28. Juli 2023

Früheste Kindheit literarisch verarbeitet: Eginald Schlattners neuer Roman „Brunnentore“

„Im äußersten Winkel des Obstgartens lag ein Wasserloch, das nie austrocknete, dessen Gewässer nie überflossen. Der Großvater nannte es ,blinden Brunnen‘, der Vater ,Tümpel‘, die Mutter mit leisem Zungenschlag ,Weiher‘. Für uns Buben war es das Brunnentor in rätselhafte Gründe. Mein kleiner Bruder hatte den Namen ausgebrütet.“ In seinem neuen Roman „Brunnentore“ (2023) greift Eginald Schlattner die Zeit seiner frühesten Kindheit auf, als die Familie von Mitte der 1930er Jahre bis zum Wiener Schiedsspruch 1940 in Szentkeresztbánya (Karlshütte) im Szeklerland lebte. Damit schließt der Autor die Reihe seiner autofiktionalen Romane, die sein gesamtes Leben umfassen und darüber hinaus ein Panorama des Lebens der deutschen Bevölkerung im Rumänien des 20. Jahrhunderts bieten.
Eginald Schlattner an seinem Schreibtisch in ...
Eginald Schlattner an seinem Schreibtisch in Rothberg, 2021. Foto: Traian Pop
Im Mittelpunkt steht das „erlebende Ich“ und damit die kindliche Sicht des Erzählers auf das Geschehen. Nur gelegentlich greift das „erzählende Ich“ ein, weist auf die Unzuverlässigkeit des Erinnerns oder auf spätere Ereignisse hin. „Vermutlich war es so, wie ich es niederschreibe. Doch denkbar: einiges anders. Aus den zerfransten Bildern der Vergangenheit schälen sich Begebenheiten, die Profil und Kontur begehren als das Erzählbare.“

Der Erzähler, noch im Vorschulalter, ist ein genauer, bedachter, manchmal altkluger Beobachter seiner Umgebung und der Menschen im Gegensatz zu seinem jüngeren Bruder Kurtfelix, dem „Zappelphilipp“ und Abenteurer. „Er begriff die Welt anders als ich. … Besonders wenn es um seine Abenteuer ging. … Schreckte nicht vor Kröten zurück, die er auf der bloßen Hand spazieren führte. Keineswegs ging er den gehörnten Kühen aus dem Weg, um die ich einen Bogen schlug.“

Gemeinsam durchstreifen sie ihre Umgebung, den großen Garten sowie den Ort, wo sich die Eisenwerke „Uzinele de fier Vlăhiţa“ befinden, und wo auch der Vater tätig ist. Er ist „Reiseingenieur …, der gewichtigste Beamte. Ihm oblag es, die Waren des Werkes an den Mann zu bringen. Als Reisevertreter war er dauernd auf Achse“ und somit nur selten zu Hause. „Den Vater sehe ich vage vor mir, eher eine legendäre Erscheinung, die kam und ging. … Gast im eigenen Haus? Von uns Kindern artig gemieden?“

Nach und nach entfremden sich die Eheleute, worunter die Mutter besonders leidet. Gertrud, die Mutter, widmet sich ihren künstlerischen Neigungen, töpfert, malt, webt, bastelt Schmuck. „Ein Hauch von Einsamkeit umgibt sie, ein Entrücktsein in andere Sphären. Unser Vater auf Reisen … Bis plötzlich jemand da war, der es durfte und schaffte: Nähe“ und der Gedichte vorlas. Und sie bezieht die Kinder in ihre Phantasiewelt mit ein, gestaltet die Wände des Kinderzimmers mit selbst erdachten Märchen. Von Engelbert, dem zweiten Bruder, erfährt der Leser nur wenig, er ist ein „Findelkind“, meist abwesend, ein Außenseiter, der nur am Rande zur Familie gehört und später tödlich verunglückt.

Der Haushalt wird von Katalin, der Haushälterin, und Anika, dem Dienstmädchen, geführt, unterstützt von der Nachbarin und deren beiden Töchter Irénke, in die er verliebt ist, und Ildikó. Gemeinsam machen sie auch ihre ersten sexuellen Erkundungen.

Zur Großfamilie gehören auch die Großeltern mütterlicherseits, Bertha und ihr Mann Hans Hermann Ingo Goldschmidt, die in Hermannstadt leben, aus Freck stammen und dort eine Apotheke hatten. Sie stammt aus einer adligen Familie, sie sprechen nur hochdeutsch und legen Wert auf „feines Benehmen“. Der Großvater „auf keinem Foto anders als mit Fliege, der noblen Krawattenschleife. … Mit vierzig hat euer galanter Großvater beschlossen, krank zu sein für den Rest seines Lebens. Und hat keinen Finger mehr gerührt für die Familie.“

Griso, die Schlattner-Großmutter, stammt ebenfalls aus Freck und lebt mit ihrer Tochter, der Malytante, in der Tannenau bei Kronstadt. „Diese Großmutter, sie war eine schöne Frau, aber keine Dame.“ Die Malytante, einzige Schwester des Vaters, ist 18 Jahre älter als die Mutter, neugierig und taucht unerwartet auf und mischt sich überall ein. „Sie nahm sich kein Blatt vor den Mund, wenn es um die aufgestöberte Wahrheit ging. … Na bitte, die Ehebetten stehen noch nebeneinander! ... Wenn es soweit ist, kommen die Buben zu uns!“

Im Hochsommer kommen Gäste auf „Sommerfrische“ zur Familie nach Szentkersztbánya, so dass ein ausgelassenes Treiben im Haus herrscht. Zu den Gästen kommen am Abend auch Bekannte aus der Kolonie, Ingenieure, Techniker und Beamte der Eisenwerke.

An einen ganz besonderen Besuch erinnert sich der Erzähler, als der jüngere Bruder des Vaters, der Hermannonkel aus dem Banat, mit seiner Frau, der Mäditante, und den beiden Kindern Erika und Heinz sie besuchen. Erika Waltraut beindruckt besonders durch ihr Französisch, das sie mit ihrer Mutter spricht. Heinz jedoch, ein nicht zu bremsender Zappelphilipp, entspricht mit seinem Benehmen so gar nicht den Gepflogenheiten des Hauses, zumal ihm alles zugestanden wird. „Die Erwachsenen saßen wie Ölgötzen da … Unser Bruder handelte. Er nahm das Heft in die Hand. Noch genauer: den Löffel. Damit fuhr er dem zügellosen Vetter in die Parade.“ Der Erzähler erinnert sich aber auch an die Zeit später, als er aus der Haft entlassen wurde und ihm sein Cousin Heinz seine Garderobe schickt, er „staffierte mich aus von Kopf bis Fuß“ und ihm seine Cousine eine Stelle besorgt.

Im Ort wird der Erzähler von den ungarischen Spielkameraden „mit respektvoller Liebenswürdigkeit aufgenommen“, nicht zuletzt, weil er ungarisch spricht, auch wenn er nicht dazugehörte, wie er selbst sagt. „Während jener Jahre in Szentkeresztbánya haben wir nie ein rumänisches Wort vernommen.“ „Hier im Szeklerland hört die Walachei auf!“, so die Malytante.

Zur Faschingszeit verkleidet ihn seine Mutter als Chinesen und schickt ihn, die Leute in den Häusern und Hütten zu besuchen. „Allenthalben bot sich das nämliche Bild, Grau in Grau …“ So erhält er einen Einblick in die Welt der Arbeiter. Er geht auch zur Villa des Werkdirektors Elefterescu, wo er einer ganz anderen Welt begegnet. „Vieles war hier wie bei uns. Und doch sehr anders. Eine Schuhnummer zu groß für unsereins …“

Bilder von der „Sommerfrische“ in Freck rufen Erinnerungen an die Familien- und Zeitgeschichte wach. Hier erlebt den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, als er zu früher Stunde aus dem Bett geholt wird. „Geblieben ist mir nur das endlose Getöse von Sirenen und Kirchenglocken.“

Durch die Malytante begegnet er auch der fortschreitenden Nazi-Ideologie, dem Hitlergruß, dem Ziel eines Deutschen Reichs ohne Juden. Hier besucht er die „Goldschmidtischen Damen“, die beiden befremdlichen Großtanten, die in ihrer eigensinnigen Welt leben. Sie lassen sich maßgeschneiderte Särge schreinern, die sie dann ausprobieren und der Selbstmord des Bruders wird als ehrenhafter Tod im Duell dargestellt. Doch auch vor dieser abgeschiedenen Welt macht das Zeitgeschehen nicht Halt. Während der feierlichen Eröffnung des neuen Schuljahres stürmen ein Trupp SS-Jugendlicher lautstark die Veranstaltung. Dem Ereignis wird aber keine weitere Bedeutung beigemessen. „Das ist eine neue Mode aus dem Reich. … Lange wird es nicht dauern.“

Doch bereits früher weist der Erzähler auf den aufkommenden Nationalsozialismus und Antisemitismus hin, als im Kränzchen der Mutter sie die jüdische Ehefrau des Werkdirektors einlädt, und diese von den anderen ausgeschlossen wird. Auch in der Sprache werden die Veränderungen deutlich, wenn Fremdwörter verbannt werden, wenn aus „Bizykel“ das „Zweirad“, aus „Pyjama“ „Schlafanzug“ oder dem „Pot de chambre“ der „Nachttopf“ wird. Doch die sprachlichen Veränderungen gehen weiter, „Machtergreifung“, „Führerstaat“, „Totenkopfstandarte“, „Sturmabteilung“ zeigen bereits die aufkommende Aggressivität. Auf Unverständnis bei den Buben stoßen Wörter wie „Gesichtserker“ statt „Nase“ oder „Flatulenz“ statt „Furz“.

So werden die persönlichen Erinnerungen in einen Rahmen geschichtlicher und zeitgeschichtlicher Ereignisse eingebunden.

Der Roman schließt mit dem Wiener Schiedsspruch 1940, in dem Siebenbürgen zwischen Ungarn und Rumänien aufgeteilt wird. Szentkersztbánya fällt an Ungarn und die Familie des Erzählers, die für Rumänien votiert hatte, verlässt fluchtartig den Ort, um nach Kronstadt zu ziehen. Mit satirischen Mitteln werden hier die politischen Entscheidungen ad absurdum geführt.

Im Pfarrhaus in Draas wird festgestellt, „bei der neuen Grenzziehung … sei das Plumpsklo in Rumänien geblieben. Mit Sondergenehmigung müssen nunmehr die Pfarrersleute die Notdurft im Ausland verrichten.“

„Die Grenze bestand aus drei Ackerrinnen“, und diese trennen jetzt den Vater, der auf rumänischer Seite wartet, von der Mutter und den Kindern. Kurtfelix löst den Konflikt, indem er ungesehen einen herrenlosen Traktor Richtung Grenze in Bewegung setzt. Am Ende zitiert der Erzähler drei Strophen aus der „Hymne der Siebenbürger“, der einzigen, in der auch der anderen Völkerschaften gedacht wird: „Sei gegrüßt in deiner Schöne/ Und um alle deine Söhne/ Schlinge sich der Eintracht Band.“

Mit „Brunnentore“ schließt Eginald Schlattner nicht nur die letzte Lücke der literarischen Verarbeitung seines Lebens, sondern bietet ein Panorama des Lebens der rumäniendeutschen Bevölkerung in den 1930er Jahren am Beispiel Szentkersztbánya im Szeklerland, Freck und Hermannstadt, eingebettet in die geschichtlichen Ereignisse und Umbrüche der Zeit.

Alfred Schadt

Eginald Schlattner: „Brunnentore“. Pop Verlag, Ludwigsburg, 2023, 320 Seiten, 25 Euro, ISBN 978-3-86356-399-8.

Schlagwörter: Rezension, Schlattner, Roman, Pop Verlag

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