeit an der Universität Freiburg/Breisgau), die SAT-3-Dokumentation „Regie über Kreuz“ sowie die erstmalige Präsentation afrikanischen Theaters in großen Schauspielhäusern Deutschlands und nicht zuletzt das „Proyecto Quetzalcóatl“ in Mexiko ergänzen die Bandbreite seiner kulturellen Aktivitäten. Das letztgenannte Projekt betrifft die Verbindung von Indianerkultur mit moderner Theaterästhetik. 2002 initiierte Richard Lang das Gründungsseminar zur ersten virtuellen Filmzeitschrift Lateinamerikas. Auch konzipierte und organisierte er die 1. Weltkonferenz für „alternative“ medizinische Systeme unter Einschluss von Homöopathie, Ayurvedha, der traditionellen chinesischen Medizin, Unani, der Tibetischen Medizin und des südindischen Systems Siddha. Im Ruhestand ist er mit der Organisation von lokalen, regionalen und internationalen Kulturprojekten und mit Vorträgen aktiv, setzt gezielt seine Beschäftigung mit interkulturellen Themen fort und wirbt für die verstärkte Aufnahme von Interkulturalität als Fach in den Syllabus von Schule und Hochschule. Neben Deutsch spricht er fließend Englisch, Spanisch und Rumänisch. Er ist mit der argentinisch-deutschen Künstlerin Cora Lia Espagnol (www.coradelang.com) verheiratet und Vater von drei Kindern, die allesamt dreisprachig aufwuchsen.Schlagwörter: Siebenbürger Sachsen, Identität, Minderheit
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