1. Dezember 2003

Karin Gündisch: "Das Paradies liegt in Amerika"

Die bekannte Kinderbuchautorin Karin Gündisch hat, wie in dieser Zeitung berichtet, im Rahmen der Siebenbürgisch-Sächsischen Kulturtage 2003 Texte rund um die Aussiedlungsproblematik gelesen. Teile davon stellt sie dankenswerterweise der Siebenbürgischen Zeitung zur Veröffentlichung zur Verfügung. Der folgende Abschnitt ist der amerikanischen Fassung von "Das Paradies liegt in Amerika" entnommen.
Einmal war ich mit meiner Arbeit sehr schnell fertig, und als ich sah, wie friedlich George schlief, beschloss ich, einen Spaziergang zu machen, um mir die Automobile anzusehen, die durch die Stadt fuhren. Ich wollte gleich zurück kommen, aber als ich das große Auto von Mister Henry Mayer sah, das sechs Plätze hat und zwanzigtausend Dollar gekostet haben soll, da vergaß ich alle meine guten Absichten und bestaunte dieses Wunder der Technik so lange, bis George aufwachte und so laut brüllte, dass unsere Nachbarin Mama von der Farm holte. Aber davon wusste ich noch nichts, als ich das Auto von Mister Mayer bewunderte. Ich stellte mir vor, wie ich eines Tages selbst eins besitzen würde, ein rotes mit schwarzen Ledersitzen, eins so groß, dass wir alle hineinpassten. Mit diesem Automobil würden wir dann nach Kalifornien fahren und meinen Bruder auf seiner Farm besuchen. Mama hatte zwar gesagt, dass sie nie in eins steigen würde, als sie das erste Automobil in Youngstown gesehen hatte, weil es rasend schnell fuhr. Ein schnelles Automobil schafft 36 Meilen in 35 Minuten. Das ist wirklich zu schnell für Mama und zu gefährlich auch. Ich fürchte mich aber nicht vor dem Autofahren und meine große Sorge ist, dass es noch sehr lange dauern wird, bis ich die Gelegenheit bekomme, es auszuprobieren. Die Autobesitzer sind alle sehr reich und wir im Vergleich zu ihnen arm. Aber vielleicht werden wir auch einmal reich. Das kann man nie im Voraus wissen.



Beltz/Gelberg Verlag, ISBN 3-407-78400-7, 4,90 Euro
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Wenn ich an einer Straßenkreuzung stand und Ausschau nach einem Automobil hielt, hoffte ich immer, dass eines Tages eins vorbei käme, das Leute gegen Geld spazieren führte. Diesen Luxus hätte ich mir nämlich gegönnt, auch wenn er mich meine ganzen Einnahmen von einer Woche gekostet hätte. Aber nie kam ein solches Auto vorbei. Vielleicht gab es solche Autos anderswo, bei uns gab es sie nicht. John Smith schien mir reich genug, um ein Auto zu kaufen und es zu vermieten. Als ich ihm dieses Geschäft vorschlug, lachte er und sagte: “Eine gute Idee! Aber leider nicht für mich, denn mein Tag hat auch nicht mehr als vierundzwanzig Stunden und die bin ich voll beschäftigt. Vielleicht solltest du Mechaniker werden, wenn dich Autos interessieren. Oder Ingenieur, denn du hast einen guten Kopf!“

Ich hatte viele Möglichkeiten für die Zukunft, im Augenblick aber wusste ich nicht, wie ich nach Hause gehen sollte. Es fing an zu dunkeln und ich dachte mir, dass George schon längst aufgewacht war und Hunger hatte, und ich befand mich auf der Straße, weit weg von zu Hause.




Ich ging schnell, lief das letzte Stück und schlich erst einmal um unser Haus herum. Mama hatte das Licht angemacht und stand am Herd. Emil war mit dem Kopf auf dem Tisch neben der Bibel eingeschlafen und George konnte ich nicht sehen. Er lag wahrscheinlich im Ehebett. Im Haus war es still, kein Laut drang nach außen. Ich stand eine Weile und sah zum Fenster hinein, wie Mama ein Huhn rupfte. Das heiße Wasser, mit dem sie es überbrüht hatte, dampfte noch in der Schüssel. Die Federn lösten sich leicht und Mama sengte den feinen Flaum über der offenen Flamme.

Ich war froh, dass nicht ich das Huhn hatte schlachten müssen. Ich weiß zwar, wie man das macht, aber ich tue es nicht gern. Man muss das Huhn auf einen Hackblock legen und ihm die Kehle mit einem scharfen Messer durchtrennen. Das muss schnell gehen, damit das Huhn nicht unnötig leidet. Der Körper des Huhns flattert dann noch ein bisschen hin und her, wenn man ihn nicht festhält. Wenn ich das Huhn schlachte, habe ich nachher keinen Appetit beim Essen. Tata sagt, dass es Schlachthöfe für Rinder und Schweine gibt und wahrscheinlich auch für Hühner. Ich stelle mir lieber nicht vor, wie es da zugeht.

Ich sah, wie Mama das Huhn wusch, sie trocknete es ab und schlug es in ein sauberes Küchentuch ein. Es war für ihre Kundschaft bestimmt. Vielleicht würde sie jetzt gleich das Haus verlassen, um das frische Huhn noch am selben Abend der Köchin eines reichen Hauses zu übergeben. So wie es aussah, war Mama in Gedanken versunken, vielleicht machte sie sich Sorgen um mich, weil ich weggelaufen war, aber es konnte auch nur sein, dass sie müde war. Ich ging ins Haus hinein und rechnete damit, dass Mama mit mir schimpfte und mir eins hinter die Ohren gab. Mama aber sah mich nur sehr traurig an und sagte: „Es ist kein Verlass auf dich, Johnny. Du treibst dich lieber herum, als mir zu helfen, aber du musst wissen, dass ich mit meinen Kräften am Ende bin.“

Mir tat meine Mutter furchtbar leid und ich schämte mich, weil ich nicht verlässlich war. Ich versprach ihr, dass es in Zukunft nicht mehr vorkommen sollte, dass ich George allein ließ, wenn er sich in meiner Obhut befand. Mama hörte mir zu und sagte leise: “Vielleicht verlange ich zuviel von einem Kind.“ Aber sie verlangte nicht zuviel von mir, denn von da an gab ich gut acht auf meinen kleinen Bruder und einige Male nahm ich ihn im Kinderwagen zum Auto bestaunen mit. Er interessierte sich jedoch nicht dafür, weil er viel zu klein war.

Karin Gündisch

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