5. November 2005

Hinter Stacheldrahl im Gulag

Rezension der Neuerscheinung von Willi Zeidner, „Birkenträume. Russische Geschichten. Erinnerungsberichte aus fünf Jahren hinter Stacheldraht im Sowjet-Gulag“, Aldus Verlag, Kronstadt, 2005, 128 Seiten, ISBN 973-7822-04-8. Zu bestellen zum Preis von 8,00 Euro, zuzüglich Versand, bei Wilhelm Zeidner, Im Sämann 79, 71334 Waiblingen, Telefon: (0 71 51) 8 30 77.
Auch heute, 60 Jahre danach, erscheinen noch häufig Erinnerungsbücher über die Jahre der Deportation und der Zwangsarbeit in der Sowjetunion. Betroffene erzählen ihre Erlebnisse und Erfahrungen und versuchen diese zu verarbeiten. Kürzlich erschien im Aldus Verlag in Kronstadt das Erinnerungsbändchen „Birkenträume“ von Willi Zeidner mit 25 Kurzgeschichten aus dem Sowjet-Gulag. Im Unterschied zu anderen Publikationen dieser Art schildert der Verfasser weniger eigene Erlebnisse und solche seiner deutschen Leidensgenossen, sondern erzählt über Russen, Ukrainer, Kosaken u. a., die vom Schicksal nach Michjalowka verschlagen worden waren und in den Kohlengruben oder in deren Umfeld zusammen mit den deutschen Arbeitern schufteten. Es waren Menschen der einfachsten Art, Bauern, grobe Kumpel, die aber unter der harten Schale eine Seele hatten wie backofenwarmes Brot. Die Erzählungen sind meist nicht handlungsreich und sprechen vor allem durch ihre Emotionalität. So zu lesen ist auch der Buchtitel „Birkenträume“. Hier einige Beispiele von Geschichten aus den „Birkenträumen“:

Der Erzähler stiehlt täglich aus dem Bergwerk Kohlen, um sie der Babuschka zu schenken, damit sie ihre kleine Hütte vor der strengen Winterkälte bewahren kann. Er bemerkt erst spät, dass die Alte gestorben ist und eine unwürdige Person von ihrem Häuschen Besitz ergriffen hat. Da erst stellt er seine Kohlengeschenke ein. („Babuschka“)

Iwan, der Eisenbahner, der in Rente geht, fragt seinen Vorgesetzten, er möchte gern wissen, warum er all die Jahre mit dem Hammer an die Waggonräder klopfen musste. Hier kommt dem Leser die Pointe recht bekannt vor. („Iwan-Shelesnodoroshnik“)

„Petre“ ist groß und ein ungeschlachter Kerl, doch herzensgut, wenn er sich für die Kleinen und Schwachen einsetzt. Wenn er jemanden bestraft und zuschlägt, dann gibt es einen Toten. So wird er von Fall zu Fall zu immer strengeren Strafen verurteilt.

„Taras Borisowitsch“, der Kosake, hat auf dem Rücken seines Pferdes in der sowjetischen Unfreiheit doch frei gelebt. Durch die Umstände des Krieges wird er nach Michajlowka in die Kohlengruben verbannt. Invalide nach einem Arbeitsunfall, ist er nicht mehr für die Arbeit unter Tage tauglich. Doch zieht er es vor, im Bergwerk zu leben, um sich dort um die geschundenen Pferde zu kümmern. Als sein eigenes Pferd bei einem Unfall umkommt, hat das Leben für ihn keinen Sinn mehr und er erhängt sich.

„Es werde Licht ...“. In Michajlowka gibt es Meister der Improvisation. Sie bauen mit lauter gestohlenem und improvisiertem Material eine elektrische Leitung.

„Njet“ ist die Geschichte einer Ungarin aus Siebenbürgen, die mit einem Ukrainer verheiratet ist. Während des Krieges erhält sie die Verständigung, er sei gefallen. Bald heiratet sie wieder einen Ukrainer. Als auch der stirbt, geht sie nach Rumänien zurück. Dort trifft sie nach einiger Zeit zufällig ihren ersten Mann, der nicht gefallen, sondern nur verwundet worden war. Nach seiner Genesung hatte er sich vergebens bemüht, seine Frau wiederzufinden. Nun erlaubte man ihm nicht, sich in Rumänien niederzulassen. Sie wiederum erhält keine Zuzugsgenehmigung in die Ukraine. So leben sie zwar verheiratet, aber jeder in einem anderen Staat.

Es ist tatsächlich alles so geschehen wie geschildert. „Kein Wort dieser Sammlung von Geschichten“, schreibt Zeidner, „ist erlogen, verbogen oder umgedeutet.“ Wenn im Text die Sowjetunion erwähnt wird, wird ein ironischer, spöttischer Ton angeschlagen, eine Art von Humor, der nicht zu einem befreienden Lachen führt. Leider fehlt ein kurzes Nachwort oder zumindest ein Klappentext, aus dem der Leser einige Daten über Leben und Werk Zeidners erfahren hätte.

Walter Roth


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