28. November 2020

Engagierte Zenderscherin: Nachruf auf Regina Bell

Regina Bell wurde am 1. Juli 1934 als erstes Kind von Regina und Andreas Bretz in Zendersch geboren. Bis zum Ausbruch des Krieges verbrachte sie ihre Kindheit im behüteten bäuerlichen Elternhaus, doch nachdem der Vater zum Militär einberufen wurde, veränderte sich das Leben der Familie. Fortan war ihre Mutter mit den beiden Töchtern und der Landwirtschaft allein. Regina lernte früh, Verantwortung für sich und ihre sieben Jahre jüngere Schwester Katharina zu übernehmen, zu der sie zeitlebens ein sehr enges Verhältnis hatte.
Mit aufwändig verzierten Honigkeksen und ...
Mit aufwändig verzierten Honigkeksen und Nikoläusen machte Regina Bell zusammen mit ihrer Schwester Katharina Weber jahrzehntelang den Zenderscher Kindern bei der alljährlichen Weihnachtsfeier eine Freude.
Als die Gemeinde Zendersch im September 1944 evakuiert wurde und die Wirren des Krieges das Kokeltal in tiefgreifende Veränderungen stürzten, war sie zehn Jahre alt. Die ursprünglich durch das deutsche Militär für wenige Tage angekündigte Evakuierung verwandelte sich in kurzer Zeit in eine Flucht ohne absehbares Ende. Nach einer achtwöchigen Zugfahrt auf offenen Güterwaggons kamen die Zenderscher Sachsen in Lähn/Schlesien an, wo sie in einem Lager untergebracht wurden. Das letzte Mal sahen die beiden Schwestern ihren Vater, der als Soldat beim deutschen Militär diente und in Polen stationiert war, in diesem Flüchtlingslager, wo er die Familie zwei Mal besuchen konnte. Kurze Zeit nach seinem zweiten Besuch galt er als vermisst. Nach Kriegsende erlaubten die Russen im September 1945 den geflüchteten Zenderschern, wieder in ihr Heimatdorf zurückzukehren. Doch dort war jetzt alles ganz anders: Die Häuser waren besetzt, die vorigen Eigentümer enteignet. Man versuchte, bei den neuen Besitzern, in der Schule, im Pfarrhaus oder in leerstehenden Viehställen unterzukommen. Es gab weder Lehrer noch Pfarrer, die Kinder waren auf sich allein gestellt. Aufgrund des Lehrermangels konnte Regina nur fünf Volksschulklassen besuchen.

Nach der Konfirmation am 10. April 1949 arbeitete Regina Bell in der Landwirtschaft mit. Am 17. Februar 1957 heiratete sie Andreas Bell, ebenfalls aus Zendersch. Auch er hatte ein Elternteil, die Mutter, während der Flucht in Schlesien verloren. Das Ehepaar Bell hatte keine Kinder, pflegte jedoch ein liebevolles Verhältnis zu Nichten, Neffen und anderen Kindern aus dem Freundes- und Familienkreis. Für insgesamt 33 Kinder von Verwandten und Freunden wurden sie Paten.

1983 siedelten Regina Bell und ihr Mann nach Deutschland aus und fanden in Stuttgart-Weilimdorf, wo sich auch viele andere Zenderscher niedergelassen hatten, ihr neues Zuhause. Das Ehepaar genoss viele Reisen in die nähere Umgebung und in die weite Welt. Dank ihrer Geselligkeit, Hilfsbereitschaft und ihres zwischenmenschlichen Geschicks fiel es ihnen leicht, Freundschaften und gute Bekanntschaften in der neuen Heimat zu knüpfen.

Auch die Kontakte zu den heutigen Zenderscher Dorfbewohnern aller Ethnien wurden gepflegt. Das Interesse an den Menschen und den Entwicklungen in Zendersch behielt Regina Bell bis zuletzt – sie telefonierte nur wenige Tage vor ihrem Tod mit ihren Freunden in Zendersch, um etwas über die aktuelle Lage vor Ort zu erfahren.

Schon seit früher Kindheit hatte Regina Bell besondere Freude an der Handarbeit. Angefangen vom Spinnen und Weben über das Stricken, Nähen und Kreuzstich-Sticken beherrschte sie alle Handarbeiten und führte diese mit einer unnachahmlichen Achtsamkeit und Präzision aus. Mit größter Sorgfalt und Geduld arbeitete sie, seitdem sie es in ihrer Jugend von der Großmutter und der Mutter erlernt hatte, bis kurz vor ihrem Tod an siebenbürgisch-sächsischen Trachten. Ihr Qualitätsanspruch an die Handarbeiten wurde dadurch charakterisiert, dass die Rückseite einer Kreuzstich-Arbeit genauso auszusehen hatte wie die Vorderseite. Zusammen mit ihrer Schwester Katharina schneiderte und bestickte sie Trachtenhemden, Röcke, Schürzen, Krawatten, Trachtenbeutel, die beiden nähten und reparierten Trachtengürtel, Trachtenbänder, Borten und machten Brautkränze. Kurzum – die Schwestern waren für alle Anliegen in Bezug auf Herstellung und Pflege der Trachtenstücke die erste Anlaufstelle der Zenderscher. Außer den Trachten stellten sie mit viel Geschick beispielsweise auch das Altartuch für die Zenderscher Kirche her. Mit Fachwissen und Eifer unterstützen sie auch eine Vielzahl von Projekten und Aktivitäten der HOG Zendersch, z.B. das Singspiel „Zendersch in dem Traubenland“ (2002), die Ausstellung über das Zwischenkokelgebiet im Spitalhof Dinkelsbühl (2015) ebenso wie die Trachtenumzüge und Veranstaltungen, z.B. „Hochzeitsbräuche im Zwischenkokelgebiet“ (2015) in Dinkelsbühl. Die von ihnen hergestellten Trachtenpuppen fanden bei Ausstellungen anlässlich der Zenderscher Treffen großen Anklang. Die beiden Schwestern waren stets fachkundige und zuverlässige Berater der Zenderscher bei allen Fragen und Anliegen rund um die Themen Handarbeiten und Brauchtumspflege, wofür die Zenderscher Gemeinschaft ihnen zu großem Dank verpflichtet ist.

Das Engagement und die Herzensarbeit von Regina Bell in Zendersch lässt sich an den folgenden Beispielen veranschaulichen: Im Rahmen der Vorbereitungen für die Treffen der Zenderscher in der alten Heimat (2005 und 2015) organisierte sie die Reinigung der Kirche, bepflanzte den Innenhof der Kirchenburg mit Blumen, bestellte beim örtlichen Schreinermeister eine Bank für den Kirchhof und ließ zusammen mit ihrem Mann 2005 auf eigene Kosten den Tanzplatz „Roajen“ asphaltieren, sodass dieser zum gemeinsamen Tanz „wiederbelebt“ werden konnte. Ihrer Aufmerksamkeit und Initiative verdanken wir eine Kastanie im Kirchhof, die sie als Ersatz für einen alten Kastanienbaum gepflanzt hat und die bis heute bei sommerlichen Besuchen Schatten spendet. Wenn sie etwas sah, das gemacht werden musste, ergriff sie stets die Initiative und brachte das Angefangene mit großem Elan und Einsatz zu Ende.

Regina Bell verstand es, Bekannte und Freunde mit lustigen Geschichten und Witzen zu unterhalten. Sie lachte gern und es war eine besondere Freude, ihren amüsanten und detailreichen Anekdoten über das Leben in Siebenbürgen zuzuhören. Aber sie war eine ebenso gute Zuhörerin, die ihrem Gegenüber volle Aufmerksamkeit und Zuwendung schenkte.

Regina Bell starb am 28. Oktober 2020 friedlich im Alter von 86 Jahren in ihrem Zuhause in Stuttgart. Ihr fundiertes Wissen und unbestechliches Gedächtnis, ihre Lebensfreude, ihre Offenheit und ihre Geschichten werden uns fehlen.

Dietlinde Lutsch – HOG Zendersch

Schlagwörter: Nachruf, Zendersch, HOG, Trachten, deutsch-rumänische Beziehungen

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  • 28.11.2020, 09:04 Uhr von sibisax: Eine sehr tüchtige und begabte Frau kann man sagen,nein,MUß man sagen.Die Zenderscher und nicht nur ... [weiter]

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