16. November 2015

Phantasie und Realität im Austausch: Erzählungen von Ana Blandiana

Ana Blandiana, 1942 in Temeswar geboren, ist eine der bekanntesten rumänischen Dichterinnen. Viele ihrer Gedichte, Romane, Novellen, Kurzgeschichten und Essays sind auch in deutscher Übersetzung erschienen. Seit der Wende setzt sie sich für die Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit ein und ist zusammen mit ihrem Mann, Romulus Rusan, Gründerin der Gedenkstätte für die Opfer des Kommunismus und des kommunistischen Widerstands in Rumänien, „Memorial Sighet“. Das von Maria Herlo und Katharina Kilzer in deutscher Übersetzung erschienene Buch „Die vier Jahreszeiten“ wurde in Rumänien bereits 1977 veröffentlicht. Der Erzählband erschien 2011 in Spanien und 2013 in Frankreich. In Spanien erreichte er auch die Bestsellerliste. Nun ins Deutsche übersetzt, nimmt Ana Blandiana, die eigentlich Otilia-Valeria Coman heißt, den Leser mit auf eine eindrucksvolle Reise zwischen Phantasie und Realität.
Das Buch schildert nach einleitenden Worten der Herausgeber im Beitrag „Schreiben in Ceau­șes­cus Welt des Jahres 1977“ des Historikers Helmut Müller-Enbergs die sozio-kulturellen und historischen Hintergründe zu Blandianas Werk sowie die prekären Bedingungen, unter denen die Schriftsteller in der Ceaușescu-Diktatur arbeiteten. Der Autorin war bereits 1959, nach Erscheinen ihres ersten Gedichtes in einer Literaturzeitschrift, ein Veröffentlichungsverbot auferlegt worden. Auch die vier in diesem Band versammelten Erzählungen sollten aufgrund von „antisozialen Tendenzen“ zuerst nicht erscheinen, wurden aber schließlich doch publiziert. Blandiana thematisiert den „Widerstand gegen Personenkult und Terror des Kommunismus“, so die Herausgeber und Übersetzer Maria Herlo, Katharina Kilzer und Helmut Müller-Enbergs in der Einleitung. Die Erzählungen und die darin geschilderten Situationen beginnen mit der Schilderung einer Alltags-Wirklichkeit (z.B. der Besuch einer Kirche, die Suche nach einem Bücherlager außerhalb der Stadt, ein Besuch am Meer oder ein Ausflug aufs Land, auf ein Feld mit Vogelscheuchen). Sie werden im Laufe der Geschichte immer abstruser, die Phantastik vermischt sich mit der Realität und lässt dem Leser großen Spielraum für die eigene Vorstellungskraft. Blandiana macht auf „die Zwänge des Alltags, die sozialen Nöte und die eigenen Ängste“ aufmerksam, ihre Protagonisten verlieren jedoch nie die Hoffnung und die Erzählsituationen lösen sich in Leichtigkeit auf.

Die vier Erzählungen korrespondieren mit den vier Jahreszeiten. Auffallend ist jedoch, dass die Autorin mit dem Winter beginnt. In der Erzählung „Die Kapelle mit Schmetterlingen“ betritt die Protagonistin nach langem Umherwandern in Bukarest eine Kirche, in der sich unzählige Schmetterlinge befinden und es plötzlich zu schneien anfängt. Die Situation wird immer abstruser, schließlich versucht sie, die anderen Menschen vor der Entweihung des heiligen Ortes zu warnen, wobei diese stets mit „Wenn es nur das wäre“ antworten. In einem nahegelegenen Theater inszenieren sich Tänzer als Schmetterlinge und werden vom hypnotisierten Publikum bewundert – der Protagonistin wird dabei klar, dass ihre Warnungen ins Leere gehen und die Menschen nicht mehr erreichen. Der Schmetterling steht symbolhaft für das schnelle, vergängliche Leben, aber auch für die Auferstehung.

Die Frühlingserzählung „Liebe Vogelscheuchen!“ berichtet von der Verwandlung der Natur in einer modernen Stadt vor dem Hintergrund von Leben und Tod, wobei die Autorin sich in direkter Rede an die „Vogelscheuchen“ wendet. Die Sommernovelle steht unter dem Titel „Die geschmolzene Stadt“ und nimmt apokalyptische Züge an. Die Protagonistin nimmt als einzige Zeugin wahr, dass sich die Welt in Auflösung befindet. Es fehlen moralische und ethische Handlungsweisen, ein „Verfall des Denkens“ droht und letztendlich steht die Welt in ihrer ganzen Existenz auf dem Spiel. Das Ende ist jedoch positiv, wie so oft in den Geschichten Ana Blandianas.

In der letzten Erzählung, „Kindheitserinnerungen“, die den Herbst verkörpert, wird die Protagonistin angewiesen, Schriften aus einem Lager zu holen, in welchem sich verbotene Bücher befinden. Das Lager repräsentiert einen Ort des „verbotenen Denkens“. Hier stellt die Schriftstellerin einen deutlichen Bezug zu realen Erlebnissen aus ihre Kindheit her. Sie schöpft dabei aus ihrer Biografie, als in den fünfziger Jahren „verdächtige“ Bücher oft vernichtet wurden. Auch ihr Vater, ein orthodoxer Priester, ­verbrannte einige seiner Bücher, um der kommunistischen Oppression keine neuen Angriffsflächen zu bieten. Ein glückliches Ende ist nicht in Sicht, die Erzählung bleibt offen.

Ana Blandiana bezeichnete diese Erzählungen in einem Interview damals als ihre bis dahin besten, da sie sich „zwischen Realität und Irrealität, zwischen Prosa und Poesie“ bewegen. Die „Zerstörung von denkmalgeschützten Häusern und Kirchen, Trostlosigkeit der sozialistischen Wohnviertel, Rationalisierung von Strom, Heizung und Lebensmitteln, Zerstörung von verbotenen Büchern“ sind Vorgänge, die die Autorin in ihren phantastischen Beschreibungen kritisiert. Detailreiche Beobachtungen und Geschehnisse brennen sich dem Leser ins Gedächtnis ein, die Autorin erzeugt dabei ein Gefühl der Gegensätze. Leichtigkeit und Schwere wirken gleichzeitig als ein Paradoxon und passen dennoch auf wundersame Weise zusammen. Mit einer nüchternen Gelassenheit wird das Irreale real. Mit subtilen Hinweisen auf die Unterdrückung und Stummheit des Volkes während der Ceaușescu-Zeit nimmt die Autorin die Leser mit auf eine Reise in die Vergangenheit. Das Buch entstand als Gegenwartsliteratur im Jahr 1977, hat aber auch heute nichts an Aktualität verloren. Widerstand und Freiheit sind gefragt, wenn politische Strukturen Menschen unterdrücken.

Der Zugang zu den Geschichten ist ohne die Einleitung und den Anhang (eine Literaturanalyse von Viorica Patea von der Universität Salamanca) kaum möglich. Ana Blandiana schreibt keine Unterhaltungsliteratur, ihre Ansprüche an den Leser sind hoch. Wer sich einmal in dem Universum ihrer Erzählungen zurechtgefunden hat, wird in eine phantastische Welt getragen, die ihre eigene Logik offenbart. Der Umschlag des Buches wurde übrigens von einer Siebenbürger Sächsin, Marion Schullerus, gestaltet.

Sonja Mai


Ana Blandiana, „Die vier Jahreszeiten“. Erzählungen, herausgegeben von Katharina Kilzer und Helmut Müller-Enbergs. Übersetzung von Maria Herlo und Katharina Kilzer, Edition Noack & Block, Berlin, 2015, 195 Seiten, 18 Euro, ISBN 978-3-86813-027-0.
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Ana Blandiana
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Schlagwörter: Blandiana, Erzählungen, Buch

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