14. Juli 2023

Otata, welches ist die Mehrzahl von Heimat?

Eine Kurzgeschichte von Dagmar Dusil
Dagmar Dusil bei einer Lesung im Frühling in ...
Dagmar Dusil bei einer Lesung im Frühling in Nürnberg. Foto: Inge Alzner
„Otata“, fragte der zehnjährige Oliver seinen Großvater, „Otata, welches ist die Mehrzahl von Heimat?“

Der Großvater stand am Fenster, ließ seinen Blick über die Dächer schweifen und blieb an der Spitze des Kirchsturms hängen. Ein dünner Strichregen vernebelte ihm die Sicht, und er dachte, dass es hier anderes regne als drüber, in der Heimat. Als Kind, im fernen Dorf hinter den Wäldern, liebte er den Regen, das gleichmäßige Geräusch in der Nacht auf das Dach des Hauses und die Hoffnung, dass es auch am nächsten Tag regne und er nicht zur Feldarbeit gehen müsste, sondern im Bett sich die Zeit mit einem Buch voller Abenteuer vertreiben könnte. Auch später begleitete ihn diese Vorliebe für den Regen, obschon er als Erwachsener aufstehen musste, um die Feldarbeit zu verrichten. In der neuen Heimat lebte er in der Stadt, und der Klang des Regens war ein anderer, und es roch nach dem Regen anders, daran konnten auch die vielen hier verbrachten Jahre nichts ändern. Er empfand den Regen im neuen Land als verheißungsärmer.

Oliver zupfte den Großvater, der aus seinen Gedanken aufschreckte, am Ärmel. „Wer will das wissen?“, fragte er Oliver, „das mit der Heimat und der Mehrzahl“? „Frau Singer, unsere Lehrerin“, erklärte Oliver. Und es gebe doch eine Mehrzahl von Heimat, da es allein in ihrer Familie schon zwei, Oliver vermied die Mehrzahl, davon gebe. Die der Großeltern und seine eigene Heimat. Und in seiner Klasse, Oliver begann in Gedanken zu zählen: die Olga, deren Familie aus Kasachstan kam, der Mirko, der mit seiner Familie aus Serbien geflüchtet war, Ali stammte aus dem Irak. Das waren drei, die ihm auf Anhieb einfielen, wobei er Giovanna vergessen hatte, die auch im Städtischen Klinikum der Stadt zur Welt gekommen war, nur ein paar Stunden nach ihm, doch ihre Familie kam aus Italien und betrieb eine Pizzeria in der Stadt und Yusufs Großeltern lebten in der Türkei, doch seine Eltern lebten hier und Yusufs Vater trainierte die Fußballmannschaft der Schule. Das waren wohl die Überlegungen Frau Singers gewesen, nach der Mehrzahl von Heimat zu fragen.

Oliver sah sich in der Wohnung der Großeltern um. Er hörte oft die Eltern sagen, dass der Großvater nicht glücklich sei, hier im neuen Land, dass er sein altes Leben vermisse, dass er seine Heimat vermisse, das Dorf zwischen den Hügeln, die Büffel, die Kühe, die abends über die breite Dorfstraße von der Weide heimkamen, gemächlich und zielstrebig die Tore anstrebten im exakten Wissen, dass dort ihr Zuhause war. Großvater vermisste die Gänse, die Enten mit den Küken, die abendlichen Gespräche mit den Nachbarn, wenn das Dorf in dem ausklingenden Tag Sommernächten entgegen sah. Er vermisste das Krähen des Hahnes am Morgen, wenn ein leiser Schleier den Morgenhimmel überzog und das Stamperl selbstgebrannten Schnaps am Abend. Die Weinreben im Hof mit den aromatischen Isabella-Trauben und den selbst gekelterten Wein, auch dem trauere der Großvater nach. Es fehlte ihm die Arbeit mit der Erde, die Zwiesprache mit den Pflanzen und Tieren, der hohe Himmel, der Weg am Sonntag zur Kirche.

Bei der Großmutter sei das etwas anderes, hörte Oliver die Eltern sagen. Frauen hätten es einfacher, hingen nicht so sehr am Gewohnten, seien anpassungsfähiger. Großmutter soll froh gewesen sein, der schweren Arbeit entflohen zu sein: sie vermisste nicht das tägliche Füttern der Schweine, das Gegacker der Hühner, das Ausmisten des Stalles, die Aufregung, wenn die Kuh kalbte. Sie arbeitete als Kassiererin im Supermarkt, ihr Chef lobte ihre Zuverlässigkeit, sie hatte für die Kunden ein offenes Ohr und ein freundliches Lächeln auf den Lippen. In ihrer Freizeit sang sie im Kirchenchor und war ehrenamtlich bei der Diakonie tätig.

Über Großvaters leises Unbehagen in der neuen Heimat wurde nicht laut gesprochen. Wie die Großmutter ging auch der Großvater in der neuen Heimat einer anderen Arbeit nach. Sehnsüchtig dachte er von Zeit zu Zeit an das früher so sehr gehasste Aufstehen in den frühen Morgenstunden und an die schwere Arbeit. Den Regen liebte er noch immer. Auch hier.

Oliver sah sich um. Bei den Großeltern war es wie im Museum. In der Küche stand ein Möbelstück, das die Großeltern Kredenz nannten, im Esszimmer befand sich eine Wohnwand aus Eichenholz, darauf hatten die Großeltern Wert gelegt, dass es eine Wohnwand aus Eichenholz sei, denn das Eichenholz erinnerte den Großvater an die tausendjährigen Eichen in seiner Heimat. Tausendjährige Eichen, das stelle sich einer vor, wurde er nicht müde Oliver zu erzählen, auf einem Hügel stünden sie, fest verwurzelt in der Erde, kein Sturm konnte ihnen in den tausend Jahren etwas anhaben, die Kronen berührten bei genauerem Hinschauen den Himmelsrand. Oliver war beeindruckt. Er sah, wie die Äste sich in riesige Arme verwandelten und die Wolken vom Himmel wegfegten. In dieser Wohnwand reihte sich Zinnkrug an Zinnkrug, alles von Großvaters Eltern geerbt und einmal würde Oliver die Zinnkrugsammlung erben. Oliver gefielen die Tonkrüge und Teller besser. Sie waren blau bemalt, mit Tulpen, die aus dem Krug zu wachsen schienen und mit Sonnen aus konzentrischen Kreisen. War in der Mitte der Sonne, so erklärte der Großvater, ein Radkreuz, so sollte das auf die Allmacht Gottes hinweisen. Und Lebensbäume gab es auf den Krügen, die aus Herzen wuchsen. Jeder Zweig trug eine Blüte als Voraussetzung für Leben und Fruchtbarkeit. Oliver nahm an, dass in Großvaters Heimat die Tulpen blau waren und dass aus allen Herzen Lebensbäume wuchsen. Und er schlussfolgerte weiter, dass vielleicht der Großvater aus diesem Grund im neuen Land nicht glücklich war, weil es hier keine blauen Tulpen gab und keine Lebensbäume aus den Herzen wuchsen, doch sicher war er sich nicht. Im Schlafzimmer hing über dem Ehebett der Großeltern ein Wandbehang, da stand etwas von süßer Heimat, und Oliver wurde es als kleiner Junge ganz schwindlig von den vielen kleinen bunten Kreuzstichen, die sieben Burgen darstellten, die die Großmutter in mühevoller Arbeit gestickt hatte.

Der Großvater schien müde zu sein. Er setzte sich in den Lehnstuhl, von dem er den Regen betrachten konnte, wiegte seinen Kopf hin und her und sagte nur: „Bub, Bub, das ist nicht so einfach mit der Heimat.“ Oliver wollte sagen, dass er doch nur wissen wolle, welches die Mehrzahl davon sei und dass eigentlich nicht er das wissen wolle, sondern Frau Singer. Für Oliver selbst war alles klar. Er war hier geboren, ging hier zur Schule und dieses Land war seine Heimat.

Der Großvater hatte noch lebhaft das Bild vor Augen, damals in jenem Sommer nach 89, nach der Revolution, als die Menschen überstürzt ihre Heimat verließen, von der großen Welt träumten, nur weg wollten. Die Dorfbewohner setzten sich an einem schicksalsschweren Sommertag in seinem Garten zusammen, es wurde aufgetischt, das Beste vom Guten, zartrosa Speck von dem vor Weihnachten geschlachteten Schwein, Regina, seine Frau, backte Grammelpogatschen, hier nennen sie die Grammeln Grieben, der zweite Nachbarn brachte Vinetesalat, der hier Auberginensalat heißt, und die rumänischen Nachbarn, die auch zum Treffen eingeladen waren, sozusagen als Zaungäste, denn bei ihnen ging es damals nicht darum, die Heimat zu verlassen, doch sie beteiligten sich am Treffen mit Schnaps und Krapfen, die in flüssigem gelben Fett gebacken wurden. Sie saßen alle am langen Holztisch auf solide gezimmerten Bänken, und heute schien es dem Großvater, als hätten sie sich in dem fernen Sommertag eingesponnen. Er nahm dieses Bild mit. Das Herz diente als Rahmen dafür. Gehen oder bleiben, lautete damals die Frage. Gehen oder bleiben, das sollte besprochen, das Für und Wider abgewogen werden. Die Zwetschgen reiften schon dem Herbst entgegen. Viel wurde diskutiert, auch darüber, dass sie die Heimat nicht verlassen könnten, obwohl es der Traum und der Wunsch seit vielen Jahren war. Doch nun sei doch alles anders, warf jemand ein. Der CeauȘescu tot und erschossen, neue Möglichkeiten stünden offen, doch könne man dem Kommenden trauen? Es wurde gesungen und getrunken. Der Honnes und der Misch saßen auf der Gartenbank unter dem Holunderstrauch, der die Ausmaße eines Baumes hatte und beflügelt vom spritzigen Wein und dem Selbstgebrannten, jeder mit einem imaginären Lenkrad in den Händen, ließen sie sich nach links wie in einer scharfen Kurve fallen und dann nach rechts, lachten und sagten, so werden sie im Volkswagen durch Deutschland fahren. Doch der Großvater dachte auch an den Honnes, der Jahre später den Sommernachmittag und die optimistischen Pläne vergessen hatte, in trüber Stimmung versank, Jahr für Jahr die alte Heimat besuchte und davon den Rest des Jahres zehrte. Bis es irgendwann ein Zuviel an Enttäuschung und Traurigkeit gab und seine Frau ihn an einem frühen Herbstmorgen, während eines Heimaturlaubes, als die Störche zu ihren Winterquartieren aufgebrochen waren, in dem Holunderstrauch, der hoch wie ein Baum war, neben den fast reifen Beeren hängend fand.

Auch der Pfarrer war bei dem Treffen dabei. Die Anwesenden erhofften sich ein klare Aussage, ein Übernehmen der Verantwortung, einen Zuspruch zum Verlassen der Heimat. Der Großvater erinnerte sich noch gut, was der Pfarrer damals gesagt hatte. Keine klare Aussage hatte er getroffen und dass jeder Einzelne die Verantwortung für sein Tun trage. Und dass dieses Dorf ihr Geburtsort sei, ihr Wohnort und der Ort ihrer Kindheit, der Ort, an dem sie ihre Toten begruben. Der Ort, wo die Freunde lebten und die Landschaft sie geprägt habe. Ihre Heimat sei hier und wenn sie wegzögen, sei ihre Heimat dort oder. Nichtgesagtes verflüchtigte sich. Hier und dort, ging es dem Großvater durch den Kopf. Und ihre Wurzeln, fuhr damals der Pfarrer fort, ihre Wurzeln lägen hier, tief in der Erde. Die würden nun gekappt werden und drüben, damit meinte er die neue Heimat, da hätten Luftwurzeln Chancen zu sprießen.

Was sollte der Großvater dem Bub antworten? Er war ein einfacher Mann, kein Studierter, er glaubte nicht, dass Heimat eine Mehrzahl hatte, grammatikalisch eine Mehrzahl hatte. Doch mit Heimat verband er viele Gerüche, wie den Geruch der nassen Erde nach dem Regen, an den er jetzt denken musste, als er zum Fenster hinaussah. Oder die Geräusche. Er erinnerte sich an den Klang der Glocken. Sie wurden bei Dürre im Dorf geläutet, um Regen zu bringen. Hier klangen die Glocken tragend und doch munter. Der Großvater dachte auch an die Vielfalt der Farben in den Wäldern. Nie mehr hatte er so satte Farben erlebt. Die Buntheit der Bäume hatte ihn stets trunken gemacht.

„Magst einen Schlehensirup, Bub?“ fragte der Großvater. Oliver nickte. Schlehensirup gab es nur bei den Großeltern. Der schien auch etwas mit Heimat zu tun zu haben. Warum wusste Oliver nicht so genau, denn auch hier, in seiner Heimat gab es Schlehenbüsche. Im Volksglauben hieß es, dass Menschen, die ihre Heimat verlassen haben, von ihnen abgehalten wurden, in ihre Heimat zurückzukehren. Das schienen jedoch die Schlehenbüsche in Großvaters alter Heimat nicht zu wissen, denn die Großeltern fuhren jedes Jahr einmal hin.

Der Großvater erhob sich schwerfällig aus dem Lehnsessel, ging in die Küche und kam mit einem Glas und einer Flasche Schlehensirup zurück. Er goss zwei Finger breit Sirup in das Glas und füllte es mit Sprudel auf. Oliver nahm einen großen Schluck und sagte: Es prickelt. Er wurde ungeduldig, da seine Frage noch immer unbeantwortet war. „Weißt Bub, Heimat, das Wort hat keine Mehrzahl, würde ja auch blöd klingen, Heimate oder Heimaten, doch in der Heimat selbst, ist ganz viel Mehrzahl drin.“ Oliver blickte den Großvater zweifelnd an und wollte wissen, was der Großvater damit sagen wolle.

„Schau dich um“, sagte der Großvater, „die Dinge, die Bilder, die Krüge und Kissen. Das ist Heimat. Doch auch die Lieder, die wir singen, der Geruch und der Geschmack des Essens, das Omama kocht, der Klang der Sprache, die wir sprechen. Doch auch das Viele, das wir nicht sehen, die Sehnsucht, die in uns wohnt, Gefühle und Kindheitserinnerungen.“ Er machte eine Pause. Er glaubte, dass Heimat nicht erklärt werden könne. „Hast du verstanden, Bub?“. Oliver nickte. Er dachte nach, was er Frau Singer sagen werde. Und das würde so lauten: Heimat hat keinen Plural, doch Heimat trägt sehr viel Plural in sich.

Schlagwörter: Erzählung, Erinnerung, Dagmar Dusil

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