28. Februar 2021

Siebenbürgische und Münchner Gedichte: Johannes Zultner in der Reihe „Lebendige Worte“ (VIII)

Johannes Zultner, geb. 1956, lebte in Scharosch an der Kokel und zuletzt bis zur Aussiedlung 1979 in Hermannstadt. Seither hauptsächlich in und bei München, wo er Evangelische Theologie und Philosophie studierte und anschließend als Pfarrer der bayerischen Evangelisch-Lutherischen Kirche wirkte. Lyrik ab 1975 in den deutschsprachigen Publikationen Rumäniens, ab 1980 in wichtigen Sammlungen Deutschlands. Nach längerer berufs- und später krankheitsbedingter Einschränkung der literarischen Tätigkeit erneut mit zahlreichen und regelmäßigen Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften und repräsentativen Sammlungen (u.a. Das Gedicht, Versnetze, Spiegelungen, Verlage Reclam, List, Hansisches Verlagshaus, AGL). Zweimalige Nominierung für den Leonce und Lena-Lyrikpreis. Lyrikpreis der „Gesellschaft für Literatur und Kunst“ Innsbruck. Die nachfolgenden Gedichte thematisieren Siebenbürgen als bewahrte und bewahrende Herkunft, Aussiedlung und Ankunft als bleibende Verwund(er)ung, neue Beheimatung (für den Autor: München, in und bei) spannungsreich in sich und zur Vergangenheit.
Johannes Zultner ...
Johannes Zultner

große kokel

kein wort
deutsch sprachen die fische auch
scharoscher mundart nicht
obwohl ihrem element
entsprochen hätte moselplappern

bei ihren rumänischen namen
gerufen
scobar clean mreana
kamen sie näher
schwiegen sie anders
lachten sie lautlos

des köders
während der fluss tags
das licht nachts die stille
brechend
herbeitrug
aus anders bewaldeter sprache
namen

für sich
und das dorf

Der Dorfname „Scharosch“ und der Flußname „Kokel“ leiten sich beide aus dem Ungarischen ab: von „sáros“ (Schlamm, Moor) und „küküllő“ (in etwa „Dornenfluss“). Im Quellgebiet und am Oberlauf der Kokel wird Ungarisch gesprochen, nicht jedoch in oder bei Scharosch.

vater

pflastert den weg am haus 1964
erinnerung und abschied

nimm meine kleine hand der du dort kniest
auf deinen nassen rücken
die stunde stürzt vom turm schlägt ein du liest
sie auf und lebst in stücken

und kniest im stein du pflasterst deinen weg
nein meinen der ich schon gegangen
die füße klein zu leicht für jede spur beweg
die hände die den letzten stein umfangen

nur einmal noch für mich lass deinen jungen
vom schweiß beglänzten rücken mich berühren
lass mich dir brunnenwasser holen deine lungen
mit sommer füllen dann schließ alle türen

scharosch – friedhof

„Egal, von wo man sich Scharosch nähert, aus allen Himmelsrichtungen ist zunächst der Friedhof sichtbar (auf einer Anhöhe im südwestlichen Dorfbereich), ein bedrückendes Sinnbild der menschlichen Vergänglichkeit und des seelischen Leids.
Sobald man jedoch im Dorf ist, verschwindet der Ort der letzten Ruhe aus dem Blickfeld und wird durch ein anderes, imposantes Symbol verdrängt: die Kirchenburg. Als Wahrzeichen des Glaubens ist die Kirche mächtiger als der Friedhof.“ *


hoch oben
begruben wir sie
tief unten

tief die gräber tief
genug ausgehoben
unter seufzern und versehentlich
flüchen

hoch der friedhof schwebend
über dem dorf von licht
durchwehtes bild

überlegen uns unten
verbleibenden die
wir begruben

nicht rieselte sand
nicht schneite flockige erde
beim verschließen des grabs
auf den sarg

lehmklumpen

donnerten
gelb
donnerten schwer
auf den gewaltsam vernagelten
deckel wieso
sprangen die toten nicht auf
weinten noch lauter die kinder

  • aus: https://kirchenburgen.org/location/scharosch-kokel-saros-pe-tarnave/

  • begräbnis siebenbürgen

    man tat was zu tun war

    die männer

    die gerätschaften
    grobe seile
    hacken schaufeln

    beiseite
    gelegt ins gras
    die sonntagsjacken
    in betonter achtlosigkeit

    es gibt wichtigeres

    alles schwere wirkt

    leicht

    gewaltsam
    ein leichtes zuviel
    an kraft

    es war hereingebrochen
    etwas und

    man wehrte sich
    so

    parëdeis

    nein
    wirklich nicht war alles

    besser

    früher was ist
    früher

    welches gestern

    so nimm des alten
    mannes kindheit

    meine

    an kinderzähnen fraß
    schon früh der schwarze zahn
    der zeit und auch
    viel anderes war schlecht

    doch besser

    ohne frage waren die
    tomaten

    sie waren was

    ihr name sagt

    zu ihrer zeit im sommer
    an ihrem ort im garten
    den augen händen nasen
    mündern
    im paradies vergessner
    menschenkinder

    ihr wahrer name deshalb
    parëdeis

    nürnberg kollwitzstraße durchgangslager

    samstag sonntag montag
    oktober 1979

    in der kollwitzstraße dann – die listen
    mit namen mir fremd und verwandt –
    sah ich sie wieder die sperrholzkisten
    auf denen kollwitzstraße stand

    gepinselt in hämischen zügen
    in groben noch diesseits des raus
    gemusst und gewollt aus dem lügen
    durchwucherten sonnigen haus

    im klaren oktober im jenseits
    im endlich erreichten beginn
    im himmel ist sonntag die türen

    verschlossen ich fühle bereits
    den kantigen windhauch und bin
    erwählt nun dies land zu berühren

    augsburg eschenhof übergangswohnheim

    oktober 1979 - januar 1980

    sechs menschen drei räume alles
    ist da der tisch und das brot
    vom sonderangebot
    im traum der geruch eines stalles

    der spätherbst weißgolderleuchtet
    die straßen gerade und stracks
    wir streicheln tief innen den knacks
    mit fingern bedeutsam befeuchtet

    am tau von den pappeln im hart
    umgrenzten geviert deren zittern
    zum himmel die wartenden wittern

    sie warten worauf und vergebens
    vom täglichen brot ihres lebens
    wird stündlich ihr hunger genarrt

    münchener elegie siebenbürgischen anklangs

    ach schon september

    mit jedem auto fährt plötzlich
    in jede richtung der sommer
    davon

    und geht er zu fuß
    stadtabwärts
    die farben der häuser entlang
    so geht er einfach
    dahin

    das licht
    entleert von sich selbst
    bleibt zurück
    in den schaufensterscheiben der
    stilleren straßen

    was es gewesen -
    davon und dahin
    doch bleibt seine farbe
    dichter
    als je und schwer
    zu durchschreiten

    die straßenseite zu wechseln
    macht müde
    dass zu bleiben sich lohnt
    wo man ist wird
    zum schläfrig geraunten bekenntnis

    ihr grün zu bewahren
    werden die blätter hart
    ihr fallen – später –
    wird ein geräusch sein
    sonst nichts

    in der biergärten helle
    blinzelnd
    trifft man verwundert sich selbst

    Die erste Zeile knüpft an den Schlussvers aus „Siebenbürgische Elegie“ (1927) von Adolf Meschendörfer an

    augustiner

    direkt
    bei der brauerei die bräustuben zünftiger
    gehts nicht und billiger
    auch nicht das schönste

    aber die kellner

    in weißem
    hemd schwarzer weste schwarzer
    hose
    elegant

    sogar ich
    nie betrachtet
    hätte trachten hier
    am nabel des biers

    erwartet aber gott
    bewahrte mich
    und die welt die lauthals hier
    einkehrt gott

    der heimlich
    am siebten tag das heißt
    in aller ruhe
    das erste helle schuf

    und sich von solchem kellner
    bringen ließ

    klein und füllig

    sicherheitsmitarbeiter steht

    auf ihrem schild
    kein in
    ist sie denen wert
    kein namensschild ein
    preisschild
    unsichtbar unübersehbar
    darauf
    die unterbezahlung

    so steht sie

    acht stunden jeden tag
    am kaufhofausgang
    zwischengeschoß marienplatz
    nichts

    darf sie tun
    nichts

    muss sie tun
    außer

    dastehen keinen
    ladendieb schreckt sie ab
    wenn er kommt
    hält sie fest
    wenn er flieht

    ihr blick hinter dicken
    brillengläsern hat
    vor jahren schon das reden
    eingestellt

    In memoriam Wolf von Aichelburg (3.1.1912 - 24.8.1994)

    1

    tief sankst du plötzlich
    ins licht
    in den gespiegelten himmel

    triebst
    auf dem glanz
    der fläche dann
    grenzfläche zwischen licht
    und licht dahin
    dahin

    zurück
    zum uferfels zuletzt

    ein südlicher tod
    ein tod für dich
    heimkehr
    august 1994 mittwoch 24.
    bañalbufar

    nun ruhst als asche du
    so lange schon
    auf einem friedhof namens nord
    in einer stadt

    die immerhin im süden
    ihres landes liegt
    die großen straßen rauschen grau

    2

    ich hätte dich so gern gefragt
    ob dieser friedhof dir behagt

    kreuzung / u-bahn zugang / abends

    in den abgrund
    gleitet die rolltreppe nicht
    wirklich lautlos

    ein silbernes schleifen

    zieht
    nach unten
    in den gegenwind aufsteigender kühle
    mein gehör in worten
    zu fangen

    diesen schlaflosen lärm
    hieße
    an staubigen straßenecken dennoch
    aufschaun im schleppen
    am leben

    atem der ampeln
    farblichter
    aus

    ergrautes papier
    in die hecken vom fahrtwind
    gepeitscht

    dieses geräusch

    müsste unter
    grund sein vorbei
    rauschenden zeichen worte
    biegen ab und parken
    schwarz

    an den rändern alles
    voll

    wie der lärm durch die nacht
    leiser werdend niemals
    verebbend anlauf
    nimmt
    für den tag

    ein toter brunnen

    nah dem portal
    der großen kirche

    das brunnenbecken leer
    der boden vom bleibenden
    durst
    karger moose
    überwuchert

    wo
    ist das wasser
    wo sind die menschen

    kein mensch doch
    namen
    namensschilder am haus nebenan

    hinter dem haus das rauschen

    der großen ausfallstraße das rauschen
    abfließender meere

    die meere nehmen
    nicht ab
    aus schwarzer stille nachschub
    ständig

    der brunnen aber
    ist tot

    vom zahnarztstuhl seh ich

    durchs fenster hier
    durchs fenster dort im haus
    gegenüber
    auf einem zahnarztstuhl einen menschen der
    durchs fenster dort im haus
    gegenüber
    durchs fenster hier
    auf einem zahnarztstuhl einen menschen mich
    sieht

    ich könnte jetzt winken er
    könnte jetzt winken

    wir könnten über die sendlinger
    straße brücken
    tauschen und kronen
    vollkeramik kaum
    zu bezahlen

    unserer leben geschichten
    präziseste abdrücke unserer
    zähne und schäden
    anschauen
    wortlos

    könnten zu menschen mit
    einander werden sobald
    die betäubung verflogen
    und beißen

    die zunge nicht mehr gefährdet

    coffee to go

    münchen hbf

    wie stark muss der kaffee sein
    am jüngsten tag
    eingeflößt
    allen „die da schlafen“
    von aufgewachten die augen
    sich reibenden dann aber
    sofort geschäftigen engeln

    lange mussten sie warten
    die engel
    die toten

    nicht zu ermessen
    die von morgenröten
    umgrenzte zeit

    doch nun gluckert schwarz
    aromatisch und heiß
    in den kehlen aus staub
    die ewigkeit

    bevor
    die augen sich auftun
    wieder
    für immer
    ein lächeln
    auf dem staub der gesichter
    ob des duftes

    so verwegen von so
    weit her eingeblendet
    die träume

    des älteren rundlichen mannes aus
    der scheibe des infocenters
    im hbf schaut er
    mich an
    erregt vom fast
    furchterregend starken coffee to go
    vom kiosk in der halle

    der
    von so viel vergänglichkeit
    nachts
    durchhasteten halle

    Schlagwörter: Lyriker, Pfarrer, Scharosch, Hermannstadt, München, Literatur, Lyrik, Lebendige Worte

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