29. August 2015

Zeit-, kultur- und familiengeschichtliche Streiflichter

Nach 2008 und 2012 hat der Musiker Adolf Hartmut Gärtner einen weiteren Erinnerungsband veröffentlicht: „Nichtalltägliches aus fast hundert Jahren“, München: Privatdruck, 2015, 150 Seiten, 71 Abbildungen. Er kann zum Preis von 15,00 Euro, zuzüglich 2,00 Euro Versand, bestellt werden bei Susanne Staffler, Junkerstraße 103, 80689 München, E-Mail: susanne.staffler[ät]web.de.
Nein, der Band ist nicht ein memorialistischer Rückblick auf die Zeit seit dem letzten Erinnerungsband 2012. – So viel passiert im Leben eines Menschen, der am 3. Juni 1916 in Kronstadt geboren wurde, nicht, auch dann nicht, wenn es eine Persönlichkeit vom Kaliber Adolf Hartmut Gärtners ist. Es sind weiter zurückliegende Erlebnisse, an die sich der Autor erinnert, und die er ebenso souverän gliedert und kurzweilig wie sachlich zu Papier bringt, wie in den Vorgängerbänden. Allerdings steht nicht mehr das singuläre, spektakuläre Ereignis im Mittelpunkt, sondern verstärkt dessen politischer, historischer oder philosophischer Hintergrund.

Das wird schon in einigen Titeln der von Geleit­wort, Ahnentafel und 5 Anhängen ergänzten 15 Kapitel deutlich: „Wer bin ich?“, „Wo komme ich her?“, „Wo gehe ich hin?“ Daher wird in diesem Band der Familiengeschichte mehr Raum gewid­met. Glücklicherweise kann Gärtner dafür auf einen reichen Fundus schriftlicher Überlieferung seitens seiner Ahnen zurückgreifen, z.B. in den Kapiteln „Die 40-tägige Schlacht um Kronstadt“ (1916) oder „Wenn Stühle sprechen könnten“.

Adolf Hartmut Gärtner 2005, als er mit dem ...
Adolf Hartmut Gärtner 2005, als er mit dem Sie­benbürgisch-Sächsischen Kulturpreis ausgezeichnet wurde. Foto: Hans-Werner Schuster
Aber auch sonst muss sich der Autor nicht nur auf seine Erinnerungen verlassen. Er kann die Erinnerung an Ereignisse wecken und auch verifizieren dank seiner Tagebuchaufzeichnungen und weiterer Zeugnisse seiner jugendlichen „Schriftstellerei“ – u.a. musste er während seines Studiums in Berlin allwöchentlich brieflich Bericht nach Kronstadt erstatten –, die seine Mutter aufbewahrt hat. (Siehe insbesondere die Kapitel „Warum ich hebräisch lernen musste“ und „Student im Dritten Reich“.) Auch dadurch – in erster Linie aber durch seine altersmilde Generosität und die ironisch gebrochene Selbstreflexion – gelingt es ihm, beschönigend-verklärende Nostalgie weitestgehend zu vermeiden. Und noch wichtiger: Gerade auch die Ereignisse der nationalsozialistischen Zeit und Nachkriegszeit erinnert er nicht nur von der Warte der heutigen Wertenormen, sondern lässt mit zahlreichen eingestreuten Zitaten seiner Quellen den damaligen Zeitgeist und die herrschenden Stimmungen – gar nicht so uniform – aufblitzen. So gerne ich diese Zitate gelesen habe, so muss ich doch bekennen, dass ich noch viel lieber das Steg­reifgedicht unseres Mundartdichters „Schuster Dutz“ gelesen hätte, mit dem dieser beim Kameradschaftsabend, am Ende einer von der Volksgruppenführung verfügten weltanschaulichen Schulung für Lehrer, den Lehrgang und seine Führer „durch den Kakao zog“.

Schuster Dutz ist nur eine von zahlreichen herausragenden Persönlichkeiten, die Gärtners Lebensweg gekreuzt haben. Auch wenn Gärtner nicht allen das Wasser reichen kann, nicht seinem Onkel Prof. Hermann Oberth und erst recht nicht einem Carl Orff, wird dem Leser durch diese Persönlichkeiten auch Gärtners Format und Statur bewusst. Insbesondere nach den Kapiteln „Der Wöchner“, Aus der Schule geplaudert“ und „Ein Zwangloser Alter Knabe“ erkannt man, dass Adolf Hartmut Gärtner nicht nur ein begna­deter Musikpädagoge und Kirchenmusiker ist. Er ist ein Humanist in des Wortes doppelter Bedeutung und ein Repräsentant jenes Bildungsbürgertums, das nicht nur infolge von Globalisie­rung und Spezialisierung im Schwinden begriffen ist. Dessen Maßstäben und Idealen verpflichtet, legt Gärtner mit den drei Bänden seiner Memoi­ren-Splitter insgesamt und insbesondere mit dem Anhang dieses Bandes Rechenschaft ab.

Auch deswegen und wegen der ansprechenden Bebilderung, insbesondere aber wegen Gärtners Schreibstil kann der Band nicht nur Musikfreun­den und Kronstädtern empfohlen werden. Ich habe ihn mit Freuden gelesen. Dabei aber habe ich mich immer gefragt: Was macht der „Alte Knabe“ seit der Drucklegung dieses Bandes? Ich bin mir sicher, dass er seine Erinnerungen weiter gewälzt und einige davon niedergeschrieben hat – aus „Freude am täglichen Schreiben“, das den Platz der ehemals täglichen Fingerübungen am Cello eingenommen hat. Und wenn man den bisherigen Publikationsrhythmus weiterdenkt, müsste der Folgeband 2017 erscheinen, mit mindestens 180 Seiten Umfang. Ich freue mich jetzt schon auf „Nichtalltägliches aus mehr als 100 Jahren“.

Hans-Werner Schuster

Schlagwörter: Buch, Erinnerungen, Gärtner, Kulturpreisträger

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