14. November 2004

"Luftwurzeln" im Nürnberger Haus der Heimat

Wenn Sie in einer Ankündigung lesen: "Luftwurzeln – Die deutsche Siedlungsbewegung nach Südosteuropa und zurück – eine Collage aus Wort, Bild und Ton", dann reißt es Sie sicherlich nicht vom Hocker. Ganz anders ist es jedoch, wenn ein vom Land Niedersachsen, dem Donauschwäbischen Zentralmuseum und der Donauschwäbischen Kulturstiftung des Landes Baden-Württemberg gefördertes Projekt zur Aufführung gelangt. "Das war ein Genuss besonderer Art, das ist mehrdimensionale Kunst pur." So oder ähnlich äußerten sich Genießer dieser hochklassigen künstlerischen Darbietung. Und das war keine Übertreibung.
Die Collage "Luftwurzeln" zeichnet auf unerwartete und ungewöhnliche Weise die Siedlungsgeschichte deutscher Minderheiten in Südosteuropa – Schwerpunkt Siebenbürger Sachsen – nach. Themen wie Einwanderung, Tataren- und Türkenkriege, Lebensregeln im Vielvölkerland Siebenbürgen, Beschaffenheit einer ehrbaren Jungfrau, Zigeunerheldentum, Zweikreuzerpolitiker, Karl Marx, Nationalsozialismus, Judendeportation, Evakuierung, Deportation, Siebenbürgische Elegie, Rettung, Siebenbürgisches Klagelied, Grabrede, Wegzug, Kronstädter Herbst von Autoren wie Werner Söllner, König Andreas II., Joachim Wittstock, Josef Gabriel d.J., Domherr Rogerius, Pfarrer Damasius Dürr, Gottfried Feldinger, J. F. Geltch, J. Schuster-Herineanu, Hans Holzträger, Annemone Latzina, Ingmar Brantsch, Franz Hodjak, Richard Wagner, Alexandra Paul, Klaus Hensel, Rose Ausländer, kommen kunterbunt verwirrend und dennoch perfekt geordnet zur Sprache. Nein, nicht "kommen zur Sprache". Diese Formulierung widerspricht der hohen Kunst des Vortrags von Bettina Schubert, der 1960 in Freiberg in Sachsen geborenen Schauspielerin, Regisseurin sowie Lehrbeauftragten an der Hochschule für Musik "Hanns Eisler" in Berlin, und von Martin G. Kunze (geboren 1941), Schauspieler, Hörfunk- und Fernsehjournalist beim NDR und Evangelischen Kirchenfunk Niedersachsen. Beiden gelingt in besonderem Maße die kraftvolle Darstellung des Spannungsverhältnisses zwischen einem schwierigen Verbleiben in Rumänien und einer problembehafteten Aussiedlung (= Rückkehr) nach Deutschland.



Luftwurzeln können auch ungemein vital sein, von links nach rechts: Helmut Rocholl (Violoncello), Bettina Schubert und Martin-G. Kunze (Rezitation). Foto: Doris Hutter
Luftwurzeln können auch ungemein vital sein, von links nach rechts: Helmut Rocholl (Violoncello), Bettina Schubert und Martin-G. Kunze (Rezitation). Foto: Doris Hutter


Bestens werden das gesprochene Wort und die eindrucksstarken Bilder umgarnt von den faszinierenden, extra für diese Produktion komponierten "Musikalischen Einlagen" von Hans Peter Türk, am Violoncello von Helmut Rocholl (geb. 1959), freischaffender Solist und Kammermusiker, Dozent an der Universität Hildesheim, meisterhaft und einfühlsam dargeboten. Inhaltlich verengt sich die Präsentation im Gefühl des Lebens zwischen zwei Welten: doppelte Heimat – kein Zuhause. Diese klug ausgewählte Dichtung, meisterhaft verdichtet, eindrucksvoll, klar und zauberhaft vorgetragen, durch Türks Tonkunst umschlungen, vorangetrieben – das war so neu und tat so gut in doppeltem Sinne. Der Abend wurde, wie in einem der vorgetragenen Texte zu hören war, eine an Erleben reiche und bewegte Zeit an diesem Mittwoch, dem 13. Oktober, im Haus der Heimat in Nürnberg. Mit großer Würde und formvollendet wurde uns ein Geschenk überbracht. Ein Geschenk von wagemutigen Künstlern, die sich – ohne jedwelchen siebenbürgisch-sächsischen Herkunftsbezug – dem Siebenbürgisch-Sächsischen in völlig ungewohnter Form und Verdichtung nähern.

Günter Czernetzky (geboren 1956 in Schäßburg), vielseitiger, produktiver Künstler, führte Regie. Seine hohe Kunst konnte im Zusammenspiel mit den Akteuren im Rampenlicht die Anwesenden richtig beglücken. Bild, Ton und Wort erschienen wohlüberlegt, wohlmoduliert, wohlmoderiert, sinngebend gefügt, An-, Um-, Entkleidungsrituale passend integriert, Gestik, Mimik der Darsteller, deren Bewegungen – sie haben uns nicht kalt gelassen. Der Abend mit diesen Menschen von "Musik im Kontext e.V." zeigt, dass Luftwurzeln auch ungemein vital sein können. Er war tiefsinnig zauberhaft. Danke.

Horst Göbbel

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