24. Februar 2022

Unser Zusammengehörigkeitsgefühl ist ein jahrhundertealtes Gut: Michael Kenst, stellvertretender Landesvorsitzender der Landesgruppe Niedersachsen/Bremen, im Gespräch

Die Interview-Reihe mit Mitgliedern des Landesvorstandes Niedersachsen/Bremen setzt sich fort. Dietmar-Udo Zey führte das Gespräch mit Michael Kenst, der im Dezember 1953 in Schäßburg geboren wurde und in Marienburg aufgewachsen ist. Seit 46 Jahren lebt er in Bremen und nimmt zwei Ämter in unserem Verband wahr: Er ist stellvertretender Landesvorsitzender und Vorsitzender der Kreisgruppe Bremen.
Michael, seit ich dich kenne, bist du in unserer Gemeinschaft aktiv und bekleidest deine beiden Ämter mit Hingabe. Warum engagierst du dich so? Was ist dran an unserem Verband?

Diese Gemeinschaft ist meine neue „Nachbarschaft“. Da kann man sich nicht fernhalten. Da muss man mitwirken. Und weißt du, allein ist man der „Nemest“. Ich bin jedes Mal sehr ergriffen, wenn ich bei Zusammenkünften oder auch auf der Straße unser Sächsisch höre und sprechen darf. Man kann sich beim Anblick der vielen Menschen in unseren traditionellen Trachten erfreuen. Dann muss ich mitmachen, ob in der Tanzgruppe, bei unseren Heimattagen der Nordlichter oder in Dinkelsbühl. Und es geht ja auch darum, andere Landsleute heranzuziehen und gemeinsam unsere Kultur, unsere Bräuche, ja unsere Identität bewahrend und fortentwickelt zu leben.

Michael Kenst ...
Michael Kenst
Seit wann bist du Mitglied im Verband und seit wann übst du die beiden Ämter aus?

Es war der 2. Advent 1983, als uns der damalige Kreisgruppenvorsitzende Andreas Schuffert zum Treffen eingeladen hatte. Da sind wir mit unserem dreijährigen Sohn hingegangen. Zu Neujahr 1984 haben wir den Antrag zur Mitgliedschaft gestellt und sind auch gleich von Anfang an mit unterschiedlichen Aufgaben tätig geworden. Mein erstes Ehrenamt war Aussiedlerbeauftragter. So konnte ich alle neu ankommenden Landsleute kennenlernen und ihnen Informationen, die sie so dringend brauchten, geben. Ich bin bereits seit 30 Jahren Vorsitzender der Kreisgruppe Bremen und auch gleichzeitig stellvertretender Landesvorsitzender.

Michael, was motiviert dich, dich so wirksam einzubringen? Lohnt sich der Aufwand? Es ist ja nicht nur Freude und Genuss, wenn man leitende Ämter hat.

Für und durch meine Tätigkeiten erfuhr ich auch immer wieder besondere Belohnungen, die ich sonst nicht gehabt hätte: Ich habe im Laufe der Zeit sehr viele interessante Menschen kennengelernt. Und stell dir vor, wir sprechen alle dieselbe Sprache: Sächsisch – mit unterschiedlichem lokalem Kolorit, aber verständlich. Ich habe viele Freunde gewonnen.

Und der Zusammenhalt unserer Landsleute, ein jahrhundertealtes Gut, welches in der Vergangenheit nicht nur rein emotional, sondern auch rational verankert war, verpflichtet mich hierfür tätig zu sein. Solange der liebe Gott mir die Gesundheit schenkt und meine Mitglieder mitziehen, bin ich bereit, noch eine Weile weiterzumachen. Der Aufwand lohnt sich! Wir bringen, neben unserer deutschen Muttersprache, auch eine kulturelle facettenreiche Eigenart mit, die zu wahren und zu pflegen sich lohnt. Hier in Norddeutschland, wo nur relativ wenige Siebenbürger und voneinander weit entfernt leben, werden unsere Auftritte bei Volksfesten, wie z.B. beim „Tag der Niedersachsen“, immer mit viel Begeisterung aufgenommen. Man betrachtet unsere Beiträge als Bereicherung in der deutschen Kulturlandschaft. Daran können wir uns erfreuen. Und noch besser: mitmachen!

Das hört sich doch nach Leidenschaft an. Ist das so?

Meine größte Leidenschaft ist Reisen. Dann folgt die Geselligkeit mit lieben Freunden. Die finde ich auch bei Bremern, aber der Siebenbürger Freundeskreis, den ich regelmäßig pflege, ist natürlich eine andere Sache: Man spricht wie bei Muttern, hat gemeinsame Erinnerungen, Erfahrungen, Erlebnisse. Ich bin stolz auf die Leistungen unserer Vorfahren und auf unsere Landsleute heute. Dieses Gefühl versuche ich auch immer zu vermitteln. Zum Beispiel mit meinen Gedichten in siebenbürgischer Mundart, die haben stets für gute Stimmung bei unseren Treffen mit Landsleuten gesorgt. Jetzt, pandemiebedingt, ist das natürlich nur noch eingeschränkt möglich. Es kommen bestimmt wieder bessere Zeiten. Dann kurbeln wir unser Verbandsleben wieder an!

Das gefällt mir: Diese Zuversicht, dieser Eifer! Aber was meinst du, was müssen wir tun, um den Mitgliederschwund in unserer Gemeinschaft zu stoppen?

Wir hier in Norddeutschland haben es besonders schwer, weil wir so wenige Siebenbürger in diesem Großraum sind. Wir haben auf Landesebene neulich Kreisgruppen zusammenlegen müssen, weil teils die Mitgliederzahl so gering und kaum noch gemeinsame Aktivitäten, die das Gemeinschaftsleben aufrechterhalten, möglich waren. Und trotzdem: Ich kann und will nicht begreifen, warum noch viele Landsleute unserem Verband nicht beitreten. Man hat wohl das Zusammengehörigkeitsgefühl, das uns über so viele Jahrhunderte geprägt hat, verloren. Doch es hilft nichts: Wir müssen ernsthaft versuchen, neue Mitglieder zu gewinnen. Das wird nur möglich sein, wenn wir initiativ werden, indem wir die Siebenbürger ansprechen, die zwar ab und zu bei unseren Veranstaltungen auftauchen, aber eine Mitgliedschaft im Verband nicht in Erwägung gezogen haben. Wenn wir unsere Identität leben, unser Brauchtum pflegen wollen, dann erfordert das Engagement – indem man persönlich mitmacht und das Bestehen des Verbandes auch materiell unterstützt.

Ist das auch realisierbar? Welche Personen können wir noch zu einer Mitgliedschaft bewegen? Erreichen wir auch die jüngere Generation?

Realisierbar schon, wenn wir uns auf die Zielgruppe fokussieren, die ich vorhin benannt habe. Das sind etwa Gleichaltrige, die unsere kulturellen Ereignisse noch miterleben wollen, ich meine physisch, und die Sinnhaftigkeit, in einem Verband organisiert zu sein, erkennen.

Ich glaube, dass wir zunächst darauf achten müssen, unsere derzeitigen Mitglieder beisammenzuhalten. Die jüngere Generation, die auch mittels digitaler Medien erreichbar ist, stellt ein anders Kapitel dar. Damit konnten wir in den beiden letzten Jahren dafür sorgen, dass unser Verbandsleben nicht ganz einschläft. Doch die Reichweite ist, aus meiner Sicht, noch bescheiden. Die Digitalisierung sollte nicht überbewertet werden. Ob durch diese Kommunikationsschiene auch neue Mitglieder gewonnen werden können, die den Fort- bestand unserer Gemeinschaft sicherstellen, ist mir noch schleierhaft.

Und was ist hier, bei unseren Gegebenheiten, konkret zu tun?

Wir müssen darauf achten, unsere jetzigen Mitglieder, die teilweise im fortgeschrittenen Alter sind, nicht abzuhängen. Es muss wieder Leben in unsere Gemeinschaft kommen. Sobald wieder möglich, müssen wir für Veranstaltungen sorgen, unsere Mitglieder zusammenbringen und das Thema Mitgliedergewinnung ansprechen. Das soll unser aktueller Fokus sein.

Denn man tau, würde der Norddeutsche sagen. Lass uns sagen: Hegt fēt et un! Vielen Dank für das Gespräch!

Schlagwörter: Niedersachsen/Bremen, Interview, Kenst, Landesvorstand, Kultur, Gemeinschaft

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