31. Januar 2009

Dichter verstört Zöllner

Die Totenmaske des 2006 verstorbenen Dichters Oskar Pastior erhält einen Ehrenplatz in der Siebenbürgischen Bibliothek in Gundelsheim. Beim Neujahresempfang des Siebenbürgisch-Sächsischen Kulturrates am 10. Januar auf Schloss Horneck hat Peter Pastior, Bruder des Verstorbenen, im Namen der Familie das Abbild des Dichterantlitzes den siebenbürgischen Institutionen in Gundelsheim übergeben (die Siebenbürgische Zeitung berichtete). Bei diesem Anlass nahm der Germanist Prof. Dr. Horst Schuller eine Würdigung des aus Hermannstadt stammenden Georg-Büchner-Preisträgers 2006 vor. Diese Gedenkrede wird im Folgenden ungekürzt wiedergegeben.
Im ersten Schritt dieser ritualisierten Ehrerbietung an den verstorbenen Dichter Oskar Pastior und aus dem verständlichen Wunsch heraus, die Einzigartigkeit der schöpferischen Persönlichkeit des im Alter von fast 79 Jahren Verstorbenen zu bezeugen und zu würdigen, entstand die Abformung seines erstarrten Gesichtes. Als Ergebnis liegt sein für die Nachgeborenen nunmehr letztes Antlitz vor. Der Familie ist zu danken, dass sie ihre wohl vorhandene Scheu zu überwinden wusste und der Nachwelt neben allen anderen Lebenszeugnissen des Autors auch dieses Zeichen körperlichen Hinscheidens erhalten hat.

Ein großer Schritt für meine Menschheit

Dieser Gesichtsabdruck, entstanden als eine in der Tradition von Jahrtausenden stehende Form der Trauerarbeit und Erinnerungskultur, wurde nun in einem weiteren Schritt dem Siebenbürgen-Institut auf Schloss Horneck in Gundelsheim/Neckar und seinen Einrichtungen zur Bewahrung übergeben. Mit welcher Funktion? Dient die Maske als museales Zimmerdenkmal? Als Reliquien ähnliches, kostbares Erinnerungsstück? Als Vorlage für Kunstobjekte, für künftige Porträtplastiken, Bildnisse oder Büsten? Als anschauliches Unikat in einer geistigen Ahnengalerie? Als ein aus Siebenbürgen stammendes teures Andenken von überlokaler, universaler Bedeutung? - Ja, alle diese Aufgaben, Bedeutungen oder Teilwirkungen mag man ihr zudenken. Aber vielleicht sehen wir Pastiors Totenmaske auch als ein des Schutzes und der Zuneigung bedürftiges Zeugnis verletzlichster Privatheit, tiefster Intimität, die an diesem Ort der Bewahrung und Verehrung, aber auch der Wissenschaft den Zufällen, Trägheiten und Vereinfachungsbedürfnissen jener Öffentlichkeit weniger ausgeliefert ist, die Pastior für sich als „Kummerkasten“ bezeichnete.

Prof. Dr. Horst Schuller bei seinem Vortrag in ...
Prof. Dr. Horst Schuller bei seinem Vortrag in Gundelsheim. Foto: Werner Sedler
Oskar Pastior hat wenige Tage vor seinem am 4. Oktober 2006 erfolgten Tod in einem Interview anlässlich der Frankfurter Buchmesse einen Fernsehmoderator verwirrt, als dieser den Dichter auf dem offiziellen blauen Messe-Sofa nach der Wirkung befragte, welche die bevorstehende Verleihung des berühmten Georg-Büchner-Preises, sozusagen des deutschen Literaturnobelpreises, auf ihn ausübe?

Pastior zögerte und erwähnte die Belastung, welche vereinnahmende „Repräsentativität“ für ihn bedeute, er empfände es als Überforderung, wenn er als Autor für mehr als nur für sich da sein und gerade zu stehen habe.

Mit ein Grund für sein Wegbleiben aus Bukarest im Herbst 1968 war Pastiors Erfahrung schleichender und drohender Fremdbestimmung, die zunehmende Tendenz der damaligen literarischen Öffentlichkeit, ihn in eine Vertreterrolle zu drängen, sich seiner wie ein Aushängeschild zu bedienen, ihm letzten Endes eine bestimmte Lebensmaske aufzuzwingen. Mit Lockungen, aber wohl auch mit dem Zeigen der Instrumente, unter denen die Realismuskeule nicht fehlte. Das fluchtartige Verlassen dieser ihm von den Ideologen der Macht zugedachten Bahn sei, so Pastior, „ein großer Schritt für meine Menschheit“ gewesen. Damit meinte er wohl den Schritt aus der Gefährdung in die erhoffte Freiheit, kompromisslos und in ureigenster Verantwortung seinen Gaben und Neigungen gemäß leben zu dürfen.

Wie sah dieses Leben in „karger und stolzer Freiheit“ (Dieter Roth) von außen aus? Der Kritiker Benedikt Erenz erinnert sich: „Geld hatte er wenig. Er lebte in einem einzigen großen Zimmer in [West-] Berlin, ging oft auf Lesereise durch Deutschland und Europa, das Publikum hing ihm an den Lippen.“

In seinem Testament verfügte der Dichter, dass nach seinem Tod eine Stiftung einzurichten sei, die über sein Vermögen, das heißt vor allem über seine Urheberrechte, aber auch über Manuskripte, Nachlass und Kunstwerke zu bestimmen habe. Aufgabe dieser „Oskar Pastior“-Stiftung sei es außerdem, einen Preis an Autoren zu verleihen, die - ähnlich wie Pastior selbst - in der Tradition der konkreten experimentellen Poesie der Wiener Gruppe, des Berliner Colloquiums und der internationalen OULIPO-Schriftstellergruppe stehen.

Das Wort Totenmaske weist auf Endgültiges und zugleich in dieser unerbittlichen Endlichkeit auf Erstarrtes hin. Der Kulturphilosoph Walter Benjamin hat in einem polemischen Zusammenhang geäußert, manches Mal, das heißt im missglückten Fall, sei das Werk nur noch „die Totenmaske der Konzeption“.

Eine Totenmaske mit ihren Linien, Wölbungen, Runzeln, Tränensäcken, mit Kummerfalten und Lachfältchen kann wohl kaum allein das geistige Erbe eines Verstorbenen als schlüssiges Siegel festhalten, wie einfühlsame Maskeninterpreten gerne behaupten. Das Erbe ist im überdauernden Werk selbst zu finden. Also in den Büchern von Pastior, welche einzeln und als Werkausgabe auch von der Siebenbürgischen Bibliothek gesammelt werden.

Welches waren die Umstände, unter denen dieses Werk entstand? Pastior hat sich als Monstrum an Heimwehlosigkeit, aber nicht an Wurzellosigkeit bezeichnet. Unverlierbare Heimat war ihm nicht ein fester, ein begrenzter Ort, sondern die Sprache, die sich unter verschiedenen Meridianen, in ihm gegebenen lebens- und zeitgeschichtlichen Erfahrungsfeldern, in einem, wie er schrieb, „ganz bestimmten Mengen- und Schichtverhältnis im Kopf angesammelt hatte: [...] die siebenbürgisch-sächsische Mundart der Großeltern; das leicht archaische Neuhochdeutsch der Eltern; das Rumänisch der Straße und der Behörden; ein bissel Ungarisch; primitives Lagerrussisch; Reste von Schullatein, Pharma-Griechisch, Uni-Mittel- und Althochdeutsch; angelesenes Französisch, Englisch... alles vor einem mittleren indo-europäischen Ohr“.

Oskar Pastior, in seinem letzten Lebensjahr. ...
Oskar Pastior, in seinem letzten Lebensjahr. Foto: Armin Pongs
Als Kenner des Rumänischen hat er unter anderem aus Lucian Blaga, Tudor Arghezi, Urmuz, Tristan Tzara, Marin Sorescu und in den letzten Jahren vor allem den Surrealisten Gellu Naum übertragen. Die mundartlichen und umgangssprachlichen Ausdrücke und Redewendungen, die zahlreichen Transsylvanismen, von Michael Markel übersichtlich in der Zeitschrift „Akzente“ interpretiert, hat er nicht als komische Effektknaller gewählt, sondern gegen falsches Pathos sozusagen als „antiideologische Partikel“ eingebaut, wie Pastior in einem Gespräch mit Edith Konradt, seiner treuesten Interpretin, betonte. Siebenbürgisches war für ihn das Unterschiedene, war die Differenz als erfahrene Normalität, sein Siebenbürgertum schloss Weltbürgertum nicht aus.

Auch die äußere Erscheinung der verewigten Persönlichkeit lässt sich nicht in Masken bannen, sie setzt sich aus der Vielzahl überlieferter, sich ergänzender und relativierender Bilder zusammen. Wir leben in einer Zeit, die sich Bilder macht wie kaum eine andere Zeit davor. Das hat neben allerlei Gefahren und Nachteilen voreiliger Fixierung auch seine Vorteile. So wird man zum Beispiel Pastiors Kindheitsfotos neben jene Aufnahmen halten können, die den jungen Mann mit schwarzem Schnauzbart und Rimbaud-Locken oder ihn später mit Augengläsern in robustem Brillenrahmen zeigen. Es gibt bewegte Bilder von ihm, Fernseh- und Filmaufnahmen.

Seine ersten Texte schrieb der mit siebzehn Jahren zur Zwangsarbeit Deportierte im Lager Kriwoj-Rog auf Fetzen von Zementsäcken. Heute befinden sich diese Schreibspuren in Vitrinen des Marbacher Literaturarchivs. Ein Antiquar erstand diese Papierfetzen in Bukarest aus fragwürdiger Quelle und bot sie geschäftstüchtig dem Marbacher Archiv zum Kauf an. Pastior wurde gebeten, von Berlin nach Marbach zu kommen, um ihre Echtheit zu bezeugen. Sie waren echt, der Antiquar, der neue Besitzer, kassierte das Geld, Pastior, der Autor, ging leer aus, ja, er durfte sich diese Reise nach Marbach selbst bezahlen.

Pastiors eigentliches Debüt, das heißt der erste Gedichtband, mit dem er zufrieden gewesen wäre, es handelt sich um seinen dritten („namenaufgeben“), wurde nach seinem Wegbleiben 1968 vom Bukarester Staatsverlag - den Bräuchen jener Zeit und dem „extrem kontinentalen Klima“ (O. Pastior) entsprechend - eingestampft.

Neben Gedächtnisstützen wie Maske, Bilder und Bücher gibt es zudem faszinierende Tonaufzeichnungen, die etwas von der musikalischen Sinnlichkeit seiner Dichtungen und der präzis gesteuerten Vortragsstimme des Autors ahnen lassen. Es gibt in Druck- und Tonmedien Berichte von Begegnungen, es gibt Gespräche, Porträts. Eines der anrührendsten Erinnerungsporträts stammt von Anne-Sabine Pastior, der jüngsten Schwester des Dichters. Es gibt Anekdoten, die sich zu verselbständigen beginnen.

Da wurden zum Beispiel Irritationen geweckt, die sich in Parodien und Leserbriefen entluden, als Pastior in seiner Bukarester Frühzeit, nicht ohne manieristische Freude, Gedichte mit gedoppeltem Autorennamen, O. W. P. C., das ist Oskar Walter Pastior-Capesius, und ungewöhnlichen Metaphern zeichnete. In einer Burzenländer Großgemeinde verteilte der Deutschlehrer Hefte der Bukarester „Neuen Literatur“, in der auch unkonventionelle, vielfach gebrochene Pastior-Texte zu lesen waren. Ein pensionierter Pfarrer drückte sein Unverständnis wie folgt aus: „Sind das Gedichte? Seinen Vater hab ich gekannt, das war ein anständiger Mensch!“ Als Rundfunkreporter bei Radio Bukarest, wo er nach Abschluss der Universitätsstudien arbeitete, fragte Pastior, auf einer Dienstreise an den Wegen der Wahrnehmung interessiert, eine alte sächsische Bäuerin nach ihrer Meinung über die deutschsprachige Sendung. Diese lobte vor allem die Rubrik „Alte stille Sterne“, weil anschließend stets schöne Musik erklinge. Nun gab es aber faktisch keine solche deutsche Sendung, wohl aber die rumänischen Abendnachrichten mit den Auslandsmeldungen („Alte știri externe“).

Als Pastior 1991 nach mehr als dreißig Jahren wieder Rumänien und auch seine Geburtstadt Hermannstadt besuchen konnte und im vollen Barocksaal des Brukenthal-Museums las, bestellte er beim ersten Mittagsessen im „Römischen Kaiser“ ein Auberginengericht. Wir wissen nicht, wie es ihm geschmeckt hat. Ernest Wichner, der ihn begleitete, schrieb: „Nirgendwo sonst als im Umgang mit dieser Scheinfrucht [...] war Oskar Pastior hemmungslos sinnlich im körperlichen, geistigen, poetologischen, philosophischen, also in vollem, ungeschmälerten Lebenssinn“. Dieser Frucht hatte er 1976 im Band „Fleischeslust“ eine Hymne in Prosa gewidmet und im gleichen Jahr einen ganzen Band („An die Neue Aubergine. Zeichen und Plunder“). Hier ein kurzes Zitat aus „Fleischeslus“, das nicht etwa nur das Braten von Auberginen anschaulich und ohrengerecht preist, sondern diesen Küchenvorgang anspielungsreich mit Werkstattverfahren des Dichtens vergleicht: „Das Rösten von Auberginen findet in Feueröfen in angemessener Entfernung statt. Es ist nicht verboten. Während des Röstens pfeifen die Auberginen und schwitzen Zitate aus, die langsam verkohlen. Empfindelei ist nicht am Platz. Deine Kopf- und Zahnangst schwinden, sonst Moroses volatisiert. Die Zitate brutzeln. Der Balg, mein Kind, muss von allen Seiten schön unansehnlich schrumpeln, das innere Fleisch hat zu erschlaffen. [...] Die Krusten werden beseitigt, Wundschorf und Grus desgleichen. Die Saftigkeit gerösteter Auberginen ist unübertroffen. Darum mein Kind, darum.“

Auf einer gemeinsam mit Ingomar von Kieseritzky unternommenen Lesereise im Winter nach Österreich verspätete der Zug vor Salzburg. Die Chance, pünktlich zur angesagten Lesung einzutreffen, wurde immer geringer. Pastior führte in einer schweren Juchtentasche sechzig Bücher für die Signierstunden der Tour mit. An der Grenze ein weiterer Verzögerungsfaktor. Der Zöllner fragte: „Haben ‘S was zu verzolln? Machen ’S die Taschen einmal auf!“ Er griff hinein und zog den Band „Fleischeslust“ heraus. „Poldl“, rief er seinem Kollegen zu, „geh schau amal: Pornographie!“ Darauf las Pastior mit ihm geläufiger oratorischer Kunst einige Zeilen aus dem Buch vor. Die Dichter durften weiter, erreichten Salzburg, freilich zu spät. Bei einem Glas Veltliner im Gasthaus fragte Pastior den Dichterkollegen triumphierend: „Hast du den Zöllner gesehen? Er sah verstört aus.“

Preise: „Nie Erstrebtes, nie Vermisstes“

Der Dichter und Übersetzer Oskar Pastior war Mitglied des Bielefelder Colloquiums Neue Poesie, der Berliner Akademie der Künste, des Literarischen Colloquiums Berlin, der Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung, der internationalen Arbeitsgruppe OULIPO („Ouvroir de Littérature Potentielle“). Er wurde mit folgenden Ehrungen und Preisen ausgezeichnet: mit dem Lyrik-Preis des Rumänischen Schriftstellerverbandes, dem Berliner Kunstpreis, dem Preis des SWF-Literaturmagazins für die weitgehend freie Übersetzung von Petrarcas Sonetten (1983), dem Ernst-Meister- und Hugo-Ball-Preis, dem Siebenbürgisch-Sächsischen Kulturpreis, dem Horst-Bienek-Preis für Lyrik der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, gemeinsam mit Gellu Naum mit dem Preis der Stadt Münster für Europäische Poesie (1999), mit dem Walter-Hasenclever-Literaturpreis der Stadt Aachen für das Gesamtwerk (2000), mit dem Sonderpreis der Rumänischen Kulturstiftung (2001), mit der Ehrendoktorwürde der Lucian-Blaga-Universität Sibiu/Hermannstadt (2001), mit dem Peter-Huchel-Preis (2001), dem Erich-Fried-Preis (2002), der Liliencron-Dozentur der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel des Literaturhauses Schleswig-Holstein (2004), mit dem Georg-Büchner-Preis (2006). In Hermannstadt, in Pastiors Geburtsstadt, wird seit 2007 ein internationales Poetentreffen, das „Europäische Poesiefestival“ veranstaltet, ein Festival, das heute seinen Namen trägt.

Bei all diesen bedeutenden Ehrungen und Preisen hat er seinen kühlen, höherer Ironie zugeneigten Kopf bewahrt. Zum Ehrendoktor der Universität Hermannstadt äußerte Pastior in seiner Danklesung: „Nie Erstrebtes, nie Bezwecktes, nie Vermisstes wird einem mit einem Mal zuteil – ein Gefühl wie ‚Eukalyptus‘.“

Seine viele Kulturen durchschreitende Dichtung, deren Verständnis dem Leser bzw. Hörer Mehrsprachigkeit, Verwandlungsbereitschaft, Belesenheit und Hellhörigkeit abverlangt, lässt sich schwer in wenigen Worten beschreiben. In den „irreversiblen Versuchsanordnungen“, wie Pastior seine eigenwillig geformten Texte bezeichnete, erzeugt er mit einer Vielzahl von Verfahren Unbestimmtheit, Verfremdung des allzu vertraut Scheinenden. In der Sprache des Dichters sieht er (ähnlich wie die Kabbala, wie Autoren des Barock, wie die Dadaisten und Potentiellisten) nicht ein Mittel zum Zweck, kein Vehikel, keinen Informationstransporter, sondern mit all ihren Bauteilen einen wunderbaren und wesentlichen Teil sinnlicher Lebensäußerung, der eine eigene Körperlichkeit besitzt. Pastiors Fächer ästhetischer Irritationen ist weit. Er spielt hintergründig mit Redewendungen, füllt textgenerativ, „an den Normen entlang gegen die Norm“ (Pastior), alte metrische Strukturen neu, nimmt idiomatische Wendungen wörtlich, übersetzt zwischen Sprachen und innerhalb von Sprachen, mischt typologische und referenzielle Formen von Intertextualität, arbeitet mit verkappten und direkten Zitaten, erfindet Scheinsprachen, zerlegt Wörter, verfremdet sie durch Phonemverschiebungen, durch den Ausfall oder den Einbau von Buchstaben, spannt Vokalschnüre durch seine Gedichte, nutzt syntaktische Polyvalenz, kehrt Subjekt-Objekt-Beziehungen um.

Am Schluss seien hier anlassgebundene Selbstermahnungen erlaubt: Das Bild, das wir uns nach all den angeführten Zeichen und Zeugen von Oskar Pastior glauben machen zu dürfen, sollte mobil, für Differenz und Facettenfülle offen bleiben und vor allem durch die angestrebte Kenntnis des überlebenden Werkes stets neu bewegt werden können.

Zweitens sollten wir Leser oder Zuhörer uns von den vielen Möglichkeitsformen Pastiors nicht auf das Gebiet humoristischer Erheiterung festlegen lassen. In seiner Dankesrede zum Georg-Büchner-Preis, die in Darmstadt vor einer trauernden Gemeinde der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung vom Verleger Michael Krüger verlesen wurde, heißt es: „Und dann reden die Leute von Spielerei. Sie wissen nichts von Sprachnot, Denkverzweiflung, Erkenntnisdrangsal...“.

Wir sollten in diesem Sinne genauer Wilhelm Müllers Urtext in Schuberts Vertonung der „Winterreise“ hören und dann auf Pastiors Variation achten, in welcher der Dichter aus seiner Sicht, nach seiner Erfahrung mit Chaos und Zufall, herkömmliche Sicherheiten und allzu selbstsichere „Wegweiser“ fragwürdig erscheinen lässt.

Horst Schuller


OSKAR PASTIOR

abschrankung isst wegweiser


neunzehnhundert / siebenundzwanzig
hermannstadt in siebenbürgen
muss i denn / mus i dünn
kantilene / hindurch

schulding / nicht schulding
geboren / o wünschelrut
und listen / namen und
mitgefangen / hain

minderheiten / straßen
kaputt / nicht kaputt
masse / gewicht
krieg / ruh

unzug / unzug
gepäck / schnitt
ballhausgassenspießen
zurück / nicht zurück

Schlagwörter: Pastior, Literatur, Gundelsheim

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