30. Juli 2023

Doppelter Grattanz: Zur Neuerscheinung „Zwischen zwei Welten – Geschichten eines Frauenarztes“

Um gleich den Titel zu erklären: Die eine Welt ist der sozialistische Osten, das Rumänien unter dem Diktator Nicolae Ceaușescu, dem Sohn der Sonne – bis 1989. Die andere Welt ist der kapitalistische Westen, repräsentiert durch die Vereinigten Staaten von Amerika. Sângeorzan lebte in beiden Welten als Arzt. 1954 in Bistritz geboren, emigrierte er 1990 in die USA und lebt in New York, wo er als Facharzt für Geburtshilfe und Gynäkologie tätig ist. Er ist Lyriker, Prosaschriftsteller, Essayist und Publizist.
In der Welt, in der Sângeorzan geboren wurde und aufwuchs, Jugend, Studium und seine Anfänge im Arztberuf erlebte, war der Himmel auch noch in anderer Weise geteilt: Auf der einen Seite das private Leben, Familie, Freunde, Liebe; auf der anderen das politisch eingefärbte Leben mit ideologischer Bevormundung in Schule, Studium und im staatlich organisierten Medizinwesen. Um in beiden Welten unverletzt leben zu können, mussten alle zwischen den zwei Welten den Tanz auf dem Grat beherrschen, ohne in Abgründe abzustürzen. Man musste sich intelligent mit der Macht arrangieren, ohne sich dabei selbst zu erniedrigen oder zu verleugnen, und das hieß auch: verbotene Wege gehen, die Menschlichkeit ermöglichten, dem Staat und seinen ideologischen Gesetzen gehorchen und trotzdem das menschlich Vernünftige durchsetzen.

Im Land des Großen Kommandanten war Abtreibung verboten – die Bevölkerung sollte wachsen. Die Antibabypille als Verhütungsmittel gab es nicht. So kam es oft zu gefährlichen und manchmal auch tödlich endenden Selbsteingriffen. Sângeorzan, der sich durchaus in der Hauptsache als Geburtshelfer verstand, stand vor der schier unlösbar erscheinenden Aufgabe, schwangeren Mädchen und Frauen zu helfen, deren Existenz als alleinstehende Mütter mit unehelichen Kindern so gut wie zerstört war. Der Autor schildert in anschaulichen, oft sehr spannenden Episoden einige solche Fälle. Er erzählt darin von der Notwendigkeit, dass in einem Staat, in dem die Mehrheit ein materiell armes Leben führte, Liebe und sexuelle Freude als Gegengewicht zur Härte des Lebens im ungewollten Sozialismus wichtig waren. Bordelle wurden martialisch kontrolliert – Ärzte standen immer in der Gefahr, von Kollegen denunziert zu werden, wenn sie bei der Kontrolle nicht streng durchgriffen.

Im Frühjahr 1986 explodierte der Atomreaktor im sowjetischen Tschernobyl (Ukraine). Ostwinde wehten die Radioaktivität ins benachbarte Rumänien. Sângeorzan erzählt die berührende Geschichte seines Großvaters, der in Unkenntnis der Gefahr, die von der radioaktiven Verseuchung ausging, weiter auf seinem Kartoffelacker arbeitete. Da viele Rumänen schon lange nicht mehr glaubten, was der Staat verlautbarte, ignorierten sie auch die Warnungen vor Radioaktivität. Zwei Jahre später bekam der Großvater Blutkrebs und starb daran.

„Unser Traum war damals ein Pass oder eine Fluchtmöglichkeit. ‚Ich habe meinen Pass bekommen, Junge‘, sagte er mir lächelnd. Er starb im Winter, draußen herrschte eine schreckliche Kälte. Die Erde war stockgefroren, und sechs Männer wechselten einander ab, um ihm einen Platz unter der Erde zu schaffen. Hätte er noch zwei Jahre gelebt, er hätte das Ende des Kommunismus gesehen und seinen so sehr geliebten Boden zurückbekommen.“ Es kam außerdem zu embryonalen Missbildungen während der Schwangerschaft, bedingt durch die radioaktive Strahlung, es gab Totgeburten und lebensunfähige Missgeburten, die der Staat verschwieg aus Loyalität zur Sowjetunion.

„Wir alle wussten von der Todesschublade auf der Neugeborenenstation. Ein ernsthaft missgebildetes Neugeborenes ... das als rettungslos galt, wurde ... in eine Schublade gelegt, die hermetisch verschlossen wurde.“ (S. 330)

Der zweite Grattanz: Als Sângeorzan 1990 in die USA emigrierte, ahnte er noch nicht, dass ihm erneut ein beruflicher Balanceakt zugemutet würde. Er dachte: Amerika, du hast es besser – du bist ein demokratisches Land, in dem die Menschen frei leben. Da müssten doch dann auch die Grenzen leichter zu überwinden sein ... Und so eröffnet Sângeorzan sein Buch mit folgender Episode: Er unternimmt mit seiner Frau und Freunden einen Ausflug zu den Niagarafällen. Dabei gerät er auf die kanadische Seite, wo er sich die kanadischen Wasserfälle anschaut. Er hatte das Staatsterritorium der USA verlassen und war somit eingereist nach Kanada. Bei der Wiedereinreise in die USA stellten die Grenzbeamten fest, dass Sângeorzan, der noch kein US-Staatsbürger war, nur ein einmaliges Einreisevisum für die USA besaß, das ja nun verbraucht war. Er musste sich von seiner Frau und den Freunden verabschieden und in Kanada bleiben – ausgeliefert an kafkaeske Zustände im bürokratischen Grenzdschungel. Tage, Wochen, Monate vergingen, bis er wieder in die USA zurückreisen durfte. Er erkannte: Auch im goldenen Westen waren die Grenzen problematisch.

Aber nicht nur die Grenzen, sondern auch die gesellschaftlichen Verhältnisse. Die US-Demokratie ist oligarchisch organisiert und neigt hin und wieder zu ochlokratischen Phänomenen, nicht erst seit unseren Tagen mit Demagogen à la Donald Trump. Die Gesetze in den Bundesstaaten waren unterschiedlich. Abtreibung war (und ist) auch in den USA ein großes Problem. Religiöse Motive flossen in gesetzliche Abtreibungsverbote. Und nun sah sich Sângeorzan wie schon in Rumänien erneut konfrontiert mit staatlicher Moral, die ins Privatleben eingriff. Und wieder wurde er zum Anwalt der Frauen, so gut er konnte. Und wieder erzählt der Autor ergreifende Szenen aus seiner gynäkologischen Arbeit. Ein sehr lesenswertes Buch.

Ulrich Bergmann

Adrian Sângeorzan: „Zwischen zwei Welten – Geschichten eines Frauenarztes“. Aus dem Rumänischen übertragen und mit Anmerkungen versehen von Michael Astner. Kartoniert. Mit Schutzumschlag (bedruckt). Reihe Epik, Bd. 134, Traian Pop Verlag, Ludwigsburg, 2023, 417 Seiten, 25,00 Euro, ISBN 978-3-86356-358-5.

Schlagwörter: Rezension, Pop Verlag

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