3. Oktober 2008

Exzellentes literaturgeschichtliches Kompendium: Sienerths südosteuropäische Studien

Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit – so lautet die Redewendung – wird der 1979 zum Doktor promovierte, vor wenigen Jahren zum Honorarprofessor ernannte Philologe, Direk­tor des Instituts für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas und Lehrbeauftragte der Ludwig-Maximilians-Universität in München, Stefan Sienerth, der letzte All-round-Chronist der Literatur sein, die man einst die siebenbürgisch-sächsische nannte.
Das bewies der Literatur­historiker eindrucksvoll – sofern es eines zusätzlichen Beweises bedurfte – mit den in diesem Jahr im IKGS-Verlag München erschienenen zwei Bänden „Studien und Aufsätze zur Geschich­te der deutschen Literatur und Sprachwissenschaft in Südosteuropa“.

Die insgesamt fast 800 Buchseiten zählende Sammlung wird von Stefan Sienerth im Vorwort des ersten Bandes mit dem Satz eingeleitet: „Was hier in zwei Bänden gebündelt wird, ist Teil meiner über mehr als drei Jahrzehnte erstreckten Beschäftigung mit der Geschichte der deutschen Regionalliteraturen in Südosteuropa und der siebenbürgisch-sächsischen Lexikografie.“ Zu den behandelten Regionalliteraturen zählt Sienerth Siebenbürgen, das Banat, die Batschka und die Bukowina. Von den fast 50 Texten unter­schiedlichen Umfangs sind über 30 siebenbürgischen Themen gewidmet, seien dies Autoren, Autorenverhältnisse, Epochenüberblicke, Lite­raturperiodika, Lexika, Würdigungen, Beiträge memorialistischer Natur o. Ä.

Wird in Band I das 17. und 18. Jahrhundert beleuchtet, so in Band II das 19. und 20. Jeder Band enthält Personen­re­gister nebst Quellenhinweis. Die unterschiedliche Tonlage der Beiträge geht auf die Anlässe zurück, denen sie das Entstehen verdanken: Vor­träge oder für wissenschaftliche Anthologien erarbeitete Texte. Alle Beiträge jedoch tragen das Gütesiegel Sienerthscher Prägung: flüssiges Deutsch, Klarheit der Darlegung, Gründlichkeit des Quellenstudiums und Unumwundenheit der Aussage.

Stefan Sienerth leitet den ersten Band unter dem Titel „Deutsche Literatur in und aus Süd­osteuropa als Forschungsgegenstand – ein Para­digmenwechsel?“ mit einer richtungweisen­den Überlegung vor dem Hintergrund der politischen Neuformierung Europas ein. Ob – so lautet seine Frage – die bisher verwendeten Betrachtungs­muster der auslanddeutschen Li­te­ratur„enkla­ven“ vor diesem Hintergrund beibehalten oder zugunsten umstandsangemessener neuer aufge­geben werden müssen? Sind Termini wie „rumä­niendeutsche“, „ungarndeutsche“ etc. Literatur in einem Europa der inneren Vernetzungen, des gemeinsamen Kulturgesprächs, der übernationalen Wertewahrnehmungen noch verwendbar, ohne an den Fakten vorbeizureden?

Er stützt sich dabei auf Gedanken des in Fach­kreisen seit Jahrzehnten hochgeachteten, lange Jahre an der Innsbrucker Universität lehrenden serbischen Komparatisten Zoran Konstantinović, der schon vor zwei Jahrzehnten den Standpunkt vertrat, die Rezeption der Literatur deutscher Minderheitengruppen Südosteuropas „weiter zu fassen und allgemein ,die deutsche Komponente‘ im ,räumlich-geistigen Gefüge‘ Südosteuropas“ zu registrieren und zu werten. Wie sehr sich diese Erwägung gerade den hervorragenden Kulturbeobachtern im Südosten nicht erst heute aufdrängt, erfuhr ich – die persönliche Klam­mer sei um der Sache willen gestattet – bei der Präsentation der ru­mänischen Fassung meines Romans „Der Tanz in Ketten“ 1994 in Bukarest, als Rumäniens ehemals erster Literaturhistori­ker, Romulus Muntean, das Buch ohne Um­schweife auch als Werk der rumänischen Lite­ratur reklamierte. Sienerths ebenso fesselnde wie genaue Ausführungen sollten nicht zuletzt Anregung für deutsche Literaturhistoriker sein, die mit Einordnungen vergleichbarer Art schwer, unbeholfen und ängstlich umgehen.

Grundlegende Gedanken macht sich der 60-jährige Literaturhistoriker aber auch zur Zwei­sprachigkeit im Literaturleben Südosteuropas, wenn er über „Siebenbürgisch-deutsche Au­toren im Umgang mit dem Rumänischen“, über „Fun­damentalistische Muster in der siebenbürgisch-deutschen Literatur“ oder die „Oszillation zwischen Literatur- und Sprachwissenschaft“ bei Karl Kurt Klein (alle Band I) spricht. Erst recht, wenn er sich – immer noch – heikler Themen annimmt wie etwa der Frage nach Adolf Me­schendörfers und Heinrich Zillichs Verhalten „im Literaturbetrieb des ,Dritten Reichs‘“, ein Gegenstand, dessen sachliche Berüh­rung noch bei Heinrich Zillichs Tod (1989) gewissen Leu­ten Anlass zum Aufschrei bot, oder wenn er – gleichsam auf der anderen Seite der Medaille – „Autorenbriefe und -texte an die Redaktion der ,Neuen Literatur‘ Bukarest“ nicht ohne gelegent­liche Ironie auf ihre „Rituale, Normen, Stereo­type“ hin unter den Auspizien des kommunistischen Literaturbe­triebs untersucht (beide Band II). Dass er im Zeichen der „Begegnung ästhetischer Wertsys­te­me“ eine Porträtskizze Adolf Me­schendörfers über den eine Generation älteren Traugott Teutsch zum ersten Mal veröffentlicht, ist für Fachleute aufschlussreich. Dass er aber wenige Seiten danach Erwin Wittstocks umfang­reichen wie verzweifelten Brief von 1950 an Alfred Margul-Sperber in Auszügen abdruckt und kommentiert, wird für jeden, der jene Nach­kriegsepoche unter der Bukarester Diktatur bewusst erlebte, zum aufwühlenden Lektüre­ereignis (beide Band II).

Davon abgesehen klingt im zweiten Band dieses exzellenten Kompendiums deutscher Litera­tur- und Geistesgeschichte im Südosten die gleichsam kopfschüttelnde Feststellung an, dass es selbst heute noch nicht möglich sei, mit wissenschaftlicher Unbelastetheit an Themen der jüngeren Vergangenheit – Autoren wie deren Werke – heranzugehen, ohne sogleich die von der Zeit im Grunde überholten ideologischen Eiferer am Hals zu haben. Sienerth stellt in diesem Zusammenhang die „evidenten Parallel­erscheinungen zwischen der ,braunen‘ und der ,roten‘ Diktatur“ fest – was laut deutscher political correctness tunlichst zu meiden ist – und schreibt: „Zum einen widersetzten sich die mit­implizierten Autoren und deren Verehrer, Anhän­ger und Nachkommen einer kritischen Beschäf­tigung. Zum anderen bestimmten marxistisch orientierte Literaturwissenschaftler, wie diese zu erfolgen habe“ (Band II, S. 191). Auch solche Anmerkungen gehören zur eingangs anerkennend genannten Klarheit und Unumwundenheit der Ausbreitungen Sienerths auf den rund 800 Seiten seiner literatur- und sprachgeschichtlichen Untersuchungen: Sie weisen auf Blockaden wissenschaftlicher Erkenntnismöglichkeiten im Bereich der Germanistik im Allgemeinen hin, die im Ausland längst als lästig, wenn nicht gar als lächerlich empfunden werden.

Stefan Sienerths Analysen sind nicht allein dem literaturhistorisch Interessierten zu empfehlen, sondern jedem, der zu Überblick und Einordnung kultur- wie geistesgeschichtlicher Panoramen im Südosten unseres Erdteils fähig sein will.

Hans Bergel

Stefan Sienerth: „Studien und Aufsätze zur Ge­schichte der deutschen Literatur und Sprach­wissenschaft in Südosteuropa“, Verlag des Instituts für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, München, 2008, I. Band, Reihe B, Band 112, 391 Seiten, 25,00 Euro, ISBN 978-3-9809851-8-0; II. Band, Reihe B, Bd. 113, 399 Seiten, 25,00 Euro, ISBN 3-9809851-9-9.

Schlagwörter: Rezension, Literaturgeschichte, Südosteuropa, IKGS

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