18. Dezember 2021

„Schwebezustand. Melencolia“: Zum neuen Gedichtband von Hellmut Seiler

Der aus Siebenbürgen stammende, 1953 in Reps geborene, seit 1988 in Baden-Württemberg lebende Schriftsteller und Übersetzer Hellmut Seiler, Deutsch- und Englischlehrer, erlebte mit seiner Pensionierung 2021 nach eigener Aussage so etwas wie „eine Stufe der geistigen Wiedergeburt“, endlich „den Kopf frei“ für Schreiben, für die ehrenamtliche Aufgabe als Generalsekretär des Exil-PENs Deutschland, für sein jüngstes Projekt, den international anerkannten „Rolf-Bossert-Gedächtnispreis“. Zu seinen acht Gedichtbänden sind kürzlich zwei weitere hinzugekommen: „Schwebebrücken aus Papier“, von Seiler ins Deutsche übersetzte Lyrik von 36 rumänischen GegenwartsschriftstellerInnen, und sein Band „Schwebezustand. Melencolia“.
Mit dem Titel, „Schwebezustand. Melencolia“, knüpft dieser Band Seilers an Dürers Stich Melencolia an, eine inhaltlich äußerst komplexe allegorische Darstellung der Melancholie. Und die Wahl zeigt sich gut begründet, denn die Texte zeugen fast durchgängig von der Sichtweise auf die Welt eines Melancholikers. Melancholie, die „sinnende Melancholie“ (N. Lenau) ist eine von Nachdenklichkeit geprägte Gemütsstimmung im Bewusstsein der Begrenztheit des menschlichen Seins in der Welt gegenüber ihrem unfassbar Unendlichen. Empfänglich für alle Zustände und Zwischentöne dieses Seins, befähigt sie den Denker schöpferisch kreativ das So-Seiende zu fassen und sublimierend zu überwinden. Diese Fähigkeit eines der vier Temperamente schreibt schon Aristoteles allen schöpferisch kreativen Menschen zu. In einem Interview spricht Hellmut Seiler bezüglich seiner Inspiration zu den Texten des Bandes von einer „heiteren Traurigkeit, wenn man darüber nachdenkt, in welchem Zustand sich die Welt befindet, wenn man an die zwischenmenschlichen Beziehungen denkt, oder wenn man den eigenen Erinnerungen nachhängt“. Entsprechend gewählt und geprägt ist dann auch die Thematik der Gedichte.
Hellmut Seiler bei einer Lesung im Münchner Haus ...
Hellmut Seiler bei einer Lesung im Münchner Haus des Deutschen Ostens (2018). Foto: Konrad Klein
Die bisherigen Texte dieses scharfsinnigen „Sprachspielers“ (Georg Aescht), zeugten oft ironisch, gar sarkastisch zugespitzt vorrangig von seiner Auflehnung gegen Zwänge, gegen menschliches Versagen und Engstirnigkeit. Nun wirken Sprache und Haltung „gedämpfter, weniger politisch“ (H.S.) geworden. Eine gewisse Gelassenheit prägt die Mitteilungen und schafft Raum für Poesie, zu deren Charakteristika ja auch eine gewisse, unspezifische Genauigkeit“ (H. Domon), Doppelbödigkeit gehört, ein Schwebezustand. Letzterer, im Französischen „état d‘attente“, verlangt vom Leser Aufmerksamkeit und Nachdenken, Entscheidung über noch nicht Geklärtes. Beliebtes Stilmittel ist dem Schriftsteller dafür die Pointe Auch bei Seiler. Sogar ein üblicherweise sinnleerer Text der konkreten Poesie spielt damit, lädt so zum Mitdenken ein, wenn man über Schöne neue Freizeitorte, weitab von Maulschellengetöse und Alphorngebimmel die ironischen Wortspiele über den Reisesnob liest: „Kuh weit? Ah, dha! O, du/Kuh dha? Du dhabai! Du bai Kuh?“ Ein anderes, ein visuelles Gedicht über das Verrinnen von Glück in der Zeit, verblüfft durch seine äußere Form als Sanduhrkontur. Sehr häufig dreht in den Gedichten der letzte Satz durch Widerspruch pointierend ab, oft führt schon ein letztes Wort die Aussage zu Doppelbödigkeit. Hier verweht so ein Wort Hoffnung auf Wiedersehen endgültig: „… Der Zug ist abgefahren die Frau ist weg / geblieben ist das Wehen ihres Tüchleins / im Zugwind“ (Der Wink oder die Macht der Erinnerung). In eine aufrüttelnde zynische Pointe gepackt wird eine existenzielle Mahnung: „… Das Grönlandeis schmilzt, Robben verenden, / Eisbären blicken uns ungerührt / durch die Kamera an. / Es geht uns gut“ (Es ist nichts geschehen). Oder es wird eine kleine Spanne zwischen Gegensätzen, oft auch zwischen Titel und Inhalt, pointiert zu Weltbewegendem weitergesponnen „… So auch ist / der Entdecker des Feuers gleichzeitig / der Erfinder der Brandstiftung“ (Eschede 1998) Im Erzählgedicht Der Uhrmacher, einer Allegorie auf die Zeit in Gestalt eines Uhrmachers, wird mit pointierendem Wortspiel der Mensch von der Zeit auf den Prüfstand gestellt: Der Uhrmacher: „Wenn, junger Mann, ich jemand kennenlerne, horche ich / in ihn hinein, und ich möchte wissen, wie er tickt.“ Die Zeit, seit der Antike Gegenstand der Reflexion zwischen Mystik und Physik, objektiver und subjektiver Lebens- und Erkenntniswelt, sie ist das Dasein schlechthin, sinnvoll oder sinnlos genutzt: „Wenn es spät wird, horche ich in mich hinein, / höre wie von fern, eine Uhr ticken, sie gräbt / ein Loch in die Zeit , immer tiefer…“ (Wenn es spät wird). In der Mehrzahl der Texte trägt diese unfassbare Größe Zeit Themen, Reflexionen und Stimmung. Als Symbol ist sie das Ticken der Unruh, als Taschenuhr ist sie pars pro toto, für ihren Träger, sie ist Mahnerin vor Zeitverschwendung in dem nur endlich zugemessenen Entscheidungsraum Leben: „… Und immer früher wird es spät“ (Schöne Aussicht). Die Zeit gibt Raum für das Erinnern an Glück, das nie haltbar ist. Es gibt kein „Passwort“ für eine Wiederkehr in Zeit, der Traum an Jugenderinnerungen im „Jungen Wald fast andächtigen Vergessens“ kann nicht halten „was mir damals schon durch die Finger glitt“ (In den Erlenpark). Glück ist so wenig haltbar wie die gewandelte Persönlichkeit in der Erinnerung wiederholbar, „Ich suche mich unter dem Nussbaum / und auf dem Rosenplatz und kann / mich nicht finden“ (Weil es am Ort). In Zeit bleibt, was durch Kunst sublimiert wurde (Caravaggio). Selbst die idyllische Schönheit der Natur wird nur ausnahmsweise fassbar, „am Feiertag, wenn die Zeit / noch in den Uhren schläft“ (Ganz ohne Fehde). Man kann bei Seiler nicht von Naturlyrik oder Stadtgedichten im herkömmlichen Sinne sprechen, noch weniger dann vom politischen Gedicht des ursprünglich offensichtlich Streitbaren. Aber alle Momentaufnahmen sind auf ihre Art auch hier Dokumentation von Zeit und somit Zeitgeist. Auch als Melancholiker bleibt Hellmut Seiler homo politicus, der in Zeit Geschehendes mit unbestechlich kritischem Blick dem Nachsinnen zuführt. Da gibt es z.B. die Vergangenheit des Klassen-Zimmers in der sozialistischen Erziehung zum „neuen (klassenlosen) Menschen“ (Um Klassen besser). Mit allen Methoden wurde dabei die freie Persönlichkeitsentwicklung verhindert „Derart wurde, / Schlag um Schlag, unser Klassenbewusstsein gestärkt.“ Und dann die Gegenwart im Blick: Nicht nur der verantwortungslose Umgang mit unserer Umwelt, die Politikmacher in ihren „fein abgekapselten Schiffen / an die „die Menschen da draußen“ niemals herankommen“ (Fein macht ihr das) die Medien mit ihren „Denkabfällen“ und sinnlosen Talkrunden. Hohle aber manipulierende Schlagworte in einem Leben als ob. Es gibt Corona im Bauch der Städte, es gibt die Obdachlosen im Morgengrauen, und die Vereinsamten. „Kein Wunder, dass keiner mehr so richtig erwachsen werden will“ (Entscheidungsfreiheit). Kein Wunder, dass der Aufruf des Denkers, „Reißt die Nebelwand ein, die Welt, / ändert sie, bitter hat sie es nötig!“ (Gäste), in einmaliger, aber dezidierter Auflehnung logisches Fazit ist. Nein, Hellmut Seiler ist kein Melancholiker, der ob seines Wissens in Schwermut verfällt, schweigt, den gar „das Schweigen bricht“ (Variation über einen Mantel). Er bricht das Schweigen. Nicht Trübsinn, sondern Tiefsinn führt seine Feder, und oft blitzt der Übermut des Wortakrobaten auf. Gedichte für DichterkollegenInnen zeugen vom Vermögen feinsinniger Empathie, und auch die Liebe greift Raum – die Einsamkeit wird bezwungen „allein durch die Liebe“ (Pathétique). Ja, es ist ein Schwebezustand, in dem einen dieser Band reifer, gelungener Texte zurücklässt. Und man liest sie gerne, diese Kunst-Gebilde, um im Bild Seilers zu bleiben: „wie ein künstlicher Blumenstrauß besprüht mit Riechwasser, / mit einer holzigen Note oder einer/ nach Leder.“ Mehr Poesie war bei Seiler nie.

Karin Servatius-Speck




Seiler, Hellmut: „Schwebezustand Melencolia“. Gedichte. Books on Demand, Norderstedt, 120 Seiten, 17,00 Euro, ISBN 978-3-7543-4066-0


Hellmut Seiler
Schöne Aussicht
Ein Schattengedicht


Immer schwingt mir die Unruh,
schneller schwindet meine Ruh;
länger werden die Schatten
der Vergangenheit.

Statt großer Ereignisse finden
lauter historische statt;
diesen aber sind ihre Schatten
abhandengekommen.

Kein Schatten liegt über
der Zukunft.
Und immer früher
wird es spät.


Entscheidungsfreiheit


Solltest du jetzt aufstehen oder liegenbleiben?
Zum Christentum übertreten oder das Gesetz?
Zur Miete wohnen oder unter deinesgleichen?
Jurisimprudenz studieren oder was lernen? So,

meine sehr Verehrten, stellen sich heute die Fragen:
geht man dem Nachbarn zur Hand oder lieber gleich
an die Gurgel? Stopft man den Gully voll oder lieber
sich selber? Die Alternativen sind fast erschöpft.

Kein Wunder, dass keiner mehr so richtig
erwachsen werden will!

Schlagwörter: Buchvorstellung, Gedichtband, Hellmut Seiler

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