30. Januar 2021

Gedanken beim Lesen von Daniel Mellems Oberth-Roman

Über Hermann Oberth, den 1894 in Hermannstadt geborenen und 1989 in Nürnberg verstorbenen genialen Erfinder und Raumfahrtpionier ist schon seit längerer Zeit kaum mehr geschrieben worden. Zu wenig vielleicht, wie man nicht nur aus dem medialen Echo auf Daniel Mellems Ende des vergangenen Jahres erschienenen Oberth-Roman „Die Erfindung des Countdowns“ schließen kann.

Wer kennt ihn heute noch, wer spricht sechs Jahrzehnte nach „Sputnik“ und fünf Jahrzehnte nach der Mondlandung noch von dem Mann, den man ehrfürchtig „Vater der Weltraumfahrt“ nennt? Beim Schreiben dieser Zeilen erinnere ich mich an die Übertragung der Mondlandung, als ich meinen Blick nicht von der flimmernden Mattscheibe hatte lösen können, und an Oberths Vortrag 1972 in der Aula des Mediascher Stephan-Ludwig-Roth-Lyzeums über seine Schäßburger Experimente zur Schwerelosigkeit, bei dem ich als Abiturient an seinen Lippen hing.

Der Physiker und Romanautor Daniel Mellem, 1987 geboren, gehört quasi der Urenkelgeneration an, die das Fliegen in den Weltraum als selbstverständlich ansieht. In seiner Generation denkt wohl kaum jemand daran, welchen Weg die Menschheit zurückgelegt hat, um diese Leistung zu vollbringen, und in wie kurzer Zeit dieses geschah, und sie ahnt vermutlich nicht, dass einige wenige den Weg dafür geebnet haben, zu denen Hermann Oberth mit seinen bahnbrechenden Arbeiten zählt. Mellem bekennt in einem Interview mit „Fluter“, dem Onlinemagazin der Bundeszentrale für Politische Bildung, er sei erst „vor fünf Jahren über den Film ‚Frau im Mond‘ von Fritz Lang“ auf Hermann Oberth gestoßen und sei „sofort fasziniert von seinem Leben gewesen, das voller Sehnsüchte und Verfehlungen steckt“.

Betrachtet man die Lebensgeschichte Hermann Oberths und das Verhältnis zwischen ihm und seinen Zeitgenossen, kann man vier Etappen erkennen. Über sechs Jahrzehnte dauert sein Ringen um die wissenschaftlichen Grundlagen und die technischen Voraussetzungen zur Verwirklichung seines Jugendtraums vom Flug zum Mond. Während er zunehmend die Achtung namhafter Wissenschaftler gewinnt, halten ihn die meisten Zeitgenossen eher für einen weltfremden Phantasten. Nach dem Start des ersten Satelliten in eine Erdumlaufbahn 1957 und spätestens mit der Mondlandung 1969 ist auch Oberths Name in aller Munde, wird er zum gefeierten Star. Er erfährt bedeutende Ehrungen, zahlreiche Bücher erscheinen, insbesondere aus der Feder seines Biographen Hans Barth, der den Weg des Wissenschaftlers mit der Genauigkeit eines Ingenieurs nachzeichnet. Raketenmotive und Oberths Porträt schmücken zahlreiche Devotionalien, auch über 60 Briefmarken vor allem aus kleinen und entlegenen Ländern tragen seinen Ruhm rund um den Globus. Nach Oberths Tod verschieben sich die Akzente im öffentlichen Diskurs über ihn, der Fokus richtet sich auf seine Rolle bei der Entwicklung von Angriffsraketen im „Dritten Reich“ und auf einige Schriften und Äußerungen, was letztlich dazu geführt hat, dass er am rechten Rand des politischen Spektrums verortet wird. Er wird vom Gefeierten zum Stigmatisierten, gar „verteufelt“ (Rolf Hochhuth), und ist als Namensgeber eines Kulturhauses in Wiehl nicht mehr tragbar. Und danach – Schweigen? Den Eindruck kann man gewinnen, wenn selbst sein Zunftgenosse Daniel Mellem erst auf einem weiten Umweg auf Oberth aufmerksam wird.

Die Familie von Hermann Oberth vermutlich im ...
Die Familie von Hermann Oberth vermutlich im Garten des Mediascher Hauses (1936), v. l. Ilse, Mathilde (Tilla), Adolf, Erna, Hermann und Julius. Foto: Archiv Heimatgemeinschaft Mediasch
Umso willkommener will es mir scheinen, dass der junge Autor sich seiner angenommen hat. In der Oberth-Literatur hat Mellems Buch gleich drei Alleinstellungsmerkmale: Sein Autor ist ein Nachgeborener, kein Zeitgenosse Oberths und der Eroberung des Weltalls. Er ist kein Siebenbürger Sachse wie die meisten seiner Biographen. Und er schreibt einen Roman, keine neue Biographie. Im Mittelpunkt seines Buches steht der Mensch Hermann Oberth; der Autor interessiert sich nicht primär für die wissenschaftlich-technische Leistung, sondern für das Leben seines Helden, mehr noch, für das Leben seiner Familie. In dem Roman begleitet der Autor das Ehepaar Tilla und Hermann Oberth auf ihrem Lebensweg, mit Höhen und Tiefen, Erfolgen und Rückschlägen, Katastrophen und Verlusten bis hin zu dem Augenblick, in dem der Jugendtraum des Protagonisten im eigentlichen Wortsinn wahr wird – dem Start von Apollo 11 mit dem Ziel der Landung des Menschen auf dem Mond.

Mellem hat sehr genau recherchiert, nicht nur Oberths Biographie, sondern auch seine Lebensumstände, hat sich besonders mit den geschichtlichen und historischen Zusammenhängen in Siebenbürgen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vertraut gemacht, die das Weltbild des jungen Oberth nachhaltig prägten. Mit gutem Gespür für den „spiritus loci“ lässt er eine ferne Welt und eine noch nicht so lange vergangene Zeit vor dem inneren Auge seiner Leser auferstehen. Er wählt entscheidende Episoden aus dem Leben seines Protagonisten, die er in elf Kapiteln wie bei einem Countdown rückwärts zählend beleuchtet. Man ahnt, auf welchen Endpunkt es hinausläuft, und wird am Ende davon überrascht sein, wie der Autor diesen Höhepunkt erzählt. Zum „Countdown“ gehören je ein kurzer Exkurs in die Kindheit und die Jugend in Schäßburg, den Ersten Weltkrieg, dessen Grauen auch Oberths geliebter Bruder zum Opfer fällt, die Heirat mit seiner Frau Mathilde (Tilla), das Studium in Göttingen und Heidelberg mit dem verzweifelten Ringen um Anerkennung durch das wissenschaftliche Establishment, die Dreharbeiten zu dem Film „Die Frau im Mond“ und den vergeblichen Versuch, eine erste Rakete, vom Regisseur Fritz Lang als Werbegag geplant, zu starten, die Mediascher Jahre und den erfolgreichen Start einer ersten Versuchsrakete 1935, Peenemünde und den Zweiten Weltkrieg, in dem die Familie den Sohn Julius und die Tochter Ilse verliert, den Kampf ums schiere Überleben in den ersten Nachkriegsjahren in Feucht bei Nürnberg, die Zusammenarbeit mit Wernher von Braun in Huntsville, USA, einen handfesten Krach im Hause Oberth über sein Abgleiten zum rechten Rand des politischen Spektrums hin und schließlich den Start von Apollo 11 zum Mond.

Es sind immer wieder geplatzte Träume, aus denen Oberth geweckt wird, sich aufrappelt und weiter auf sein nächstes Ziel zuarbeitet. Rückschläge durch gescheiterte Experimente, das oft vergebliche Ringen um finanzielle Unterstützung, Enttäuschungen durch Menschen, von denen er sich betrogen oder missbraucht fühlt, gehören zu diesem Leben ebenso wie die großen Erfolge. Auf die Frage in einem Interview, warum er dem Scheitern so viel Raum in seinem Buch gegeben habe, antwortet Mellem: „Oberth hat ein sehr unstetes Leben geführt, ist ständig umgezogen, hat seiner Vision von der Raumfahrt alles andere untergeordnet. Darüber hat er unter anderem auch seinen Job als Lehrer in Siebenbürgen verloren, weil er nach Geldgebern in Deutschland gesucht hat. Das Scheitern ist zentral für sein Leben. Er ist gescheitert, weil die Umstände ihn haben scheitern lassen – aber eben auch an sich selbst. Für mich ist das Faszinierende an dieser Figur, dass Oberth sich trotz vieler Enttäuschungen nicht von seinem großen Traum abhalten ließ. Und am Ende ein Utopist war, der die Erfüllung seiner Utopie – die Mondlandung – doch noch miterleben durfte.“

Das Leben der Familie Oberth wird äußerst packend erzählt; man ist versucht, das Buch in einem Atemzug zu lesen. Der Autor folgt getreulich der Biographie seines Helden und seiner Angehörigen, gerät aber in Details durchaus ins Fabulieren, wenn er seine Botschaft bekräftigen möchte. So beginnt der Roman mit einer Art Paukenschlag: Der junge Hermann sticht beim Baden in der Kokel einem Wasserbüffel die Finger in die Augen. Kein Wunder, dass der experimentierfreudige Knabe im Krankenhaus landet und sich die Wut des erschrockenen Vaters über ihn entlädt. Die Episode ist tatsächlich anekdotisch überliefert, aber weniger dramatisch, da nur vom Werfen mit Erdklumpen auf einen Büffel die Rede ist, der sich nicht weiter aus der Ruhe bringen lässt. Nicht nur hier dramatisiert der Autor die Abläufe absichtlich, um deutlich zu machen, dass er „seinen“ Hermann Oberth als einen Menschen begreift, der bis an die Grenze und oft darüber hinaus gehen will.

Immer wieder wendet Mellem sich Tilla Oberth zu. Auch wenn sie nicht im Vordergrund steht wie Hermann, so ist sie doch dessen fester Halt, die zweite große Figur dieses Romans, die immer da ist, wenn es im Privaten brenzlig wird, die dort, wo er träumt, stets die Bodenhaftung behält. Ihren stärksten Auftritt hat sie im vorletzten Abschnitt des Buches, wo ihr die Aufgabe zukommt, ihm wegen seiner Mitgliedschaft in einer nicht näher bezeichneten rechtsradikalen Partei den Kopf zurechtzusetzen. Wie stark die Beziehung dieser beiden außergewöhnlichen Menschen war, lässt uns der Autor in einer berührenden Szene während des echten Countdowns für die „Mondrakete“ miterleben.

Die meisten Bücher über den Raumfahrtpionier aus Siebenbürgen sind heute vergriffen, so dass interessierte Leser im dritten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts es nicht leicht haben, sich über ihn kundig zu machen. Da ist das neue Oberth-Buch, der Roman „Die Erfindung des Countdowns“, mehr als willkommen. Lassen wir den Romanautor ein letztes Mal zu Wort kommen: „Ich wollte die historische Person gerecht behandeln – das habe ich gespürt, als ich vor Oberths Grab stand. Ich wollte nicht urteilen, wo ich nicht urteilen kann.“

Im Spannungsfeld von „j’accuse“ bis „Deckel drauf und Schwamm drüber“ geht Daniel Mellem einen dritten Weg, der dennoch nicht ein Weg des geringsten Widerstandes ist. Er erzählt ein Leben, „das voller Sehnsüchte und Verfehlungen steckt“, ein Menschenleben – und überlässt es seinen Lesern, sich ihr Urteil zu bilden.

Hansotto Drotloff



Daniel Mellem: „Die Erfindung des Countdowns“. dtv, München, 2020, 288 Seiten, 23,00 Euro, ISBN 978-3-423-28238-3.

Schlagwörter: Oberth, Roman, Mellem, Buchbesprechung, Oberth, Forscher

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