17. November 2012

Triste Lage auf dem Land: Interview mit Dr. Paul-Jürgen Porr

Die Auswanderung der meisten Siebenbürger Sachsen ließ viele alte und hilfsbedürftige Menschen zurück, die auf Unterstützung angewiesen sind. Verzweifelte Landsleute aus Siebenbürgen, die aufgrund gesundheitlicher Probleme in Not sind, wenden sich zunehmend an das Sozialwerk der Siebenbürger Sachsen in München. „Die Fälle sind meist kompliziert, die Anforderungen gehen weit über das bisher von uns geförderte Maß hinaus“, stellt der Vorsitzende des Sozialwerks, Dr. Johann Kremer, fest. Er regte auch an, Dr. Paul-Jürgen Porr als kompetenten Partner über die soziale Situation und die Entwicklungen im rumänischen Gesundheitswesen zu befragen. Porr ist Chefarzt der 1. Medizinischen Klinik am Hermannstädter Kreiskrankenhaus und seit 16 Jahren Vorsitzender des Demokratischen Forums der Deutschen in Siebenbürgen. Das folgende Interview führte Holger Wermke.
Als Vorsitzender des Siebenbürgenforums küm­mern Sie sich auch um die Belange der Sachsen in Siebenbürgen. Wie hoch ist derzeit die Zahl hilfsbedürftiger Landsleute?
Im Jahr 2012 wurden etwa 2 000 Bedürftige vom Sozialwerk der Siebenbürger Sachsen, davon 800 aus Mitteln des Bundesinnenministeriums unterstützt.

Hat sich die soziale Lage der Landsleute in den vergangenen Jahren verbessert?
Verbessert sicherlich nicht – angesichts der allgemeinen Lage in Rumänien. Die Wirtschaftskrise hat Spuren hinterlassen. Die Leute verdienen im Prinzip weniger. Ein Viertel des Gehalts der im öffentlichen Dienst beschäftigten Menschen wurde gestrichen. Erst jetzt kommen sie in zwei Stufen wieder auf das Ausgangsniveau von 2010. Genauso die Renten, die um 15 Prozent gekürzt wurden. Dies gilt rumänienweit, inklusive für die Siebenbürger Sachsen, inklusive für unsere Alten und Bedürftigen.

Wie erleben Sie die Lage der Menschen?
Die Lage ist sehr trist, vor allem auf dem Land. In den Dörfern, wo noch ein paar alte Sachsen leben, oft nur drei, fünf oder zehn Leute. In der Regel sind die Verwandten in Deutschland. Die Alten haben seinerzeit gesagt: „Mit meinen über 80 Jahren, was soll ich noch dort? Sterben kann ich auch hier.“ Diese Menschen werden immer älter und gebrechlicher, immer weniger – das sind unsere Problemfälle. Daher haben wir die Altenheime in Kronstadt, Schweischer, Hermannstadt oder Scholten.

Wie werden die alten und bedürftigen Menschen unterstützt?
Das Siebenbürgenforum hilft indirekt über die Saxonia-Stiftung. Sonst haben wir keine Möglichkeit, zu helfen. Die Gelder, die wir von der rumänischen Regierung erhalten, bekommen wir nicht für soziale Probleme. Über das Bundesinnenministerium werden die Altenheime finanziert, fast zu hundert Prozent. Ohne diese Hilfe wären die Altenheime wahrscheinlich schon längst abgewickelt. Hinzu kommen über das Sozialwerk noch immer konsistente Spenden der landsmannschaftlichen Verbände der Siebenbürger Sachsen in Deutschland und Österreich sowie jener in Kanada und den USA.

Wie bewerten Sie die Unterstützung durch das Sozialwerk der Siebenbürger Sachsen?
Es gibt seit Jahren eine sehr gute, sehr effiziente Zusammenarbeit des Sozialwerks mit der Saxonia-Stiftung und ich hoffe, das wird auch in Zukunft so bleiben. In dieser Hinsicht gab es nie Probleme. Wenn es Probleme gab, dann hier vor Ort, z.B. dass in gewissen Foren die Listen der bedürftigen Mitglieder nicht erneuert wurden. Mitunter waren Personen auf den Listen, die schon verstorben waren. Das wusste man in Deutschland, hier im betreffenden Zentrumsforum wusste man das nicht.

Dr. Paul-Jürgen Porr beim Heimattag 2010 in ...
Dr. Paul-Jürgen Porr beim Heimattag 2010 in Dinkelsbühl. Foto: Lukas Geddert
Werden die Listen in Siebenbürgen mittlerweile stärker kontrolliert?
Wir aktualisieren diese Listen einmal im Jahr. Das ist die Aufgabe jedes Zentrums- bzw. Ortsforums. Ich kann nicht aus Hermannstadt prüfen, wer in den einzelnen Ortschaften bedürftig ist. Wir hatten nicht nur Nachlässigkeitsfehler, es gab leider auch Betrug. In Hunedoara zum Beispiel. Da waren plötzlich praktisch alle Forumsmitglieder auf der Bedürftigenliste. Das dortige Forum wurde letztlich wegen dieser und anderer Machenschaften aufgelöst und die Angelegenheit dem Gericht übergeben. Nach dieser Affäre fuhr der Geschäftsführer des Siebenbürgenforums, Benjamin Józsa, aus Hermannstadt nach Hunedoara, um die Pakete den Russlanddeportierten persönlich zu übergeben. Auch der Vorsitzende des Kronstädter Kreisforums, Wolfgang Wittstock, ist persönlich in fast alle Zentrumsforen gefahren.

Das Sozialwerk betreut rund 2 000 bedürftige Landsleute in Siebenbürgen zwei Mal im Jahr mit Hilfen in Höhe von je 100 Lei. Kann man mit diesen Hilfen Heizungskosten und Strom bezahlen?
Auch das bedeutet eine Hilfe. Jahrelang kamen Pakethilfen; für eine bestimmte Summe wurden Pakete hier von der Saxonia eingekauft. Die Paketinhalte waren alle gleich. Doch gibt es viele Fälle, in denen nicht der Nahrungsmangel das Problem ist, sondern diese Menschen haben kein Geld, um die Heizung oder den Strom zu bezahlen. In solchen Fällen sind dieselben Summen als Geldhilfe besser bzw. hilfreicher angelegt.

Welche Bedeutung messen Sie der Einzelbetreuung bedürftiger Siebenbürger Sachsen durch das Sozialwerk bei?
Wenn von jemandem aus Deutschland eine Hilfe für eine bestimmte Person kommt, so geht das sicher in Ordnung. Ansonsten muss man von Fall zu Fall entscheiden.

Beim Sozialwerk in München gehen Anfragen für Medikamente und auch komplizierte Operationen/Therapien ein. Wie dringend schätzen Sie als Arzt diese Hilferufe ein, wie groß ist der Handlungsbedarf?
Auch das ist von Fall zu Fall verschieden. Es gibt Leute, die benötigen eine spezielle Operation oder Therapie, die in Rumänien nicht durchgeführt werden kann. Dafür gibt es theoretisch die Möglichkeit, das mit der Versicherungskarte E112 zu machen, aber die Krankenkasse drückt sich leider, wo sie kann, mit fadenscheinigen Ausreden. Und dann wenden sich diese Leute an das Rote Kreuz, Stiftungen oder das Sozialwerk. In anderen Fällen kann man das Verlangte auch in Rumänien erledigen, nur wissen es die Leute nicht – weil z.B. jemand in Marpod von seinem behandelnden Arzt nicht aufgeklärt wird, dass er diese Operation in Bukarest oder Klausenburg machen kann.

Ist es in Siebenbürgen bekannt, dass es diese Hilfen nur dank der großzügigen Spenden unserer Landsleute aus Deutschland, Österreich, Kanada und Amerika gibt?
Ja, das ist bekannt. Das wird den Menschen auch jedesmal gesagt und es gibt viele, die sich persönlich mit Briefen oder Postkarten beim Sozialwerk bedanken.

Herr Porr, wie schätzen Sie die aktuelle Situation des Gesundheitswesens in Rumänien ein?
Leider noch immer sehr schlecht. Der Hauptgrund ist, dass es noch immer nur eine einzige staatliche Krankenkasse gibt und deren Verantwortliche nach wie vor für ihr Monopol kämpfen. Etwa zwei Drittel des Betrages, den wir als rumänische Steuerzahler für das Gesundheitswesen einzahlen, kommt nicht dort an, sondern wird zweckentfremdet, indem es an das Finanzministerium weitergeleitet und von diesem verwaltet wird. Das geschieht seit der Gründung der Krankenkasse 1997. Keine Regierung hat an diesem System etwas geändert. Diese Zweckentfremdung wäre nicht mehr möglich, wenn es mehrere Krankenkassen gäbe, auch private. Die Gehälter im Gesundheitswesen sind entsprechend klein und können nicht erhöht werden. Hinzu kommt, dass viele Posten auf Regierungsbeschluss blockiert wurden. Es fehlt in den Krankenhäusern außerdem an Medikamenten und Materialien.

Werden deshalb Ärzte und Schwestern von den Patienten mit Geschenken und geldgefüllten Briefumschlägen bedacht?
Das ist wiederum eine Sache, die in Rumänien üblich ist. Die Leute wissen, dass die Ärzte und Schwestern schwach bezahlt werden, angehende Ärzte nach sechs Jahren Studium und fünf Jahren Facharztausbildung verdienen beispielsweise zwischen 1 100 und 1200 Lei pro Monat [umgerechnet ca. 260 Euro – Anmerkung der Redaktion]. Um sicher zu sein, dass er gut behandelt wird, bringt der Patient dann ein Geschenk, sei es einen Schnaps, seien es zehn Eier oder einen Briefumschlag mit Geld. Das ist akzeptabel. Was nicht akzeptabel ist, dass es Ärzte gibt, die eine solche Zusatzbelohnung verlangen und die Kranken dann wirklich differenziert behandeln. Das ist verwerflich. In Siebenbürgen ist dieses Phänomen glücklicherweise nicht sehr verbreitet.

Die Situation im Gesundheitssystem treibt seit einigen Jahren medizinisches Personal ins westeuropäische Ausland. Welches Ausmaß hat der Exodus?
Ich will nicht pro domo sprechen, aber die Ausbildung der rumänischen Ärzte ist gut. Das weiß man im Westen. Das wissen auch unsere Ärzte und dann gehen sie ins Ausland. Für uns ist das eine sehr triste Situation, wenn die jungen Mediziner nach elf Jahren Ausbildung nach Kanada, Frankreich oder Deutschland gehen. Im letzten Jahr haben so knapp 20 000 Ärzte Rumänien verlassen. Das spüren wir inzwischen auch in Hermannstadt. Wir leiden unter Ärzte- und Schwesternmangel, vor allem in Fachbereichen, in denen man eine längere Ausbildung benötigt. Das kann sich kein Staat auf Dauer leisten.

Was bedeutet das für die medizinische Versorgung vor Ort?
Vor allem in den ländlichen Regionen verringert sich die Ärztedichte immer mehr. In östlichen Kreisen wie Botoșani oder Vaslui ist die Situation sehr schlimm. Hier in Siebenbürgen spürt man die Folgen der Abwanderung von Medizinern noch nicht so dramatisch.

Wie gehen die staatlichen Krankenhäuser mit der wachsenden Konkurrenz durch private Kliniken um?
Die ärztlichen Leistungen von staatlichen und privaten Kliniken sind meines Erachtens vergleichbar. In den privaten Krankenhäusern und Polikliniken bekommt der Patient alle Materialien und Medikamente, die benötigt werden, muss dafür aber auch alles selbst bezahlen. In staatlichen Häusern erhalten die Menschen das, was vorhanden ist. Allerdings sind die privaten Krankenhäuser meist komfortabler.

Herr Porr, danke für dieses aufschlussreiche Gespräch.

Schlagwörter: Siebenbürgen, Porr, Sozialwerk, Soziales

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