10. April 2024

Hellmut Seiler mit „Ost-West-Kuriositäten“ in Stuttgart

Zum Auftakt der diesjährigen Stuttgarter Vortragsreihe fanden am 28. Februar ein Vortrag und eine Lesung des Schriftstellers, Lyrikers, Satirikers und Übersetzers Hellmut Seiler statt.
Thomas Seiler, Sohn des Schriftstellers, umrahmte ...
Thomas Seiler, Sohn des Schriftstellers, umrahmte die Lesung musikalisch. Foto: Helmut Wolff
Bei der Begrüßung und kurzen Vorstellung durch Helmut Wolff, Kulturreferent der Landesgruppe Baden-Württemberg des Verbands der Siebenbürger Sachsen, erfuhren die zahlreichen Besucher Eckdaten aus der Vita des Referenten: geboren in Reps, Gymnasium in Kronstadt, Studium der Germanistik und Anglistik in Hermannstadt, Deutsch- und Englischlehrer am Gymnasium in Neumarkt am Mieresch. 1971 debütierte Hellmut Seiler mit Gedichten und Prosa in der Karpatenrundschau. Sein erster Gedichtband „die einsamkeit der Stühle“ erschien 1982 im Klausenburger Dacia Verlag. 1984 erhielt er den Adam-Müller-Guttenbrunn-Preis. Sein Engagement für eine freiere Kultur- und Literaturpolitik in Rumänien hatte jedoch negative Folgen: Von 1985 bis zu seiner Übersiedlung in die Bundesrepublik Deutschland (1988) hatte Seiler Berufs- und Publikationsverbot. Für seine literarischen Werke wurde er in der Bundesrepublik Deutschland mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Preis der Künstlergilde Esslingen (1998 und 1999), dem Würth-Preis der Tübinger Poetik-Dozentur (2000), dem „Irseer Pegasus“ (2003). In diesem Jahr erhält er nun beim Heimattag in Dinkelsbühl den Siebenbürgisch-Sächsischen Kulturpreis. Von 2014-2021 war Hellmut Seiler, der auch als Übersetzer und Literaturvermittler arbeitet, Generalsekretär des Exil-P.E.N.-Clubs deutschsprachiger Länder.

Thomas Seiler stimmte die Besucher mit dem C-Dur-Präludium aus dem Wohltemperierten Klavier 1 von Johann Sebastian Bach auf die Lesung ein.

Zu Beginn trug Hellmut Seiler – der das schöne Wort „zweiheimisch“ prägte – Texte mit Bezug zur kommunistischen Zeit in Rumänien vor. In der „Organisationslebensgeschichte“ wird ein Verein beschrieben, der nur aus einer Person besteht. Der Vorsitzende, sein Stellvertreter, der Kassierer und die Mitgliederversammlung sind in dieser Person vereint, die eines Tages den Verein auflöst. Mit Ironie und Humor werden Vereinsmeierei durch den Kakao gezogen, so dass die Besucher viel zu schmunzeln und zu lachen hatten. In „Flaschenpost“ ging es um eine Aktion in einer Stadt, in der auf Weisung der Partei Altglas eingesammelt und blitzeblank gewaschen wurde, um dann anschließend von den Flaschenträgern in den Fluß geworfen zu werden.

Durch sein Leben in zwei unterschiedlichen politischen Systemen ist Seiler doppelt sensibilisiert für Merkwürdigkeiten in Alltag und Gesellschaft, die er in Satiren, Aphorismen und Gedichten verarbeitet. Sein Hauptthema ist die Freiheit, wobei für ihn die Ironie die höchste Stufe der Freiheit darstellt: „Schreiben ist für mich die Möglichkeit, auf mein Leiden am Zustand der Welt, auch Deutschlands, zu reagieren.“

Nach dem musikalischen Zwischenspiel „Des Schäfers Klagelied“ von Felix Mendelsohn Bartholdy, hervorragend am Klavier dargeboten von Thomas Seiler, ging es mit Aphorismen und Gedankensplittern aus „Gnomen“ sowie dem lyrischen Teil weiter. Es wurde deutlich, dass Hellmut Seiler zu Recht als ein Meister der Sprachkonstruktion und des Sprachspiels sowie als gewitzter Jongleur von unerwarteten Pointen gilt. Im Gedicht „Immigation 1141“ kommen „Balamuken“ und „Tärämtäten“ vor sowie verfremdete siebenbürgisch-sächsische Ortsnamen wie „Unter Mantel zuckt“.

Im Text „Um Klassen besser“ aus dem Buch „Schwebezustand Melencolia“ erinnert sich Seiler an die Schulzeit in Siebenbürgen. Dazu gehören Erziehungsmaßnahmen wie „Kopfnüsse“ oder „Schlagen mit dem Lineal auf die Fingerspitzen“, aber auch „Ohren lang ziehen“, damit man hellhörig wird, und „Klassendresch“, mit dem das Klassenbewusstsein gestärkt werden sollte!

Der schöne siebenbürgische Landstrich atmet Geschichte, erzählt vom Glanz ferner Zeiten und vom gegenwärtigen Niedergang und Verfall, so in „Impressionen Dobring – Sine domine 2020“: Schäden am Gottesacker, geschändete Friedhofsgräber, das Gestühl in der evangelischen Kirche ist verfeuert worden, keine Gottesdienste finden statt, frisch geweiht ist die Kirche dem Untergang, da in ihr jetzt Kühe weiden.

Seilers poetische Schilderungen sind persönlich und weisen doch über ein individuelles Schicksal hinaus. Im letzten Teil berichtet er über seine Erfahrungen mit dem rumänischen Geheimdienst Securitate zur Zeit Ceaușescus. 2008 stellte er den Antrag auf Einsicht in sein Securitate-Dossier bei der CNSAS, dem rumänischen Pendant zur Gauck-Birthler-Behörde, in Bukarest. Seine umfangreiche Akte mit über 850 Seiten offenbarte ihm das erschreckende Ausmaß der Überwachung durch ein System, das dem Wahn erlag, die totale Kontrolle über seine Bürger auszuüben. Seiler stieß auf ein engmaschiges Netz, in dem er und viele seiner Freunde gefangen waren und fand Niederschriften von Gesprächen, die er auf Englisch, Deutsch, Ungarisch oder in sächsischer Mundart geführt hatte. Alle Einzelheiten der Gespräche waren gespeichert, obwohl Seiler sich mit seinen Freunden in seine Wohnung zurückgezogen und sie sich nur mit gedämpfter Stimme unterhalten hatten. Die Securitate hatte aber nicht nur Wanzen (Funksender) in seine Wohnung eingebaut, sondern auch in den Gaststätten, die er bevorzugte. Wie Bilder es beweisen, wurden Seilers Bewegungen Tag und Nacht fotografisch beobachtet und protokolliert. Die Zustände sind z.T. so grotesk gewesen, dass sie für sich selbst sprechen und durch die klare, gut verständliche, nüchterne Sprache des Schriftstellers noch auf die Spitze getrieben werden. Seiler prangert die Zustände in Rumänien, die Unfreiheit und Unterdrückung, die Willkür der Behörden deutlich an, verpackt seine Kritik aber geschickt in Satire, so dass Hörer bzw. Leser darüber lachen, auch wenn die Begebenheiten gar nicht lustig sind.

Den musikalischen Schlusspunkt mit tollen Jazz-Improvisationen setzte der aus Berlin angereiste Sohn des Referenten Thomas Seiler.

Das Publikum bedankte sich für den informativen und interessanten Abend und hatte Gelegenheit für einen regen Austausch bei einem Imbiss mit Fettbrot und Wein.

Helmut Wolff

Schlagwörter: Stuttgarter Vortragsreihe, Hellmut Seiler, Lesung

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