24. August 2001

Schätze der Siebenbürgischen Bibliothek: Schulprogramme

Wahre Fundgruben für Schul- und Ortshistoriker sind die Jahresberichte der Schulleitungen, die so genannten Schulprogramme, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts das innere Leben und die wissenschaftliche Forschung der deutschen Schulen in Siebenbürgen dokumentieren.
Zweifellos sind die Siebenbürger Sachsen stolz auf ihre nun bald 900-jährige Geschichte und auf die in dieser langen Zeitspanne geschaffenen kulturellen Errungenschaften. Hierzu zählen vor allem die architektonischen Zeugnisse, die Profan- oder Sakralbauten: bewehrte Dorfkirchen und ansehnliche Stadtkirchen, Stadtbefestigungen, stattliche Bauern- und Bürgerhäuser, Verwaltungs- und Schulgebäude.
Vor allem dem Schul- und Bildungswesen wurde seit der Reformationszeit eine besondere öffentliche Aufmerksamkeit geschenkt. Der Reformator Siebenbürgens, Johannes Honterus, trat denn auch ähnlich wie Philipp Melanchthon im Heiligen Römischen Reich als Schulgründer und -reformer hervor. Honterus formte 1541 die bestehende Kronstädter Stadtschule in das erste humanistischen Gymnasiums Siebenbürgens um, das auch heute seinen Namen trägt und zu den besten Schulen im Lande gehört. Die Verdienste Honters als Schulmann sind demnach nicht von denen als Reformator zu trennen. Zu seinen wichtigsten Schriften zählt die Schulordnung, die er im gleichen Jahr – 1543 – wie das Reformationsbüchlein veröffentlichte. Das Schulwesen der Siebenbürger Sachsen war bis zum Zweiten Weltkrieg und für kurze Zeit danach ein kirchliches Schulwesen. Kirche und Schule waren eng miteinander verzahnt: institutionell, baulich, personell. Die evangelische Kirchen war Träger der Schulen, finanzierte sie aus dem Kirchensteueraufkommen bzw. aus den Erträgen kirchlicher Besitzungen. Bis zum Zweiten Weltkrieg hatte sich ein flächendeckendes und differenziertes Schulwesen ausgebildet. Die Siebenbürger Sachsen rühmen sich die älteste Schulpflicht in Europa zu haben. Auch wenn dies einer genauen Untersuchung so nicht standhalten sollte, so bleiben die Bemühungen der Sachsen um das Schulwesen als herausragende Leistungen bestehen. Der Lehrerberuf war in Siebenbürgen häufig ein Anfangs- und Durchgangsstadium zum geistlichen Beruf. Zunächst war man „Predigerlehrer“ mit Dienstpflichten aus beiden Bereichen. Die akademischen Pfarrer studierten im mitteleuropäischen Raum, vor allem in den deutschsprachigen Ländern, neben Theologie stets auch andere Fächer, von der Landwirtschaft über die Naturwissenschaften bis zu Pädagogik. Umgekehrt mussten alle im Ausland Studierenden, die in Siebenbürgen ins Lehramt wollten, auch Theologie studieren. Für die nichtakademischen Pfarrer richtete die Landeskirche eigene Ausbildungsstätten, sogenannte Seminarien ein.
Das Bildungswesen der Siebenbürger Sachsen war durchlässig. Auch weniger Wohlhabende und Dorfkinder konnten durch gezielte Förderung zu den Eliten der Gemeinschaft aufsteigen. Eine gute Bildung und Ausbildung machte die Sachsen für das Land und die Nachbarprovinzen so wichtig. Zahlenmäßig waren sie zwar nur eine Minderheit, aber wirtschaftlich und politisch – sie waren eine staatstragende Nation - sehr stark. Die Sachsen, insbesondere die Handwerker und Händler in den Städten, waren auch aufgrund der günstigen geographischen Lage ungemein exportorientiert. Sie verfügten über Know-how und Technologien, die sehr gefragt waren. Kronstadt und Hermannstadt, die wichtigsten sächsischen Städte, waren so etwas wie ein „regionales“ Solingen, Erzeuger von Klingen, Sicheln, Sensen und Pflügen, aber auch von Rüstungen, Gewehren, Kanonen und Ähnlichem, womit sie vor allem den Bedarf an diesen Gerätschaften der Donaufürstentümer deckten.
Die Schulen verfügten über engagiertes und motiviertes Personal, und so ergaben sich zumindest für die Städte und deren Schulen gewisse Konkurrenzverhältnisse. Jede Stadt wollte die beste Schule haben. Dazu mussten sie sich freilich einiges einfallen lassen. Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts sind diese „Einfälle“ recht gut dokumentiert, denn um jene Zeit wurde es üblich, Jahresberichte der Schulleitungen in so genannten Schulprogrammen zu veröffentlichen. Der Anstoß dazu kam von den Kultusbehörden des Österreichischen Kaiserstaates unter dem noch jungen Franz Joseph. Neben den Lehrplänen für die unterrichteten Fächer finden sich Angaben über die Stundenzahl und die benutzten Lehrbücher und das innere Leben der Schule. Es wird über Annerkennenswertes berichtet, aber auch Mängel werden klar benannt. Viele dieser Schulprogramme haben den Weg in die Siebenbürgische Bibliothek nach Gundelsheim gefunden, wo sie der Leser und Forscher harren. Sie sind richtige Fundgruben für Schul- und Ortshistoriker, aber auch für interessierte Laien, wie einen Familienforscher, der mal eben nachschauen möchte, was für Noten sein Großvater in einem bestimmten Fach gehabt hat. In den Jahresberichten sind nämlich die Namen aller Lehrenden und aller Lernenden, sowie deren Leistungen festgehalten.
Das schulische Leben in Siebenbürgen kann anhand der Schulprogramme über einen Zeitraum von fast 100 Jahren beinahe lückenlos dokumentiert werden. Wir wissen, wann und wie lange, welche Fremdsprachen auf einem Gymnasium gelehrt wurden (Latein, Griechisch, Ungarisch) und was zum Bildungskanon und zu den Lesestoffen gehörte (Kleist, Lavater, Wieland, Lessing, Goethe, Schiller). Wir wissen auch, was auf den Seminarien, den Ausbildungsstätten für Predigerlehrer unterrichtet wurde: Biblische Geschichte, Pädagogik, Didaktik, Homiletik, dafür entfielen die alten Sprachen. Die Predigerlehrer erhielten noch eine spezielle musische (z.B. Gesang und Harmonielehre) und künstlerische Ausbildung, z.B. Zeichnen. Sie konnten freiwillig zusätzlich Violine und Orgelspielen erlernen, alles wichtige Fächer für ihre spätere berufliche und außerberufliche Tätigkeit. Die gesamte „Jugendarbeit“ war ihnen nämlich auch anvertraut. „Jugendarbeit“ hieß damals die Katechisation der Schuljugend am Sonntagnachmittag. Der Besuch dieser Veranstaltung war für die evangelischen Schüler damals ebenso verpflichtend wie der sonstige Schulbesuch. Auch Turnen wurde auf allen Schulformen angeboten. Neben diesen Schulformen gab es Unterrealschulen, die in der Regel zu einer kaufmännischen Ausbildung hinführten, Gewerbe- und andere Schulen.
Aus den bei vorliegender Recherche von der Kronstädter Honterusschule, damals eine reine Knabenschule, in Augenschein genommenen Schulprogrammen fällt beispielweise auf, dass - wie bei einer Konfessionsschule nicht anders zu erwarten - zwar überwiegend deutsche und evangelische Schüler diese Schule besuchten, aber auch zwischen 5 und 10 Prozent anderskonfessionelle und –nationale: römisch-katholische, griechisch-katholische, ungarische, „walachische“ und griechische, vereinzelt auch armenische und jüdische Schüler, Letztere sogar noch während der Zeit des Zweiten Weltkrieges. Für jeden Schüler war ein Schulgeld zu bezahlen, allerdings war etwa jeder Zehnte davon befreit. Die sächsische Gemeinschaft hatte also ein sensibles soziales Gewissen. Zahlreiche Schüler der Honterusschule, insbesondere die aus den umliegenden Burzenländer Gemeinden, waren im evangelischen Internat oder im Privatquartier untergebracht. Hierbei richten sich die selbst aufzubringenden Kosten nach der Vermögenslage der jeweiligen Familie.
Ab 1934/35 - zu jener Zeit war der lang gediente Adolf Meschendörfer Direktor - wurden die Schulprogramme an der Honterusschule zweisprachig, deutsch und rumänisch. Dies geschah auf Druck der rumänischen Schulbehörden, die das deutschsprachige konfessionelle Schulwesen in jener Zeit besonders argwöhnisch beobachten. Andere nationalen Minderheiten Großrumäniens, die über kein eigenes Schulwesen verfügten, waren in den staatlichen Schule Assimilierungszwängen ausgesetzt. Bei den Sachsen gelang dieses aufgrund der Selbstverwaltung und der beträchtlichen finanziellen Opfer der Kirchensteuerzahler kaum. Die materielle Grundlage des kirchlichen Schulwesens der Sachsen war durch die teilweise Enteignung der Besitzungen der Evangelischen Kirche nach dem Ersten Weltkrieg ernsthaft bedroht.
Auch Weltpolitik spiegelt sich in Enddreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts in den Jahresberichten der Schulprogramme wieder. Die Rektoren und Lehrer schielen nach dem, was in Deutschland passiert und bleiben von den Ideen und Entwicklungen nicht unberührt. Der rumänische Staat wird aufgrund der politischen Annäherung zum Deutschen Reich und des späteren militärischen Bündnisses etwas vorsichtiger gegenüber den Deutschen im eigenen Land und lockert den Druck auch in Schulfragen. Mit der Gründung der „Deutschen Volksgruppe“ geht das jahrhundertealte kirchliche Schulwesen an diese über. Nach dem Zweiten Weltkrieg kann es bis zur Vertreibung des Königs und der Ausrufung der „Volksrepublik“ unter sehr schwierigen Umständen ein kurzes Zwischenspiel erleben.
Natürlich muten einige Dinge aus dem sächsischen Schulwesen heute kurios an, so dass in der Volksschule der Unterricht mit Gesang und Gebet begann oder die Reifeprüfung vor dem Bezirksdechanten abgelegt wurde. Auch die nach Geschlechtern getrennte Schule ist uns fremd geworden.
Auch heute noch sind die deutschsprachigen Kindergärten und Schulen renommierte Bildungseinrichtungen. Soweit es geht wollen sie nicht nur die Kenntnis der deutschen Sprache, sondern auch deutsche Kultur, Traditionen und Tugenden vermitteln. Dass diese Modelle nicht importiert werden müssen, sondern auf eigene sächsische Vorbilder zurückgegegriffen werden kann und wird, mag alle trösten, die einst in ehrwürdigen Gebäuden eine Bildungsausstattung erwarben, die ausreichte um überall auf der Welt zurechtzukommen.
Das sächsische Bildungswesen hat stets auch auf das rumänische Umfeld ausgestrahlt. So erstellten gute rumänische Schulen ebenfalls Jahresberichte und tauschten sie mit den deutschen gegenseitig aus. Der Austausch fand im Übrigen sowohl auf lokaler Ebene als auch mit Partnern in ganz Mitteleuropa statt. Anhand dieser Dokumente lässt sich dem sächsischen Schulwesen ein beachtlicher Standard bescheinigen. Die Ausstattung mit Bibliotheken, Mineralien-, Pflanzen-, ornithologischen Sammlungen, physikalischen Apparaten entsprach einem überdurchschnittlichen Niveau. Die Schulmänner waren bestrebt den Anschluss an alle wichtigen europäischen Neuerungen zu halten und das Beste zu übernehmen.
Außer dem internen Schulleben boten die Schulprogramme eine unüberschaubare Fülle an wissenschaftlichen Aufsätzen des Lehrpersonals. Grundlegende Beiträge zur Geschichte und Landeskunde, insbesondere naturwissenschaftliche Beobachtungen fanden hier ihren Niederschlag. Zum Ideal des siebenbürgischen Lehrers gehörte es, absolut auf dem Laufenden zu sein und den „Zöglingen“ die bestmögliche Bildung zu vermitteln. Darauf können wir Nachgeborenen ein klein wenig stolz sein.

Gustav Binder


Links zu ähnlichen Themen:
Schätze der Siebenbürgischen Bibliothek: Kalender und Almanache, SbZ-Online vom 2. April 2001

Wer nutzt die Siebenbürgische Bibliothek?, SbZ-Online vom 28. Juni 2001

Bewerten:

2 Bewertungen: ++

Noch keine Kommmentare zum Artikel.

Zum Kommentieren loggen Sie sich bitte in dem LogIn-Feld oben ein oder registrieren Sie sich. Die Kommentarfunktion ist nur für registrierte Premiumbenutzer (Verbandsmitglieder) freigeschaltet.