15. April 2011

Geschichten aus Siebenbürgen: Neuer Erzählband von Hans Bergel

Der Einband des neuesten Buches von Hans Bergel, „Die Wildgans. Geschichten aus Siebenbürgen“, suggeriert Bilder einer (Kultur-)Landschaft, die in Deutschland kaum bekannt ist und für viele Siebenbürger nur noch in der Erinnerung besteht.
Der Titel lässt auf regionale Thematik schließen. Heimatliteratur? Weit gefehlt. Hans Bergel legt mit diesem Band eine Auswahl von Erzählungen vor, in denen archaisch-mythische Landschaften Rumäniens, von der „grünen Finsternis des Karpatenbogens“ bis hin zur „riesigen goldblauen Woge“ des Schwarzen Meers zum exotischen Faszinosum werden. Eine – wie häufig in Bergels Werk – trügerische Kulisse, hinter der sich Schicksale von Menschen auftun, die Opfer von Zufall, politisch-historischen Konstellationen oder menschlicher Ranküne wurden. Der 1925 geborene Dichter und Publizist Bergel legt in seinen Anekdoten auch literarisches Zeugnis ab von Bespitzelung, Verrat und grotesken Bemühungen der Beweisführung gegen Opfer in stalinistischen Scheinverfahren. Die Erzählungen reihen sich in eine „Chronik des Leids“ auf dem Hintergrund von Krieg, Deportation, Lagerhaft, Flucht und Exil ein.

Mit der Titelgeschichte „Die Wildgans“ und den ironisch-satirisch gebrochenen Erzählungen „Der Barackentrottel“ und „Die Kanone und der Heilige“ führt Bergel die zentrale Thematik des seinerzeit in seiner Bedeutung zu wenig wahrgenommenen autobiografischen Gefängnis-Romans „Der Tanz in Ketten“ (1977) weiter fort. Seine meisterliche Erzählung „Die Wildgans“ siedelt er in der Baragansteppe an, wo der wegen Mordes verurteilte Radu Dranca auf das ungewisse Ende seiner Verbannung wartet. Die Veränderung der Landschaft macht ihm bewusst, dass der Winter nahe ist. Die eindringliche Metaphorik trostloser Naturbilder spiegelt seine seelische Verfassung wider: die Farben der Steppe und des Himmels verbleichen, die Vegetation verdorrt, zunehmende Kälte und die Angst vor dem Verhungern setzen dem Sträfling hart zu. Bergel umreißt die mit äußerster dramatischer Spannung komprimierte Handlung mit knappen, scharf gezeichneten Konturen. Ein plötzlich auftretender Schwarm von Graugänsen, Signal des Jahreszeitenwechsels, weckt den Wilderer in Dranca. Der Vorrat für das Überleben des Winters zusammen mit seiner Freundin Marilena ist greifbar. Doch seine Bedrohung durch die Natur setzt sich in der Vernichtung seines Liebesglücks fort. Er hat Marilena in der Nacht zuvor aus seiner Lehmhütte gejagt und weiß noch nicht, dass sie erfroren ist. Dranca möchte seinen Entschluss rückgängig machen, gerät in Panik und Raserei und ermordet den rumänischen Bauern Pamfir und dessen Frau aus Angst, die beiden hätten seine Beziehung zu Marilena an die Polizei verpfiffen. Die Steppe hat ihn um den Verstand gebracht. Bergel erweist sich – ähnlich wie in der großen Novelle „Das Venusherz“, die hier wieder vorliegt, oder in der Eingangserzählung „Siebenbürgische Passion“ – als Sprachvirtuose, der seinen literarischen Gestalten Chiffren der Natur aufdrückt. Die Symbolik der belebten und unbelebten Natur wird auf einer breit aufgefächerten Ausdrucksskala entfaltet, die der warmen Anteilnahme des Autors an seinen Figuren entspringt. Sprachmagie und lakonisches Sprechen, suggestive Spannung und Einsatz des Zufalls als Gestaltungsprinzip setzen auf Schockwirkung beim Leser. Er wird zum Mitwisser, schwankt zwischen Beklemmung, Faszination und Mitgefühl – so auch in der Erzählung „Das Venusherz“, die Inzest und Liebestod thematisiert. „Bergels Natur ist auf das Außerordentliche angelegt“, sagte sein Freund und Schriftstellerkollege Andreas Birkner über ihn.

Der mitfühlende Leser sieht sich während der Lektüre des Buches einem Wechselbad der Gefühle ausgesetzt. In der Geschichte vom „Barackentrottel“ zieht der Autor alle Register des Komischen, von verhalten-subtiler Ironie bis zum Knalleffekt des zündenden Witzes. Der Ich-Erzähler, Bergel, wird aufgrund eines Versehens der Lagerleitung in Jilava – dem berüchtigtsten Gefängnisort Rumäniens – aus der „Intellektuellenbaracke“ in die mit 120 Roma belegte „Spezialbaracke“ von Taschendieben verlegt, allesamt dem Clan „Stummer Finger, Bukarest West“ angehörig. Diese wittern in ihm die Konkurrenz des vermeintlichen Zunftkollegen aus einem ihnen unbekannten Clan. Sie rätseln, ob sein Clan zu den „Spitzfingern“ oder den „Schnappdaumen“ gehöre und auf welchem „Terrain“ er operiert habe. Als Empfehlung für die wohlwollende Aufnahme des Neuzugangs genügt sein Hinweis, er sei Mitglied des schreibenden Clans „Sitzfinger, Arbeitsbezirk Bukarest Mitte“. Respektvolles Zuhören und Anerkennung: das „gefährliche Revier“ bedeutet für den Bandenchef und seine Diebestruppe eine berufliche Herausforderung – der Häftling Bergel denkt bei „Bukarest Mitte“ an den Sitz des Rumänischen Schriftstellerverbandes. Er avanciert zur Trainingspuppe des Clans „Stummer Finger, Bukarest West“. Auf dem Hintergrund entwaffnender Komik scheinen Formen sozialer Verträglichkeit im Rahmen ungeschriebener Ganovenehre auf. Die „Langfinger“ wahren im GULAG Formen von Menschlichkeit, die den zur Schaffung des „sozialistischen Menschen“ angetretenen brutalen Bewachern völlig abgehen.

Zum ersten Mal, ein halbes Jahrhundert nach dem Kronstädter Schriftstellerprozess 1959, macht Bergel den Prozess selbst zum literarischen Thema; er tritt gewissermaßen als Gerichtsreporter seines eigenen Prozesses an. Den größten Raum der Geschichte „Der Major und die Mitternachtsglocke“ nimmt die Darstellung des finalen Prozessaktes unter dem vorsitzenden Richter Dragoș Cojocaru ein: 16 Stunden Verhör, Beschimpfungen, Schmähungen, Anklagen, ohnmächtige Versuche der Verteidigung, dazu die Aussagen einiger Anklagezeugen, über die der Chronist „den Mantel des Vergessens breitet.“ Dreimal irritieren Zitate aus Texten der angeklagten Dichter Andreas Birkner, Wolf von Aichelburg und Hans Bergel die zynische Routine der Inquisitoren. Der „Berichterstatter“ kommentiert die Reaktion der „Rechtsvertreter“: „Die Falschheit ihrer eigenen Sprache fiel wie ein Schmutzkleid von ihnen ab.“ Knappsten Raum gewährt er dem Ende der Geschichte, auf das sich ihr Titel bezieht, die letzte Minute des Prozesses vor der Urteilsverkündung durch den Major. „Das Ereignis einer Minute“, und „Das Besondere des Ereignisses dieser Minute lag darin, dass es nichts mit dem Prozess zu tun hatte.“ Der Einleitungssatz verweist auf den Schlussteil, der in eine apokalyptische Dimension führt. Die Urteilsverkündung beginnt in derselben Minute, als die nahe Turmuhr der Schwarzen Kirche Mitternacht schlägt. Die Glockenklänge versetzen Bergel, den Verurteilten, plötzlich in einen Zustand traumhafter Entrückung. Er sieht sich versetzt in die Nacht des Jahres 1689, als Kronstadt einem verheerenden Brand zum Opfer fiel, als „ das Dröhnen, Klirren und Heulen der […] niederbrechenden Glocken […] in unheimlichen Lauten aus dem Turminnern zu den verschreckten Menschen hinausgedrungen sein (soll).“ Der Major starrt den Verurteilten „mit halb geöffnetem Mund an. […] Unübersehbar in den Augen des verstummten Mannes der Ausdruck von Bestürzung und Erschrecken.“ Er verkündet das gigantische Urteilsmaß mit „zerfahrener“ Stimme. „Bis zur letzten Silbe seines Textes hatten die Glockenschläge den Mann in die Schranken gewiesen. Sie hatten den Einbruch in seine anfällige Welt von Gnaden der Ungeheuer bedeutet.“

Renate Windisch-Middendorf


Hans Bergel, „Die Wildgans. Geschichten aus Siebenbürgen“, München, LangenMüller, 2011, 175 Seiten, 14,95 Euro, ISBN 978-3-7844-3255-7.
Die Wildgans: Geschichten aus
Hans Bergel
Die Wildgans: Geschichten aus Siebenbürgen

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Schlagwörter: Rezension, Bergel, Erzählungen, Siebenbürgen

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