16. Mai 2016

Der Expressionismus aus dem Keller

In Dornbüschen hat Zeit sich schwer verfangen. Expressionismus in den deutschsprachigen Literaturen Rumäniens. Herausgegeben von Michael Markel. Veröffentlichungen des Instituts für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas an der LMU München im Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, 2015, Band 130, 280 Seiten, 34,95 Euro, ISBN 978-3-7917-2653-3
In einer Zeit und einem Land, wo damals alle „Ismen“ bis auf den einen suspekt sein konnten, fand er den antiautoritären literarischen Expressionismus spannend. Auf dem Schreibtisch häuften sich die Blätter. Doch die nicht immer selbst bestimmten Prioritäten des Alltags waren andere. Der Tisch musste für andere Blätter geräumt, die Dissertation verschoben werden. Dann hieß es in der Familie: „Er trägt den Expressionismus wieder in den Keller“.

Im bis an den Rand befrachteten Arbeitspensum des Klausenburger Hochschuldozenten Michael Markel, der Lehre, Forschung sowie jene dringend von der Schulpraxis geforderte systematische und anregende Koordinierung von Lehrwerken zu verbinden wusste, fanden bei aller Zeitknappheit auch Begriffsklärungen (zum Vormärz, zum Dorfrealismus), Musteranalysen (zu Meschendörfers „Siebenbürgischer Elegie“) sowie Ausgaben von Märchen der deutschen Romantik oder von Gedichten Hölderlins Platz.

Doch jetzt erst, nach Jahrzehnten Wartezeit erschien das früh geplante, besondere Buch.

Ein ganz besonderes Buch, eine spezielle Segment-Anthologie deutschsprachiger Literatur im rumänischen Sprach- und Kulturfeld. Es hat in der deutschsprachigen Nationalitätenbelletristik an Anthologien verschiedener Art nicht gefehlt; von ihren Titeln und Untertiteln ausgehend, ließen sich kultur- und literaturgeschichtliche Wandlungen nachweisen. Presse, Sammelbände, Kalender usw. gehören zur bescheidenen Infrastruktur des literarischen Lebens am Rande, auf der Insel, in der Region, in der Diaspora. Markels Sammel-Werk bietet einen literaturgeschichtlichen Tiefschnitt, es ist Lese-Buch der Sonder-Klasse, ja Luxusklasse, welches eine westeuropäische, international bis nach Südosteuropa ausstrahlende Kunstströmung mit allem editorischen Anspruch vorstellt. Eine Strömung mit ihren literarischen Ablegern, das heißt in diesem Fall mit Qualität beanspruchenden Siebenbürger, Bukowiner, Bukarester und Banater Texten. Sie werden vom Herausgeber zum ersten Mal mit dieser gereiften Informiertheit, Textverlässlichkeit, Objektivität im ergänzenden ­Nebeneinander und Miteinander einer Strömungsgemeinschaft als das Ergebnis eines ­Kulturtransfers vorgestellt. Systematisch und akribisch genau dokumentiert werden im Zusammenhang – Regionen, Grenzen, Dichterjahrgänge und einzelne Genres übergreifend, mit der Strömung als gemeinsamem Nenner – einer überschaubaren Sammlung expressionistische und spätexpressionistische Lyrik, Prosa, Drama und Kritik. Die Rede ist von der “Ausdruckskunst“, in der schöpferischen und nachschöpferischen Rezeption deutschsprachiger Autoren in geistigen Landschaften Rumäniens.
Expressionismus in Reinkultur: Illustration von ...
Expressionismus in Reinkultur: Illustration von Hans Eder zu Egon Hajeks Gedicht „Nocturno“. Aus „Ostland“, Heft 8, Mai 1920, Sammlung Konrad Klein, Gauting.
Das Buch ist selbst im zeitlichen Abstand eines halben Menschenlebens eine durchaus notwendige, nicht überflüssig gewordene Ergänzung zu der in den sechziger Jahren (vor allem seit Paul Raabes Veröffentlichungen) ausgelösten kritischen Neuwertung des deutschen Expressionismus. Die unfreiwillige Wartezeit hat der Herausgeber genutzt. Inzwischen konnte er eine vollständige Sammlung der Kronstädter Zeitschriften „Das Ziel“ bzw. „Das Neue Ziel“ einsehen. Namensinitialen, Pseudonyme und Anonyma konnten geklärt werden. Inzwischen ist für die Forscher ein Reprint der seit Jahrzehnten nicht mehr greifbaren Bukowiner Zeitschrift „Der Nerv“ erschienen. Und drittens gab es eine späte Entdeckung im Nachlass von Oscar Walter Cisek, nämlich den unveröffentlichten expressionistischen Roman „Vermenschung“. Die Quellenlage hat sich also verbessert, und gleichzeitig ist die Qual der Auswahl größer geworden. Markels Lesebuch ist mit einem vorbildlichen wissenschaftlichen Apparat ausgestattet, der genauen Aufschluss über Textfassungen, Angaben zu Leben und Werk der Autoren, Anmerkungen zu den abgedruckten Gedichten, Prosastücken, den Auszügen aus zwei Dramen (von Hermann Klöß) und zu den die Rezeption steuernden Aufsätzen und Artikeln. Wo der größere Kontext zum besseren Verständnis notwendig ist, wachsen die Anmerkungen sich zu kleinen Inhaltsangaben aus.

Alphabetisch reicht die Skala der 18 Lyrik-Autoren von der positiv kaum bekannten Helene Burmaz-Buchholzer bis zum begabten und selbstbewussten Heinrich Zillich. Der älteste in der Runde ist Adolf Meschendörfer mit dem Prosagedicht „Wallfahrt nach Polen“, von dem Markel feststellt, „dass es der erste expressionistische Text rumäniendeutscher Literatur überhaupt“ sei. International bekannt geworden ist Meschendörfer in der Zeit des Nachexpressionismus durch eine vergleichende Untersuchung der Farbwerte in der Lyrik des Expressionisten Georg Trakl. An der Spitze der rund hundert für diese Anthologie ausgewählten Gedichte stehen jene von Alfred Margul-Sperber und Oscar Walter Cisek. Der jüngste Lyriker der Anthologie ist der Bukowiner, in New York verstorbene Dagobert Runes. Fünfzehn Prosa-Proben von acht Autoren werden dokumentiert (von denen sieben auch im Kapitel Lyrik vertreten sind). Es handelt sich alphabetisch um Helene Burmaz, Karl Bernhard Capesius, Oscar Walter Cisek, Franz Xaver Kappus, Oskar Kraemer, Alfred Margul-Sperber, Erwin Neustädter, Heinrich Zillich.

Zum Kapitel Prosa hätte unserer Meinung nach auch der Banater Otto Alscher mit Veröffentlichungen in der Zeitschrift „Von der Heide“ (1915, 1916) gepasst.

Von den siebzehn kritischen Wortmeldungen, Aufrufen und Programmen in der Tages- und Kultur-Presse seien hier jene von Richard Csaki, Emil Honigberger, Erwin Reisner, Herman Roth und Hans Wühr erwähnt. Ähnlich wie in Deutschland war es zuerst die bildende Kunst (in Siebenbürgen mit Hans Mattis-Teutsch, Grete Csaki-Copony, Hans Eder), welche die Diskussionen entfachte. Im Unterschied zur deutschen Literatur spielte das expressionistische Drama in den finanziell eingeschränkten Provinzen keine besondere Rolle.

Mit Regelung der politischen Nachkriegsverhältnisse im neuen Großstaat Rumänien klingt der in Blockadezeiten transferierte, im Prozess der Selbstversorgung aus München, Berlin oder Wien „eingepflanzte“ Expressionismus aus. Cisek nahm 1923, dann wieder 1926 in der rumänischen Presse Abstand von seinem expressionistischen Frühwerk, was auch noch 1930 von seinem Freund Nichifor Crainic positiv vermerkt wurde. Schon 1924 unterschied Cisek kritisch zwischen extensivem an der Oberfläche bleiben und einem intensiven spirituellen Expressionismus (bei Walden, Stramm, Arp bzw. bei Trakl und vor allem bei dem Wegbereiter Däubler, dem Cisek mehrere Texte widmete).

Der Titel von Markels Anthologie („In Dornenbüschen hat Zeit sich schwer verfangen“) zitiert eine Zeile aus Ciseks 1924 im „Klingsor“ gedrucktem Gedicht „Die wache Nacht“, das gewiss die Interpreten herausfordert. Im lyrischen Hintergrund klingen Töne, leben Bilder auf wie etwa in Rilkes Gedichten “Pietà“ und „Ölbaumgarten“. Bei Rilke ist der biblische Dornbusch – in dem sich als Opfertier ein weißer Widder verfängt –, wie bei den meisten Expressionisten, von Gott und allen Engeln verlassen, bei Cisek ist abgemildert und allgemeiner von Dornbüschen die Rede, in denen sich noch die Hoffnung auf eine erlösende Verkündigung birgt. Befinden sich also Rilke und Cisek mit diesen weltanschaulich polarisierenden Texten sozusagen in verkehrten Schubladen? Rilke ein Expressionist? Und Cisek? Das Beispiel zeigt bloß, wie enthistorisierte inhaltliche Positionen allein noch nichts über die schöpferische Eigenart eines Wortkünstlers sagen. Im Falle von Ciseks Gedicht (mit zu vermutendem Replikcharakter) muss man stilistisch wohl von spezifisch gehäuften Metaphern und gewagten Personifizierungen sprechen. Vielleicht auch darüber, wie Markel es tut, dass Cisek, wie andere Generationsgenossen ebenfalls, in den Jahren 1919 bis 1926 zu den „Tastern und Suchern“ gehörte. Auch Zillich bekennt sich 1924 in einem Brief an Ludwig von Ficker, den Freund und Förderer Trakls, zu politischen und poetischen Orientierungsschwierigkeiten.
Hans Mattis-Teutsch: Kniende, nicht datiert ...
Hans Mattis-Teutsch: Kniende, nicht datiert (1928/32). Bronze, 35, 5cm. Privatbesitz Kronstadt. Foto: Konrad Klein
In seinem ausgezeichneten Nachwort hält Michael Markel diese Tatsache ästhetischer Hybridität wie folgt fest: „Literaturgeschichtlich war es eine Lehrzeit, in der die aus ihrem Sprachzusammenhang gerückten regionalen deutschen Literaturen im rumänischen Sprachraum um Selbstlegitimation und um ein künstlerisch autonomes Bewusstsein ihrer selbst rangen; individualbiographisch waren es Werkstattjahre, in denen eine junge Autorengeneration mit der in den Regionen üblichen Zeitverzögerung künstlerische Verfahrens- und Artikulationsweisen der europäischen Moderne buchstabieren lernte. Ihre Texte spiegeln den gesamten Stilpluralismus der Jahrhundertwende meist nicht in reiner Gestalt, sondern eklektisch kombiniert, selten in ausgeprägter Form, sondern eher gemäßigt.“

Markels Dokumentation bietet die bislang gründlichste interliterarische und innerliterarische Untersuchung zum regionalen Ausläufer des deutschen Expressionismus in Rumänien. Es bereitet beim Lesen ein geistiges Vergnügen, den Literaturwissenschaftler bei seinem umsichtig abwägenden Urteilen zu begleiten. Informiert und geurteilt wird über die Presse („Der Nerv“, „Das Licht“ „Das Ziel“, „Das neue Ziel“, „Ostland“, „Frühling“, „Klingsor“, Tageszeitungen), über Programme und Motive (Weltkrieg, Identität und Wandlung, Traum und Tat, Großstadt, Brüderlichkeit, neuer Mensch, Vater und Sohn, Natur und Mensch, Region als Gleichnis).

Zum Verdienst dieser Literatur der Umbruchszeit gehören die Suche nach neuer ziviler und dichterischer Identität und, ähnlich wie schon Meschendörfer, das kritische Bestehen auf autonomer Qualität von Literatur (und bildender Kunst). Aus dieser Zeit stammt der oft zitierte Satz von Richard Csaki „zuerst Mensch, dann Dichter, dann … Sachse sein zu wollen“. In den Diskussionen über die neue staatsbürgerliche und künstlerische Eigenständigkeit zeichneten sich verschiedene Optionen ab. Lutz Korodi empfahl 1919 im „Ostland“ die „Kunst des Umdenkens“. 1925 verließ er Rumänien aus Protest gegen die diskriminierenden Praktiken des Unterrichtsministers. Im selben Jahr veröffentlichte Lotar Wurzer im „Nerv“ seine Überlegungen darüber, dass „die Minoritäten ihr Eigenleben auf Dauer nicht behaupten könnten“. Als Bukowiner Schwabe zog er persönlich seine Konsequenzen, indem er den Namen Rădăceanu annahm und sich (als Wahlrumäne) für eine politische Karriere als Sozialdemokrat in Rumänien entschied. Nach dem Zweiten Weltkrieg leitete er von 1952-1955 den Bukarester Germanistiklehrstuhl. Zillich verlegte 1936 seinen Wohnsitz an den Starnberger See. Cisek, eine Schlüsselgestalt deutsch-rumänischer Verbundenheit, fühlte sich von seiner diplomatischen Laufbahn und seiner Propagandistenrolle erfüllt. Er übersetzte in der Zwischenkriegszeit deutsche Expressionisten (Däubler, Döblin, Else Lasker-Schüler, Goll, Trakl) ins Rumänische und zahlreiche rumänische Autoren, darunter Lucian Blaga, ins Deutsche.

Es fällt nun schwer, falls es keine direkten Aussagen der Autoren oder nur unveröffentlichte Tagebücher gibt, die genauen Kanäle – Lehre, Lektüre, Übersetzung, Gruppensolidarität, Mitwirkung der Schwesterkünste – dieses Kultur- und Literatur-Transfers zu bestimmen. Im Falle von Georg Maurer weiß man, dass er, angeregt von den Deutschstunden in Bukarest, als Anfänger an einem expressionistischen Drama gearbeitet habe, das freilich nie erschienen ist. Als Professor am Leipziger Literaturinstitut empfahl er seinen Studenten, die Expressionisten Ywan Goll und Else Lasker-Schüler zu lesen, um Zeitgenossen wie Celan und Bachmann besser zu verstehen. Langzeitwirkung hatten expressionistische Stilzüge in der Kriegsprosa von Otto Folberth. Von Fassung zu Fassung (1915, 1918, die letzte 1940) wird der Text – die Beschreibung eines heimtückisch getöteten Kameraden – immer expressionistischer. In Folberths Tagebüchern erfährt man, wie die Studienzeit in Budapest sein poetisches Programm beeinflusste.

Er versuchte sich in reimlosen Zeilen. („Erwache Jugend! Brich das Eis …“). In Siebenbürgen lernte er expressionistische Maler kennen. Hans Eder stellte im Juni 1919 die Bilder Der Cholerakranke und Der Verwundete in der „Ziel“-Galerie aus. Folberth überließ dem „Ziel“ Gedichte, die kurz darauf veröffentlicht wurden. Das konservativere „Ostland“ hatte abgelehnt: Die Schriftleitung sei vorläufig „mit fortgeschritteneren Arbeiten“ gut versehen! Im November 1919 notiert er nach der Lektüre einen Aphorismus von Kasimir Edschmid, „einem Verfechter des dichterischen Expressionismus“. Der Satz lautet: „Nur die Unproduktiven eilen mit Theorie der Sache voraus.“ Folberth mag damit ermuntert worden sein, vom romantisierenden Traum zur literarischen Tat zu schreiten.

Neben dem Verdienst, zur Anerkennung „ästhetischer Selbstbestimmtheit“ beigetragen zu haben, nennt Markel als einen „weiterwirkenden Ertrag dieser am Expressionismus geschulten Literaturbewegung die „erstmalig geprobte Konvergenz der deutschsprachigen Literaturprovinzen im nunmehr rumänischen Sprachraum“. Für viele, allerdings nicht für ausnahmslos alle, Autoren und Leser der Zwischenkriegszeit war der Expressionismus eine Episode, die Impulse für moderne Schreibverfahren freisetzte. Und was sie später schrieben und lasen war wohl neu, aber mit Erinnerungen.

Horst Schuller

Schlagwörter: Expressionismus, Literatur, München

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