30. November 2022

Krimi ohne Bösewichter: Lianne Kolf erzählt von ihrem Tun „allein auf weiter Flur“, dem deutschen Buchmarkt

Tata heißt der Vater in siebenbürgisch-sächsischer Mundart. Dass der Kosename rumänischer Herkunft in den Erinnerungen von Deutschlands erster Buchagentin Lianne Kolf häufig vorkommt, ist Zeichen ihres liebevoll dankbaren Gedenkens an den ihren – aus Zeiden: „Martin Kolf stammte wie auch meine Mutter aus Siebenbürgen. Damals, drei Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, war er noch nicht besonders gut in Hochdeutsch, wohl aber im Erfinden von Wörtern und Begriffen.“
Umschlag des Buches von Lianne Kolf, die auf der ...
Umschlag des Buches von Lianne Kolf, die auf der Vorderseite des Umschlags abgebildet ist.
Was Wunder, dass die damals in Deutschland geborene Tochter dieses Mannes zum – um in ihrer eigenen Begrifflichkeit zu bleiben – „Büchermenschen“ geworden ist. Allerdings eifert sie ihrem Tata im „Erfinden“ nicht von Wörtern und Begriffen nach, vielmehr erzählt sie in diesem ihrem Buch unumwunden, wie es dazu kam, dass sie selbst groß wurde im Erfinden erfolgreicher Bücher und Buchreihen, zuvorderst aber darin, sich selbst stets aufs Neue zu erfinden.

In die Wiege am Starnberger See zwischen Villen und Flüchtlingsbaracken war ihr solch kreative Weltläufigkeit allerdings nicht gelegt, und auch das Wort Netzwerker(in) war wohl noch nicht in die deutsche Sprache eingewandert. Die frisch gebackenen Eltern mussten in einer Fremde, in die sie die Zufälle einer finsteren Zeit verschlagen hatten, zunächst einen Fuß auf den Boden kriegen. Den Weg des Vaters hierher kann Lianne Kolf nicht mehr ausmachen, dieser hat zeitlebens das in Siebenbürgen gewebte und in Deutschland gestärkte Tuch des Schweigens darüber gebreitet. Die Mutter ist in der Deportation in Russland erkrankt und mit Martins Schwester Hilde als Leidensgenossin und Freundin in die Sowjetisch Besetzte Zone verfrachtet worden, wo es zum Wiedersehen der Geschwister kommt und die Liebe keimt.

Aus dieser nun machen der gewiefte Martin mit seiner „unglaublichen kommunikativen Ader“ und die Nachkriegsversehrte, die unter ihren aus der Ukraine – nicht „Sibirien“ – mitgebrachten Traumata leidet, das Beste: Sie gründen einen Hausstand im Zeichen des Provisoriums. Tata, ein „schmuckes Mannsbild“, begnadet mit dem zeittauglichen Hang zu „tollkühnen Gaunereien“, schafft sich ein Standbein als „,Händler der vier Jahreszeiten‘ auf dem legendären Schwarzmarkt in der Möhlstraße in München-Bogenhausen“, sodann mit „Süßwaren und Spirituosen en gros und en détail“. Geschäfts- und auch sonst tüchtig erlöst er dabei so viel, dass er mitsamt Familie sogar der in den Karpaten gesprossenen Leidenschaft des Skifahrens frönen kann, es zumindest ungehemmt könnte, wäre da nicht die komplizierte österreichische Visumsprozedur für rumänische Staatsbürger, die Mutter und Vater nach wie vor sind.

Die Tochter Lianne wiederum ist die eigentliche „Displaced Person“ der Familie: „Ich hatte in der Schule keinen sehnlicheren Wunsch, als dazuzugehören.“ Denn es gilt nach wie vor: „Denk daran, dich zu benehmen, wir sind in diesem Land nur zu Gast.“ Dagegen hilft auch der bunte Trubel nicht, in und mit dem Tata seine Familie und seinen Freundeskreis über die Zeitläufte zu bringen versucht. Schließlich wird ihr als Zuflucht ein Platz in einem Internat zugedacht, das sie aber wegen Renitenz und Rauchen (mit dem nachmaligen Rolling-Stones-„Groupie“ Anita Pallenberg) verlassen muss.

Versucht man die Ballung dieses Lebens – wir sind immer noch in dessen Jugend, in der Hälfte des Buches – auch nur halbwegs zu greifen, wird klar, was es bedeutet, jung und fremd zu sein. Es wird klar, wie viel Energie jemand, der ja selbst so viel davon hat, aus dieser Spannung zu ziehen vermag: Nicht nur ist diese Lianne Kolf aus eigener Kraft zur Unternehmerin, zum „Büchermenschen“ geworden, sie hat vielmehr aus einer die junge Frau bedrängenden Not eine der reifen Frau zustattenkommende Tugend gemacht. Vielleicht ist es das Geheimnis der Kreativität schlechthin: Wer nicht weiter weiß, macht einfach weiter – und dann auch, was er/sie sich gar nicht hätte vorstellen können.

1960 wird die Familie in der Bundesrepublik eingebürgert, der Gedanke einer Rückkehr nach Siebenbürgen erweist sich endgültig als Illusion. Der unter der Phrase „Familienzusammenführung“ firmierende Rückkauf der Deutschen aus Rumänien nimmt seinen Lauf, Lianne Kolf aber wirft sich verwegen, ja „ziemlich exzessiv“ in die Strudel und Wirbel der Sechziger mit allen politischen, gesellschaftlichen, bis ins individuelle Liebesleben brandenden Schaumkronen und Wellentälern. Von diesen weiß die erwachsene, aber nicht abgeklärte Geschäftsfrau sehr eindrücklich, vor allem aber mit rückhaltloser Vehemenz zu erzählen. Die Dynamik jener Zeit hat sie sich nicht nur bewahrt, sondern ihr auch noch die – nicht immer leidlosen – Erfahrungen einer in Risikogeschäften, Freund- und Unfreundschaften gereiften, ja geprüften, aber niemals erbitterten oder gar verbitterten Frau beigegeben.

Wie man gleich nach der Wende auf Reiseführer setzt, weil man die in der untergegangenen DDR Eingesperrten als Zielgruppe ausmacht, wie man einen Patrick Süskind als potenziellen Erfolgsautor erkennt und von dem nicht mehr (an)erkannt wird, es gleichwohl weg- und als Lehrgeld einsteckt, wie man den Dschungel der Magazine durchforstet und professionelle Autoren darin pflanzt, wie man Zeitgeschichte gebührend würdigt, aber damit auch sein Geld verdient, wie man etwa die Gestalt der Anne Frank nicht in dem ungewissen Zustand als mythische Galionsfigur schmerzlicher Besinnung belässt, sondern durch Recherche greifbar macht, wie man den Spürsinn für den neuen Markt historischer Abenteuerromane entwickelt, das alles kann man lernen von Lianne Kolf.

Zugleich aber kann man lernen, dass es mit dem Lernen nicht getan ist. Man muss es auch leisten, bereit sein zu nichts weniger als der unablässigen Neuerfindung seiner selbst. Und dazu gehört ein Gespür, ein Bedürfnis und eine Bereitschaft, die unsereins nicht ohne weiteres mit ihr teilen kann: „Ich kann mir keinen anderen Beruf vorstellen, der einem die Möglichkeit bietet, so viele neue Sichtweisen kennenzulernen und immer am Puls der Zeit und mitten im Geschehen zu bleiben.“ Ob ein jedes von uns das mit der Intensität will, die diese, nun ja, Siebenbürgerin sich zeit eines stürmischen Lebens abgefordert hat, muss jede/jeder mit sich selbst ausmachen.

Immerhin gehört mehr denn Überschwang dazu, nach einer Hochzeit mit 750 Personen, die dann aus fiskalischen Gründen ein Mehrfaches kostet, zu sagen: „Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich wirklich schon die Schnauze voll habe von rauschenden Festen …“ Überschwang aber kann man sich bei Lianne Kolf einigen holen, und wenn er alles andere als siebenbürgisch-sächsisch ist, umso besser. Hier spricht eine der „Unseren“, die unser nie gewesen ist, von Dingen, die uns unvertraut sind, aber nicht fremd bleiben müssen. Wir dürfen uns freuen, sie erst recht sachte zu vereinnahmen und einzuvernehmen, ihr zuzuhören, zumal wenn sie demnächst gemeinsam mit ihrer Autorin Zoë Beck ein Drama (Causa Bălan) aufarbeitet, das sich in der Zwischenkriegszeit im Zeidner Waldbad abgespielt und in dem die Familie Kolf die tragische Hauptrolle gespielt hat.

Georg Aescht

Lianne Kolf: „Agentinnen gab es damals nur bei James Bond“. Von Bestsellern und Büchermenschen. Blanvalet, München, 2022, 271 Seiten, 22 Euro, ISBN 978-3-7645-0825-8.

Schlagwörter: Rezension, Zeiden, Literatur

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