31. März 2003

Richtungweisende Änderungen im Rentenrecht

In einer richtungweisenden Entscheidung vom 30. Januar 2003 hat das Bundessozialgericht in Kassel die Grundlagen der Anerkennung höherer Qualifikationsgruppen nach langjähriger Berufserfahrung positiv verändert. Auch die Anerkennung rumänischer Lohnlistenauszüge als Nachweis für eine volle Bewertung von Rentenanwartschaften aus Rumänien setzt sich in immer mehr Bundesländern durch.
Qualifikationsgruppen

Die Höhe der Rente für Anwartschaften aus dem Herkunftsland hängt wesentlich davon ab, in welche Qualifikationsgruppe diese eingestuft wird. Die Rentenhöhe für ein Jahr Vollzeitbeschäftigung im Herkunftsland schwankt zwischen 12 und 40 Euro pro Monat. Höhere Qualifikationsgruppen können anerkannt werden, wenn formale Berufsbildungsabschlüsse, wie Facharbeiterbriefe, Meister- , Techniker- oder Hochschuldiplome glaubhaft gemacht werden. Eine Höherstufung ist aber auch möglich, wenn in entsprechenden Tätigkeiten „langjährige Berufserfahrung“ erworben wurde. Bisher gingen die Rententräger unter analoger Anwendung einschlägiger Bestimmungen der DDR-Gesetzgebung von einem Zeitraum von zehn Jahren für den Erwerb langjähriger Berufserfahrung aus. Einige Rententräger haben sogar rechtsfehlerhaft das Erreichen einer bestimmten Altersgrenze (45 Jahre) als Voraussetzung in die Vorschrift hineininterpretiert. Nunmehr hat das Bundessozialgericht in einer Entscheidung vom 30.1.2003, Aktenzeichen BSG B 4 RA 7/02 R, eine vorhergehende Entscheidung des Landessozialgerichts Berlin vom 2.11.2001, Az. L 1 RA 26/01 bestätigt und entschieden, dass in Anwendung der bis 1992 geltenden Kriterien der Anlagen 1 ff zum Fremdrentengesetz (FRG) eine langjährige Berufserfahrung schon nach drei bis sechs Jahren Tätigkeit vorliegen kann. Dieses soll auf jeden Fall für Zeiten bis 1973 gelten, da entsprechend anders lautende Regeln in der DDR vor diesem Zeitpunkt noch nicht existiert haben.

Betroffenen wird empfohlen, Renten- und Kontenklärungsbescheide unter Hinweis auf diese neuen Grundsätze prüfen zu lassen. Gegebenenfalls können Renten gemäß § 44 des Sozialgesetzbuches (SGB) X bis zu vier ganze Kalenderjahre ab Antragstellung nachgezahlt werden.

6/6-Bewertung

Wie mehrfach berichtet, werden Rentenanwartschaften aus dem Herkunftsgebiet bei Glaubhaftmachung nur mit 5/6-Werten, bei Vorlage von Nachweisen jedoch mit vollen 6/6-Werten bei der Rentenberechnung berücksichtigt. Nachweise liegen (nur) dann vor, wenn aus den Unterlagen neben der Beschäftigungszeit auch detailliert ersichtlich ist, wann die Lohnzahlung z.B. durch Krankenurlaub, unbezahlten Urlaub etc. unterbrochen worden ist. Rentenbehörden haben stets behauptet, dass diese Unterlagen grundsätzlich nicht als Nachweise ausreichen. In mehreren Musterprozessen konnten bereits vor Jahren Landessozialgerichte in Bayern und Baden-Württemberg davon überzeugt werden, dass Lohnlistenauszüge (extrase din statele de plata) dann als Nachweis ausreichen, wenn diese genaue Angaben zu den genannten Unterbrechungssachverhalten enthalten, erkennen lassen, aus welchen Unterlagen diese Daten entnommen wurden, und keinerlei Widersprüche in der Aktenlage Zweifel am Wahrheitsgehalt der Urkunden aufkommen lassen. Dieses ist stets im Rahmen einer Einzelfallprüfung festzustellen und bei Fehlen von Widersprüchen eine 6/6-Bewertung durchzuführen (z.B. Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 8.7.1997, Aktenzeichen L 5 AR 475/95; Landessozialgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 11.12.2000, Az. L 9 Rj 2551/98). Trotz dieser Entscheidungen und einer darauf folgenden Empfehlung des Verbandes deutscher Rentenversicherer (VDR) haben einige Landesversicherungsanstalten nach wie vor regelmäßig nur 5/6-Werte anerkannt und Lohnlistenauszüge grundsätzlich abgelehnt.

In einer Musterentscheidung vom 19.12.2002 hat nun auch das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Aktenzeichen L 10 RI 84/01, sich der oben genannten Rechtsprechung aus Bayern und Baden-Württemberg angeschlossen und die Rentenbehörden verpflichtet, rumänische Lohnlistenauszüge als Nachweise anzuerkennen und Zeiten mit 6/6 zu bewerten. Bezeichnend ist, dass sich das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen auch mit der gegenteiligen Meinung des Landessozialgerichts Hessen auseinandergesetzt und diese als unzutreffend bewertet hat: „Die für jeden Beschäftigten zu führenden Lohnlisten (‚State de plata‘) waren u.A. auf der Grundlage der ‚Kollektiven Anwesenheitsbögen‘ anzufertigen und enthielten ebenfalls die für die Lohnunterbrechung erheblichen Fehlzeiten oder Arbeitsunterbrechungen. Den von dem Hessischen Landessozialgericht (Urteil vom 22. Mai 2001 – L 2 RJ 1040/00-) gezogenen gegenteiligen Schlüssen aus dem Rechtsgutachten vermag der Senat demgegenüber nicht zu folgen. Auch vor Inkrafttreten des rumänischen Gesetzes über die Buchführung von 1991, mit dem erstmals eine ausdrückliche Aufbewahrungsfrist von 50 Jahren bestimmt wurde, wurden Lohnlisten als archivwürdige Dokumente angesehen, so dass für sie lange Aufbewahrungsfristen galten, vgl. Seite 97 des Rechtsgutachtens vom 15.12.1999“ – so die Begründung des Landessozialgerichtes Niedersachsen-Bremen.

Es bleibt abzuwarten, wie sich die Rechtsprechung in Hessen weiterentwickelt. Angesichts der sich mehrenden positiven Rechtsprechung ist den Betroffenen zu empfehlen, ihre Bescheide prüfen zu lassen und Rechtspositionen durchzusetzen.

Hingewiesen sei noch auf folgende Besonderheit: Auch wenn sich bei erfolgreicher Verfahrensführung in den allermeisten Fällen erhebliche Rentenerhöhungen ergeben, so gibt es wegen Berechnungsvorschriften in § 262 SGB VI die seltene Möglichkeit, dass sich der Rentenbetrag trotz Anerkennung weiterer Anwartschaften oder höherer Bewertungskriterien mindert. Betroffene sollten daher vor Durchsetzung einzelner Punkte die Auswirkung auf den gesamten Rentenbetrag prüfen lassen.

RA Bernd Fabritius, stellvertretender Bundesvorsitzender der Landsmannschaft


(gedruckte Ausgabe: siebenbürgische Zeitung, Folge 5 vom 31. März 2003)

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