30. Oktober 2002

Lohnender (Reise)Stress

Unter dem Motto „Auf den Spuren der Vergangenheit und der schönen Erinnerungen" veranstaltete Michael Bertleff aus Böbingen an der Rems im September eine zehntägige Busreise nach Siebenbürgen.
Nach einer Fahrt von 27 Stunden trafen wir im Hotel „Corona de aur" in Bistritz ein, wo uns das Personal mit Schnaps und Gebäck empfing. Im Restaurant des Hotels wurden rumänische Spezialitäten für unser leibliches Wohl serviert. Abends animierte uns eine Musikkapelle mit bekannten rumänischen Liedern zum Mitsingen.

Am zweiten Tag besuchten alle Teilnehmer ihren jeweiligen Geburtsort. Trostlos breiteten sich Dörfer, Gemeinden, Städte und Friedhöfe vor unseren Augen aus. Es sind kaum beschreibbare Augenblicke, wenn man als Fremder vor seinem Elternhaus steht und sieht, dass andere Menschen dort leben. Es ist nicht so, dass die Heimat auf uns gewartet hätte; sie ist inzwischen längst anderen Menschen zur Heimat geworden. An dieser Stelle ein Zitat von Dietrich Bonhoeffer: „Je schöner und voller die Erinnerungen, desto schwerer ist die Trennung. Aber die Dankbarkeit verwandelt die Qual der Erinnerung in eine stille Freude. Man trägt das vergangene Schöne nicht wie einen Stachel, sondern wie ein kostbares Geschenk in sich." Traurig, wehmütig, aber auch froh über eine innere Klärung kehrten wir, mit einem neuen Bild von der alten Heimat nach Bistritz zurück.

Am 15. Sonntag nach Trinitatis besuchten wir in der Stadtpfarrkirche Bistritz den Gottesdienst. Stadtpfarrer Johann D. Krauss begann seine Predigt: „Ein Vater hatte aus der Zeitung die Weltkarte in ganz kleinen Teilen herausgeschnitten. Er gab seinen Kindern als Beschäftigung die Aufgabe, die Weltkarte wieder zusammenzustellen. Nach kurzer Zeit war die Karte wieder ganz. Der Vater staunte und wunderte sich über die rasche Zusammenstellung der Karte. Er fragte seine Kinder, wie sie das geschafft hätten. Seine Kinder antworteten: 'Auf der anderen Seite der Weltkarte war ein Mensch abgebildet. Als wir den Menschen ganz hatten, war auch die Weltkarte in Ordnung.' Wenn der Mensch ganz ist, ist auch die Welt in Ordnung." Über diesen Leitgedanken für Gegenwart und Zukunft möge jeder selbst nachdenken.

Wer Kirchen besucht, besucht Heimat. Wir besichtigten die Kirchen in Rodna, Jaad, Mönchsdorf, Schäßburg, Mediasch und Lechnitz. Zur Ehre Gottes sangen und beteten wir in der Kirche von Jaad und Mönchsdorf. In Mediasch besuchten wir das alte Gefängnis und sahen Stephan Ludwig Roths Geburtsstätte. Glückwunsch an die Bürger Jaads zu ihrem siebenbürgisch-sächsischem Museum. Die Kultur eines Volkes zeigt sich auch und gerade im Umgang mit ihrer Tradition und Geschichte. In Jaad hat beides noch einen festen Platz. Nicht einmal der steile Berg und die Schülertreppe mit ihren 184 Stufen in Schäßburg konnten uns davon abschrecken, die Bergkirche und die Bergschule, die gerade renoviert wurde, zu besichtigen. Gewiss, viel Vergangenes wurde verschüttet, vergessen oder verdrängt. Zum Teil wurde es sogar der Mode geopfert. Doch neben dem, was gänzlich untergegangen ist, hat das überdauert, was wir heute in Museen und Ausstellungen erfahren oder in Büchern nachlesen können.

Die Weinprobe in Lechnitz und das Werben des Kellermeisters bewegten uns zum Kauf der edlen Tropfen. Freilich blickten wir wehmütig auf die kahlen Berge, wo einst Rebstöcke gedeihten. Fast alle sind in Siebenbürgen verschwunden.

Siebenbürgen: Natur und Genuss im Überfluss. Der unvergessliche Ausblick vom Hotel „Dracula" auf die Landschaft und die von uns besuchten Orte zeigten Natur pur. In den siebenbürgischen Ortschaften und auf den Feldern ist immer wieder festzustellen, dass das fleißige Volk das Land verlassen hat. Rumänien ist ein reiches Land mit vielen armen Menschen. Trotz traurig stimmender Bilder blieben viele schöne Erinnerungen aus der alten Heimat erhalten.

Auf der Heimreise war Klausenburg, eine einstige Sachsenstadt, die letzte Station in der Heimat. Dass wir trotz teilweise schlechter Straßenverhältnisse, Wartezeiten an den Grenzübergängen und Unfallstellen so gut gereist sind, haben wir den beiden Fahrern zu verdanken. Michael Bertleff und seiner Frau Kathi sei für die hervorragende Organisation herzlich gedankt. Falls sie irgendwann noch einmal fragen, ob wir Leib und Seele stressen möchten, wäre das eine Überlegung wert.

Johann Müller


(gedruckte Ausgabe: Siebenbürgische Zeitung, Folge 17 vom 31. Oktober 2002, Seite 19)

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