8. Februar 2024
Stolzenburger Nachbarschaftsbücher aufgetaucht
Zwei der vier Stolzenburger Nachbarschaftsbücher sind kürzlich aufgetaucht. Da kaum jemand diese wichtigen Zeitdokumente unserer Heimatgemeinde je zu Gesicht bekommen hat, weil sie früher stets vom Altnachbarn (Vorsitzenden) sicher verwahrt und vom Schriftführer jährlich fortgeschrieben wurden, möchte ich sie hier interessierten Lesern vorstellen.
Die Nachbarschaften (NB) waren bekanntlich eine für das siebenbürgisch-sächsische Gemeinwesen sehr wichtige, typische Einrichtung und ausschließlich Männersache: Ein verheirateter Mann konnte sich als Familienoberhaupt in die Nachbarschaft (NB) einkaufen (äbidden), wenn er die Leistungen derselben in Anspruch nehmen wollte: Unterstützung (auch finanzielle) bei einer Beerdigung, Hilfe beim Hausbau oder bei Notfällen. Dafür musste er auch allen Pflichten nachkommen: Beteiligung an Gemeinschaftsarbeiten an Kirche, Pfarrhaus und Burg, Anwesenheit und Aufgaben bei Beerdigungen und Zusammenkünften sowie Einzahlen in den Leichenfonds. Auch kam irgendwann an ihn die Reihe Mahlgeber zu sein, also die dreitägige Faschingszusammenkunft aller Mitglieder seiner NB beherbergen und Essen und Gebäck aus eigener Tasche bestreiten. Den Wein und das Fleisch stellte allerdings die Nachbarschaft gemeinschaftlich. Wer nicht Gastgeber sein konnte oder wollte, musste einen sehr hohen Betrag zahlen, um weiter Mitglied der NB zu bleiben, denn es war erwünscht, dass man in natura und nicht in Geld das Mahl gab.
Übrigens, die Fäousnicht (Fastnacht) begann in Stolzenburg erst am Aschermittwoch (wenn andernorts bereits Kehraus ist), ähnlich der alemannischen, der sog. Buurefasnet, die nach Aschermittwoch beginnt. Nach der streng-ernsten Sitzung („Zugang“ mit „Gericht“ und „Versöhnung“) am Aschermittwoch ging das Feiern am Donnerstag weiter und nach einer Pause am Freitag kamen am Samstag auch die Ehefrauen dazu und sorgten mit Musik und Tanz für Geselligkeit und Unterhaltung.
Bekanntlich gab es in Stolzenburg vier Nachbarschaften: Die kleinste, die Erste, war die Kirchgässer NB. Sie erstreckte sich über die Kirchgasse von der „Koprativ“ gegenüber vom Hallmen, dem „Spätz“ bis zum „Paulen Tin“ (Wenzel); „de Ëiwerschten“ (Obergasse) waren die sog. Zweite NB und die Dritte umfasste die Anglergasse, auch Angerlein genannt, während „de Nedderschten“, lt. Buch die Vierte, die größte NB war. Sie umfasste die Niedergasse, den Winkel, das Trajement/Postgasse, die Glodaren, die Zeile und die (!) Hundsbach...
Im Folgenden möchte ich auf den faszinierenden Inhalt dieser Bücher eingehen, die allein schon durch ihre Maße (30x40, 30x45 cm!) und ihr Gewicht (2,3 bzw. 4,2 kg!) beeindrucken, ganz zu schweigen von ihrem Alter (Beginn der Aufzeichnungen 1869 bzw. 1872) und der kalligraphisch einwandfreien Kurrent- oder Sütterlinschrift (bis 1943, danach lateinische Schrift), die ich leider nur teilweise entziffern kann. Ein Hauptgrund, über diese wertvollen Zeitdokumente wenn auch nur als Laie zu berichten, ist die Tatsache, dass kaum jemand unserer Landsleute diese Bücher je zu Gesicht bekommen hat, da nur der Altnachbar und der Schriftführer, das Amt, sie verwahrt und jährlich fortgeschrieben haben. Daher möchte ich den interessierten Lesern diese Zeitdokumente hier vorstellen. Landsleute, die etwas zu dem Verbleib der restlichen Nachbarschaftsbücher wissen, können sich gerne beim Förderverein Stolzenburg e. V. oder bei mir melden, um noch mehr über das nachbarschaftliche Leben in Stolzenburg zu erfahren.
b) Danach findet man das fortlaufende Namensverzeichnis aller Nachbarschaftsmitglieder mit Hausnummer, Geburts-, Eintrittsdatum in die NB und eine Spalte für Bemerkungen, z. B. Todes- oder Austritts-, Abwanderungsdatum.
c) Es folgen die Niederschriften der jährlichen Aschermittwochs-Sitzungen, der sog. Zugänge. Bei der einen NB heißen sie "Protokoll", bei der anderen "Verzeichnis" und beinhalten den Ablauf dieser Sitzungen, deren Vorsitz in der Regel der Altnachbar hatte. Mindestens ein weiterer "Zugang" im September/Oktober ist dokumentiert, nämlich wenn die Weintrauben für den Nachbarschaftswein gekauft wurden. Auch bei außergewöhnlichen Vorkommnissen, Streitigkeiten, usw. kann eine Sitzung mitten im Jahr angeordnet werden. Anwesenheitspflicht ist bei diesen und vor allem bei Beerdigungen und Gemeinschaftsarbeiten zwingend. Entschuldigt ist nur, wer ein ärztliches Zeugnis oder eine Gerichtsladung vorweisen kann.
Zu den Sitzungsprotokollen: Man sollte denken, dass diese in beiden Nachbarschaftsbüchern nahezu identisch aufgebaut sind, exakt dem gleichen Muster folgend. Mitnichten. Während die eine NB im Aschermittwochs-Protokoll Gericht, Versöhnung, das Einsammeln der Strafgelder und recht summarisch Einnahmen, Ausgaben und Kassenstand preisgibt, fällt das sog. "Verzeichnis" der anderen NB sehr detailliert aus: Ablauf des Zugangs (Fastnachtssitzung) mit „Richttag“, Einsammeln der Strafgelder, recht ausführlichem tabellarischem Rechenschaftsbericht sowie Aufzählung aller Beerdigungen des vergangenen Jahres, sogar mit Anzahl der fehlenden „Nachbarn“ (=Mitglieder).
Beide NB vermerken im Protokoll eingangs die Begrüßung durch den Altnachbarn, das "Verlesen" (=Anwesenheitsprüfung), Anmeldungen von Neuzugängen, Abdankungen, Bestellung der Gastgeber für das Folgejahr, etc. Bei beiden Nachbarschaften werden an dieser Stelle auch Anträge, Abstimmungen und Beschlüsse festgehalten.
Während eine NB die "Versöhnung" zerstrittener Nachbarn direkt in der Aschermittwochssitzung abhält, wird dieser Punkt bei der anderen NB zu einem späteren Datum im März oder April erledigt, auf jeden Fall VOR Ostern, damit die Ausgesöhnten guten Gewissens zum Abendmahl gehen können, denn wir alle wissen: Wenn man mit jemandem zerstritten ist, darf man nicht zum Abendmahl gehen.
Die "Ämter" sind wie folgt festgelegt, werden laufend bestätigt oder ggf. neu bestellt:
- Altnachbar
- Mittelaltnachbar/Jungaltnachbar (1. Vertreter des Altnachbarn)
- Jungaltnachbar/Jüngstaltnachbar (2. Vertreter)
- Schriftführer/Schreiber
- drei Aufseher/Aufschauer
- eine bestimmte Anzahl an Sargträgern werden für vier, später für zwei Jahre festgelegt: die "Herausbringer" (aus dem Haus) und "die zum Friedhof tragen".
Die Geldstrafen bei Abwesenheit bei Beerdigungen sind für die o.g. Amtsträger doppelt so hoch wie für Nachbarn ohne ein Amt. Um die Strafzahlung abzuwenden, kann man eine Vertretung schicken. Auf meine Frage an einen Landsmann, ob auch eine Frau ihren Mann bei der Beerdigung vertreten könne, lautete die kategorische Antwort: „Nein, nur Maintschen" (Menschen)!? -
Übrigens mit "Nachbar" und dem Familiennamen hatte man sich bei offiziellen Veranstaltungen anzusprechen. Bei einer Zusammenkunft unaufgefordert aufzustehen von seinem altersgemäß zugewiesenen Platz an der Tafel oder das Wort ungefragt zu ergreifen, war undenkbar, zu Neudeutsch ein No-Go! Auch vorzeitiges Verlassen des Friedhofs "vor dem Einscharren" oder den sich anschließenden Trauergottesdienst zu schwänzen, wurde mit Geldstrafen belegt.
Da die beiden NB sehr groß waren, fanden die Bewirtungen nach gemeinsam abgehaltener Aschermittwochs-Sitzung bei jeweils drei oder vier Gastgebern statt. Die Zuteilung zum jeweiligen „Mahlgeber“ wurde vom Altnachbarn und seinen Vertretern festgelegt.
Später wurden es nur noch drei, 1983 lediglich zwei Gastgeber pro NB und 1990 schließlich, mit dem Exodus, schlossen sich sogar alle vier NB zu einer einzigen zusammen und feierten - von anfänglich 300-400 Nachbarn zu einem Häufchen geschrumpft - im Jugendzimmer des Pfarrhauses die Fastnacht.
Denkwürdiges können wir in einem der Bücher über die Jahre 1944, 1945, ff. erfahren:
Am 15. März 1944 endet die Aschermittwochs-Sitzung: „Mit dem Wunsch, dass bald wieder normale Zeiten kommen mögen, schließt der Altnachbar den Zugang.“
1945 konnte der Aschermittwoch nicht abgehalten werden: Viele Männer waren noch im Krieg oder in Gefangenschaft und mehr als 200 Personen waren erst kürzlich deportiert worden. Die Anmerkung des Mittelaltnachbarn umfasst eine ganze Buchseite: „Mit dem Durchbrausen des Krieges durch unsere liebe Heimat im September 1944 begann die schwerste Zeit der Erniedrigung, Plage und Not für unsere Gemeinde...“, aber auch Hoffnung wird zum Schluss geäußert: „Aus Not werden Gemeinschaften geboren. Das erhalte Gott.“
Die große Teuerung der Nachkriegszeit erkennt man u. a. an den (wertlosen) Beträgen 1946, als der Kassenstand 90.000 Lei betrug.
1947 wurde der Kassenrest von 68.000 Lei einer Kriegswitwe mit fünf Kindern geschenkt und der Mittelaltnachbar äußerte zum Schluss der Sitzung den Wunsch, dass der nächste Zugang eine Vollversammlung werde, „wo keiner mehr fehle“.
Zwischen den Jahren 1951 und 1955 wurden nur die Sitzungen (Gericht und Versöhnung) abgehalten und keine Nachbarschaftsmähler genossen, weil es wohl die wirtschaftliche Lage nicht erlaubte.
Die Kassenberichte der beiden Bücher vergleichend ist festzustellen, dass die eine NB mit ihrem Geld besser wirtschaftete: Es blieb immer ein gewisser Betrag am Jahresende übrig, der beim Altnachbarn aufbewahrt wurde, während die andere NB anscheinend auf größerem Fuße lebte: die Ausgaben überstiegen oft die Einnahmen. Bemerkenswert ist übrigens, dass dieselbe NB 1982 das Rauchen beim Nachbarschaftsessen verboten hatte. Fortschrittlich!
Aber auch bei der sparsameren NB wurde nicht geknausert, wenn es um "lebenswichtige" Dinge ging: Ein Antrag, 1956 zwei Weinfässer beim Büttner für insgesamt 950 Lei zu erwerben, wird einstimmig von der gesamten Nachbarschaft angenommen!
Erfreulich ist, dass die Protokolle nicht nur Nachdenklich-Ernstes enthalten, sondern auch skurril-lustig-drollig Anmutendes:
1956: „die Nachbarn, die zum Fasching der Frauen gehen, werden mit 50 Lei bestraft.“ Oder: „Der Altnachbar begrüßt die Anwesenden auf das Herzlichste und bittet um Ruhe.“ An anderer Stelle heißt es: „Der Altnachbar eröffnet den Zugang und begrüßt die anwesende Nachbarschaft mit Freuden bei ihrer zahlreichen Erscheinung.“
Es herrschen klare Regeln und Disziplin: Alle Nachbarn müssen beim anschließenden Trauergottesdienst erscheinen, „nur die mit dem Werkzeug dürfen nach Hause gehen.“
Hat man für die Fastnachtsfeiern keinen Wein bezahlt, kann man auch keinen genießen (konsumieren) oder andersrum: Wer krankheitsbedingt keinen Wein genießen kann, muss auch keinen bezahlen und erhält das bereits eingezahlte Geld zurück.
Den alten und gebrechlichen Nachbarn, die nicht zum Mahl erscheinen können, wird in einem Pfännchen das Essen nach Hause gebracht, damit sie auch etwas zum Zehren haben.
Weitere Ausdrücke scheinen auch aus längst vergangenen Zeiten zu stammen: Wer wiederholt gegen die Regeln verstößt und seinen Zahlungspflichten nach gesetzter Frist nicht nachkommt, wird aus der Nachbarschaft ausgeschlossen und aus dem Verzeichnis "gestrochen". Ein einstimmig angenommener Beschluss lautet: „sollten Mitglieder eine getraute und eine ungetraute Frau haben, aber mit der ungetrauten Frau zusammenleben, so fällt im Todesfall die getraute Frau in das Recht zur Beerdigung hinein“.
Allerdings verstand ich eine Bemerkung im Buch nicht: Der Nachbar XY musste Strafe zahlen, weil er sich weigerte, „Urlaub zu geben“. Danke Martin für die Erklärung: Ein vom Altnachbarn bestimmtes Mitglied muss dem Gastgeber den Dank für seine Mühe, Kosten und Arbeit in einer festgesetzten Rede aussprechen und da manch junger Mann recht schüchtern oder wenig redegewandt war, sich genierte und weigerte die Ansprache zu halten, wurde er mit einer Geldstrafe belegt, es sei denn, er bat den Altnachbarn ausdrücklich, ihn von dieser Pflicht zu entbinden. Nach dem Urlaubgeben um Punkt 21 Uhr begann dann am Aschermittwoch der gemütliche, gesellige Teil der Fastnacht und dauerte, wie oben erwähnt, bis Samstag.
1956 wurde eine Regelung über den XY getroffen wegen „Verfälschung des Nachbarschaftsweines, was bei ihm im Keller zur Besorgung war“.
1961 wurde ein Nachbar mit einer Geldstrafe belegt, weil er beim Faschingsmahl seine Schuhe ausgezogen und unter den Tisch gestellt hatte: „die Nachbarn haben bei dem stinkigen Geruch das Mahl genossen“ (= essen müssen).
In einem detaillierten Rechenschaftsbericht von 1969 werden die Ausgaben auch begründet: „16 kg Zucker, weil der Most etwas sauer war.“
1982 musste ein Nachbar 100 Lei in die Nachbarschaftskasse zahlen, weil er einen andern geohrfeigt hatte. Ein weiterer Hitzkopf erhielt die gleiche Strafe, weil er dem Altnachbarn zwei Ohrfeigen „angetragen“ hatte!
Es ist festzustellen, dass die Orthographie in den Protokolltexten zwar zu wünschen übriglässt, sie aber nicht Gegenstand meiner Betrachtungen ist. Auch das kalligraphisch Majestätische ist in den letzten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts verloren gegangen. Dafür erstaunt die Tatsache umso mehr, dass die ältere Generation bis in die Mitte des vorigen Jahrhunderts hinein sowohl die altdeutsche als auch die lateinische Schreibschrift beherrschte. Da können wir heute leider nicht mehr mithalten.
Wie bedeutsam die Nachbarschaften und ihre Ältesten für die Gemeinschaft waren, belegt die Bemerkung des Stolzenburger Pfarrers Walther G. Seidner in einem Interview 2008 von Gerda Ziegler, sinngemäß: „Mein Vorgänger, Pfarrer Ernst O. Schneider, empfahl mir, mich in allen Belangen an die Nachbarväter zu wenden. Das habe ich auch getan.“
Übrigens, die Fäousnicht (Fastnacht) begann in Stolzenburg erst am Aschermittwoch (wenn andernorts bereits Kehraus ist), ähnlich der alemannischen, der sog. Buurefasnet, die nach Aschermittwoch beginnt. Nach der streng-ernsten Sitzung („Zugang“ mit „Gericht“ und „Versöhnung“) am Aschermittwoch ging das Feiern am Donnerstag weiter und nach einer Pause am Freitag kamen am Samstag auch die Ehefrauen dazu und sorgten mit Musik und Tanz für Geselligkeit und Unterhaltung.
Bekanntlich gab es in Stolzenburg vier Nachbarschaften: Die kleinste, die Erste, war die Kirchgässer NB. Sie erstreckte sich über die Kirchgasse von der „Koprativ“ gegenüber vom Hallmen, dem „Spätz“ bis zum „Paulen Tin“ (Wenzel); „de Ëiwerschten“ (Obergasse) waren die sog. Zweite NB und die Dritte umfasste die Anglergasse, auch Angerlein genannt, während „de Nedderschten“, lt. Buch die Vierte, die größte NB war. Sie umfasste die Niedergasse, den Winkel, das Trajement/Postgasse, die Glodaren, die Zeile und die (!) Hundsbach...
Im Folgenden möchte ich auf den faszinierenden Inhalt dieser Bücher eingehen, die allein schon durch ihre Maße (30x40, 30x45 cm!) und ihr Gewicht (2,3 bzw. 4,2 kg!) beeindrucken, ganz zu schweigen von ihrem Alter (Beginn der Aufzeichnungen 1869 bzw. 1872) und der kalligraphisch einwandfreien Kurrent- oder Sütterlinschrift (bis 1943, danach lateinische Schrift), die ich leider nur teilweise entziffern kann. Ein Hauptgrund, über diese wertvollen Zeitdokumente wenn auch nur als Laie zu berichten, ist die Tatsache, dass kaum jemand unserer Landsleute diese Bücher je zu Gesicht bekommen hat, da nur der Altnachbar und der Schriftführer, das Amt, sie verwahrt und jährlich fortgeschrieben haben. Daher möchte ich den interessierten Lesern diese Zeitdokumente hier vorstellen. Landsleute, die etwas zu dem Verbleib der restlichen Nachbarschaftsbücher wissen, können sich gerne beim Förderverein Stolzenburg e. V. oder bei mir melden, um noch mehr über das nachbarschaftliche Leben in Stolzenburg zu erfahren.
Zum Aufbau der Bücher
a) Am Anfang stehen die „Artikel“ (Satzung). Die eine Nachbarschaft kommt mit 22 Artikeln aus, während die andere 26 aufweist. Darin ist die Höhe der Gebühren, der Strafen für diverse Vergehen (unentschuldigte Abwesenheit, auch verspätetes Erscheinen, ungebührliches Verhalten, Erscheinen in Arbeitskleidung zur Beerdigung, etc.) festgelegt, immer mit der Bemerkung am Schluss: aber mit Veränderung der Zeiten, (=konjunktur-/inflationsbedingte Erhöhungen möglich).b) Danach findet man das fortlaufende Namensverzeichnis aller Nachbarschaftsmitglieder mit Hausnummer, Geburts-, Eintrittsdatum in die NB und eine Spalte für Bemerkungen, z. B. Todes- oder Austritts-, Abwanderungsdatum.
c) Es folgen die Niederschriften der jährlichen Aschermittwochs-Sitzungen, der sog. Zugänge. Bei der einen NB heißen sie "Protokoll", bei der anderen "Verzeichnis" und beinhalten den Ablauf dieser Sitzungen, deren Vorsitz in der Regel der Altnachbar hatte. Mindestens ein weiterer "Zugang" im September/Oktober ist dokumentiert, nämlich wenn die Weintrauben für den Nachbarschaftswein gekauft wurden. Auch bei außergewöhnlichen Vorkommnissen, Streitigkeiten, usw. kann eine Sitzung mitten im Jahr angeordnet werden. Anwesenheitspflicht ist bei diesen und vor allem bei Beerdigungen und Gemeinschaftsarbeiten zwingend. Entschuldigt ist nur, wer ein ärztliches Zeugnis oder eine Gerichtsladung vorweisen kann.
Zu den Sitzungsprotokollen: Man sollte denken, dass diese in beiden Nachbarschaftsbüchern nahezu identisch aufgebaut sind, exakt dem gleichen Muster folgend. Mitnichten. Während die eine NB im Aschermittwochs-Protokoll Gericht, Versöhnung, das Einsammeln der Strafgelder und recht summarisch Einnahmen, Ausgaben und Kassenstand preisgibt, fällt das sog. "Verzeichnis" der anderen NB sehr detailliert aus: Ablauf des Zugangs (Fastnachtssitzung) mit „Richttag“, Einsammeln der Strafgelder, recht ausführlichem tabellarischem Rechenschaftsbericht sowie Aufzählung aller Beerdigungen des vergangenen Jahres, sogar mit Anzahl der fehlenden „Nachbarn“ (=Mitglieder).
Beide NB vermerken im Protokoll eingangs die Begrüßung durch den Altnachbarn, das "Verlesen" (=Anwesenheitsprüfung), Anmeldungen von Neuzugängen, Abdankungen, Bestellung der Gastgeber für das Folgejahr, etc. Bei beiden Nachbarschaften werden an dieser Stelle auch Anträge, Abstimmungen und Beschlüsse festgehalten.
Während eine NB die "Versöhnung" zerstrittener Nachbarn direkt in der Aschermittwochssitzung abhält, wird dieser Punkt bei der anderen NB zu einem späteren Datum im März oder April erledigt, auf jeden Fall VOR Ostern, damit die Ausgesöhnten guten Gewissens zum Abendmahl gehen können, denn wir alle wissen: Wenn man mit jemandem zerstritten ist, darf man nicht zum Abendmahl gehen.
Die "Ämter" sind wie folgt festgelegt, werden laufend bestätigt oder ggf. neu bestellt:
- Altnachbar
- Mittelaltnachbar/Jungaltnachbar (1. Vertreter des Altnachbarn)
- Jungaltnachbar/Jüngstaltnachbar (2. Vertreter)
- Schriftführer/Schreiber
- drei Aufseher/Aufschauer
- eine bestimmte Anzahl an Sargträgern werden für vier, später für zwei Jahre festgelegt: die "Herausbringer" (aus dem Haus) und "die zum Friedhof tragen".
Die Geldstrafen bei Abwesenheit bei Beerdigungen sind für die o.g. Amtsträger doppelt so hoch wie für Nachbarn ohne ein Amt. Um die Strafzahlung abzuwenden, kann man eine Vertretung schicken. Auf meine Frage an einen Landsmann, ob auch eine Frau ihren Mann bei der Beerdigung vertreten könne, lautete die kategorische Antwort: „Nein, nur Maintschen" (Menschen)!? -
Übrigens mit "Nachbar" und dem Familiennamen hatte man sich bei offiziellen Veranstaltungen anzusprechen. Bei einer Zusammenkunft unaufgefordert aufzustehen von seinem altersgemäß zugewiesenen Platz an der Tafel oder das Wort ungefragt zu ergreifen, war undenkbar, zu Neudeutsch ein No-Go! Auch vorzeitiges Verlassen des Friedhofs "vor dem Einscharren" oder den sich anschließenden Trauergottesdienst zu schwänzen, wurde mit Geldstrafen belegt.
Da die beiden NB sehr groß waren, fanden die Bewirtungen nach gemeinsam abgehaltener Aschermittwochs-Sitzung bei jeweils drei oder vier Gastgebern statt. Die Zuteilung zum jeweiligen „Mahlgeber“ wurde vom Altnachbarn und seinen Vertretern festgelegt.
Später wurden es nur noch drei, 1983 lediglich zwei Gastgeber pro NB und 1990 schließlich, mit dem Exodus, schlossen sich sogar alle vier NB zu einer einzigen zusammen und feierten - von anfänglich 300-400 Nachbarn zu einem Häufchen geschrumpft - im Jugendzimmer des Pfarrhauses die Fastnacht.
Denkwürdiges können wir in einem der Bücher über die Jahre 1944, 1945, ff. erfahren:
Am 15. März 1944 endet die Aschermittwochs-Sitzung: „Mit dem Wunsch, dass bald wieder normale Zeiten kommen mögen, schließt der Altnachbar den Zugang.“
1945 konnte der Aschermittwoch nicht abgehalten werden: Viele Männer waren noch im Krieg oder in Gefangenschaft und mehr als 200 Personen waren erst kürzlich deportiert worden. Die Anmerkung des Mittelaltnachbarn umfasst eine ganze Buchseite: „Mit dem Durchbrausen des Krieges durch unsere liebe Heimat im September 1944 begann die schwerste Zeit der Erniedrigung, Plage und Not für unsere Gemeinde...“, aber auch Hoffnung wird zum Schluss geäußert: „Aus Not werden Gemeinschaften geboren. Das erhalte Gott.“
Die große Teuerung der Nachkriegszeit erkennt man u. a. an den (wertlosen) Beträgen 1946, als der Kassenstand 90.000 Lei betrug.
1947 wurde der Kassenrest von 68.000 Lei einer Kriegswitwe mit fünf Kindern geschenkt und der Mittelaltnachbar äußerte zum Schluss der Sitzung den Wunsch, dass der nächste Zugang eine Vollversammlung werde, „wo keiner mehr fehle“.
Zwischen den Jahren 1951 und 1955 wurden nur die Sitzungen (Gericht und Versöhnung) abgehalten und keine Nachbarschaftsmähler genossen, weil es wohl die wirtschaftliche Lage nicht erlaubte.
Die Kassenberichte der beiden Bücher vergleichend ist festzustellen, dass die eine NB mit ihrem Geld besser wirtschaftete: Es blieb immer ein gewisser Betrag am Jahresende übrig, der beim Altnachbarn aufbewahrt wurde, während die andere NB anscheinend auf größerem Fuße lebte: die Ausgaben überstiegen oft die Einnahmen. Bemerkenswert ist übrigens, dass dieselbe NB 1982 das Rauchen beim Nachbarschaftsessen verboten hatte. Fortschrittlich!
Aber auch bei der sparsameren NB wurde nicht geknausert, wenn es um "lebenswichtige" Dinge ging: Ein Antrag, 1956 zwei Weinfässer beim Büttner für insgesamt 950 Lei zu erwerben, wird einstimmig von der gesamten Nachbarschaft angenommen!
Erfreulich ist, dass die Protokolle nicht nur Nachdenklich-Ernstes enthalten, sondern auch skurril-lustig-drollig Anmutendes:
1956: „die Nachbarn, die zum Fasching der Frauen gehen, werden mit 50 Lei bestraft.“ Oder: „Der Altnachbar begrüßt die Anwesenden auf das Herzlichste und bittet um Ruhe.“ An anderer Stelle heißt es: „Der Altnachbar eröffnet den Zugang und begrüßt die anwesende Nachbarschaft mit Freuden bei ihrer zahlreichen Erscheinung.“
Es herrschen klare Regeln und Disziplin: Alle Nachbarn müssen beim anschließenden Trauergottesdienst erscheinen, „nur die mit dem Werkzeug dürfen nach Hause gehen.“
Hat man für die Fastnachtsfeiern keinen Wein bezahlt, kann man auch keinen genießen (konsumieren) oder andersrum: Wer krankheitsbedingt keinen Wein genießen kann, muss auch keinen bezahlen und erhält das bereits eingezahlte Geld zurück.
Den alten und gebrechlichen Nachbarn, die nicht zum Mahl erscheinen können, wird in einem Pfännchen das Essen nach Hause gebracht, damit sie auch etwas zum Zehren haben.
Weitere Ausdrücke scheinen auch aus längst vergangenen Zeiten zu stammen: Wer wiederholt gegen die Regeln verstößt und seinen Zahlungspflichten nach gesetzter Frist nicht nachkommt, wird aus der Nachbarschaft ausgeschlossen und aus dem Verzeichnis "gestrochen". Ein einstimmig angenommener Beschluss lautet: „sollten Mitglieder eine getraute und eine ungetraute Frau haben, aber mit der ungetrauten Frau zusammenleben, so fällt im Todesfall die getraute Frau in das Recht zur Beerdigung hinein“.
Allerdings verstand ich eine Bemerkung im Buch nicht: Der Nachbar XY musste Strafe zahlen, weil er sich weigerte, „Urlaub zu geben“. Danke Martin für die Erklärung: Ein vom Altnachbarn bestimmtes Mitglied muss dem Gastgeber den Dank für seine Mühe, Kosten und Arbeit in einer festgesetzten Rede aussprechen und da manch junger Mann recht schüchtern oder wenig redegewandt war, sich genierte und weigerte die Ansprache zu halten, wurde er mit einer Geldstrafe belegt, es sei denn, er bat den Altnachbarn ausdrücklich, ihn von dieser Pflicht zu entbinden. Nach dem Urlaubgeben um Punkt 21 Uhr begann dann am Aschermittwoch der gemütliche, gesellige Teil der Fastnacht und dauerte, wie oben erwähnt, bis Samstag.
1956 wurde eine Regelung über den XY getroffen wegen „Verfälschung des Nachbarschaftsweines, was bei ihm im Keller zur Besorgung war“.
1961 wurde ein Nachbar mit einer Geldstrafe belegt, weil er beim Faschingsmahl seine Schuhe ausgezogen und unter den Tisch gestellt hatte: „die Nachbarn haben bei dem stinkigen Geruch das Mahl genossen“ (= essen müssen).
In einem detaillierten Rechenschaftsbericht von 1969 werden die Ausgaben auch begründet: „16 kg Zucker, weil der Most etwas sauer war.“
1982 musste ein Nachbar 100 Lei in die Nachbarschaftskasse zahlen, weil er einen andern geohrfeigt hatte. Ein weiterer Hitzkopf erhielt die gleiche Strafe, weil er dem Altnachbarn zwei Ohrfeigen „angetragen“ hatte!
Es ist festzustellen, dass die Orthographie in den Protokolltexten zwar zu wünschen übriglässt, sie aber nicht Gegenstand meiner Betrachtungen ist. Auch das kalligraphisch Majestätische ist in den letzten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts verloren gegangen. Dafür erstaunt die Tatsache umso mehr, dass die ältere Generation bis in die Mitte des vorigen Jahrhunderts hinein sowohl die altdeutsche als auch die lateinische Schreibschrift beherrschte. Da können wir heute leider nicht mehr mithalten.
Wie bedeutsam die Nachbarschaften und ihre Ältesten für die Gemeinschaft waren, belegt die Bemerkung des Stolzenburger Pfarrers Walther G. Seidner in einem Interview 2008 von Gerda Ziegler, sinngemäß: „Mein Vorgänger, Pfarrer Ernst O. Schneider, empfahl mir, mich in allen Belangen an die Nachbarväter zu wenden. Das habe ich auch getan.“
Astrid K. Thal, geb. Schneider
Schlagwörter: Stolzenburg, Nachbarschaften
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