21. Juli 2024

Grüß Gott/Erzählung von Annemarie Roth

Annemarie Roth, geboren 1958 in Marienburg bei Schäßburg, begann während der Coronazeit Erzählungen zu schreiben, die in Siebenbürgen spielen und eine Mischung aus realen Begebenheiten und Fiktion sind. Die Geschichte „Grüß Gott“ ist ihre vierte literarische Veröffentlichung in der SbZ Online.
Neulich war ich mit meinem Patensohn, schon ein junger Erwachsener, unterwegs auf einem unserer üblichen, seit seiner Kindheit fortdauernden Spaziergänge, die mir immer große Freude bereiten.

Wir grüßen die Entgegenkommenden immer, so ist es bis heute hier in der ländlichen Region üblich, auch wenn es eine kleine Gemeinschaft von Zugezogenen ist, in der wir leben. Das Bedürfnis, sich gegenseitig Hallo zu sagen und auch mal ein paar Worte zu wechseln, ist bei fast allen vorhanden. Viele kennt man mit Namen, was sich im Laufe der Jahre so ergeben hat.
Ich bin sicher, dass bei allen, die diesen lockeren, aber freundlichen Kontakt pflegen, das tiefsitzende menschliche Bedürfnis nach Nähe und Verbundenheit mit dem anderen und das Gefühl der Zugehörigkeit stark ausgeprägt sind.
Man ist nicht allein in der weiten, heute oft kalten und unpersönlichen Welt.
Mit einigen hat sich über die Schwelle des eher unpersönlichen Sich-Grüßens hinaus eine freundschaftliche Beziehung entwickelt, die Grundlage dafür ist, dass man sich zur Hand geht und sich hie und da tatkräftig unterstützt.

Nun. Bei diesem oben erwähnten Spaziergang trafen wir auf einen Mann mittleren Alters, zugezogen auch er vor vielen Jahren aus dem Osten, der, als er unser, oder eher meiner als Frau, ansichtig wurde, sofort die Hände aus den Jackentaschen zog.
„Eine Geste der Höflichkeit,“ sagte ich leichthin zu meinem Patensohn, „der Mann macht das immer so. Gute Erziehung genossen.“
„Ach, macht man das so?“, war die Antwort. Diese unbedarfte Frage weckte in mir ein Gefühl der Heiterkeit. Auch fand ich sie rührend. Und ich hatte das Empfinden, dass mein Herz einen übermütigen Hopser machte, als ob es in einen Freudentaumel gerate und es rot und groß und voller Wärme meinen ganzen Körper mit überschäumender Lebensenergie vollpumpte.

Mein Patensohn ist ein sehr gut erzogener, ausgesprochen höflicher und rücksichtsvoller junger Mann. Dass er die Gepflogenheiten früherer Erziehungs- und Höflichkeitsregeln nicht alle kennt, ist zeitgemäß und ganz üblich.

Mich bewog diese Begebenheit dazu, über die Regeln des Grüßens und damit einhergehend des Anstands und der Rücksichtnahme nachzudenken.
Und darüber natürlich, wie es da war, wo ich aufwuchs und geprägt wurde fürs Leben.

„Grüßen ist Höflichkeit, danken ist Pflicht“, sagte man früher in meiner Kindheit und nach diesem Diktum wurden wir erzogen.

In kleinen überschaubaren Gemeinschaften, in denen jeder jeden kannte, gehörte das Grüßen des Gegenübers unweigerlich zum Alltag. Jeder musste sich daran halten, sonst hatte es Konsequenzen.

Die Kinder hatten die Erwachsenen höflich zu grüßen, wobei sie das Grüß Gott benutzten, das bei uns üblich war. Taten sie das mal nicht, blieb die Beschwerde bei den Eltern selten aus. Ein bisschen Zwang ist ja bei jeder Erziehung dabei, ganz gleich, was dieser oder jener Neunmalkluge auch sagt.
Ich empfand das Grüßen als Kind im Großen und Ganzen nicht als lästige Pflichterfüllung. Es war in Ordnung und durchaus auch angenehm, wenn einem vor allem ältere Leute Aufmerksamkeit zukommen ließen. Man fühlte sich zugehörig, eingebettet ins große Ganze, man war nie verlassen oder einsam, worunter heutzutage in unserer hiesigen schnelllebigen technisierten Gesellschaft viele Menschen, jung und alt, leiden.

Begegnete man also einem Erwachsenen, blieb es oft nicht beim Grüß Gott. Sofort wurde hinterhergeschoben: „Wo gehst du hin, Kind?“ oder „Was machst du, Kind?“. Und so entspann sich im besten Falle eine kleine Unterhaltung, je nachdem, wie eilig die Leute es hatten.
Dass es bei unserer alten Nachbarin, der Ennitante, die oft und lange auf dem Bänkchen vor ihrem Haus saß, dem Übermaß an freier Zeit geschuldet, die ältere und oft auch gebrechliche Menschen hatten, nicht beim einfachen Grüßen blieb, machte uns Kinder häufig ungeduldig. „Komm, setz dich ein wenig zu mir, Kind“, und dann wurde man ausgefragt. Wir Kinder saßen wie auf Kohlen, antworteten kurz und bündig, in der Hoffnung schnell entlassen zu werden, immer auf dem Sprung, blieben aber sitzen. Wir hatten höflich zu sein. Unsere sicher spürbare Ungeduld hinderte die Tante nicht daran, alte Geschichten aus ihrem Leben hervorzukramen und sie in allen Einzelheiten auszubreiten. Verständlich, dass sie das genoss und auch brauchte, bei mir als Kind führte das dazu, dass ich die Straßenseite wechselte oder im Laufschritt mit einem kurzen, vom Gegenwind verhuschten Grüß Gott an ihr vorbeiflitzte.

Sogar manch ein Erwachsener hatte es eilig, wenn sie ihn auf ihre Bank locken wollte. „Ich hab noch so viel Arbeit, Ennitant, ich muss jetzt gehen“, hieß es, einen Grund suchend, um sich zu entfernen. Mein kindliches schlechtes Gewissen beruhigte sich, als ich dieses Verhalten bei den Erwachsenen bemerkte.

In der Regel klappte es mit dem Grüßen, es wurde zur Gewohnheit und ein Grußwort war schnell gesagt. Aber es gab durchaus auch bei uns auf dem Dorf, so klein und überschaubar die Gemeinschaft auch war, Abweichler, die es förmlich darauf anlegten, dass über sie geschimpft wurde, sie sich regelrecht zum Gesprächsthema entwickelten oder man sogar, wenn man sich nicht mehr zu helfen wusste ob des Regelbruchs ihrerseits, den Stab über sie brach.
Nach dem Motto: Geächtet und vogelfrei wegen des Vergehens, sich des Grüßens der Gemeindemitglieder absichtlich enthalten zu haben. Meistens scherte es diese Leute sowieso wenig, da sie schon immer Eigenbrötler waren. Oder waren sie vielleicht Freigeister? Hatten sie den Durchblick?
Vielleicht fanden sie dieses ganze Getue albern, was man allerdings nie erfuhr. Dieser Gedanke kam mir, als ich erwachsen wurde und diesen Grußzwang schon auch manchmal in Frage stellte. Alles in Maßen, hörte ich mal jemanden sagen. Ich fing an, dies zu verinnerlichen und gut zu heißen. Wie in allen Dingen sollte man auch bei diesem hochgehaltenen Thema Grüßen den goldenen Mittelweg anstreben, was mit Sicherheit ein schweres Unterfangen war und ist.

Solange ich in unserem Dorf lebte, grüßte ich jeden und erfüllte die an mich gestellten Erwartungen. Natürlich gab es auch bei mir Abstufungen in der Bereitschaft, jemanden mit einem Gruß zu würdigen. Vor allem, als ich älter wurde und lernte, Menschen einzuschätzen, behielt ich mir auch vor, unterschiedlich freundlich zu sein bei meinem Gruß, gerne stehen zu bleiben auf einen Plausch oder hastig das Weite zu suchen, um keine Ausrede verlegen, oder gar die Straßenseite zu wechseln, wenn mir jemand in seiner Art unangenehm oder gar aufdringlich erschien. Ich rechtfertigte diesen Höflichkeitsverstoß damit, dass ich mir sagte, es würde schon nicht so schlimm sein für den anderen, einen Gruß mal nicht erwidert zu bekommen. Beim nächsten Mal machte ich dies wieder wett, indem ich halt Grüß Gott sagte. So war ich mit meinem Gewissen im Reinen.

Ich war trotz meiner Ungeduld, die sich manchmal und bei einigen Leuten in Sachen Grüßen einstellte, immer der Meinung, dass es sich so gehörte, freundlich zu sein und den anderen nicht zu übersehen. Schließlich waren wir gut erzogen und ein gesittetes Miteinander musste zwangsläufig gepflegt werden. Das machte uns erst zu anständigen, hilfsbereiten Menschen und zivilisiert dazu.
Der Meinung bin ich bis heute. Es zeichnet uns aus, andere zu respektieren und ihnen mit Anstand zu begegnen, wozu in einer überschaubar großen Gemeinschaft und vor allem, wenn man sich kennt, ein netter Gruß dazu gehört.

In Stein gemeißelt sind aber auch die Regeln des Grüßens nicht. Ich neige dazu, immer wieder die berühmte Medaille mit ihren zwei Seiten anzuführen und oft sage ich auch, dass es nicht nur eine Wahrheit gibt, wovon ich voll und ganz überzeugt bin. Als ich noch zur Schule ging, lernte ich eine Aussage von G. E. Lessing auswendig, die mir im wahrsten Sinne des Wortes ein Licht aufgehen ließ: „Nicht die Wahrheit, in deren Besitz manch ein Mensch ist oder zu sein vermag, sondern die aufrichtige Mühe, die er angewandt hat, hinter die Wahrheit zu kommen, macht den Wert des Menschen. Denn nicht durch den Besitz, sondern durch die Nachforschung der Wahrheit erweitern sich seine Kräfte, worin allein seine immer wachsende Vollkommenheit besteht. Der Besitz macht ruhig, träge, stolz.“

Bis heute sind mir Menschen suspekt, die ihren Standpunkt als den einzig richtigen ansehen, sich nicht in Frage stellen und gegenteilige Meinungen, meist auch entsetzt und von oben herab, ablehnen, ja sogar milde belächeln.

Ganz sicher geht meine Einstellung darauf zurück, dass ich als Kind und Jugendliche in einem politischen System leben musste, dass nur eine Position zuließ. Was entgegengesetzt oder auch nur anders war, meinungsmäßig, wurde nicht nur abgelehnt, sondern heftig bekämpft und diffamiert. Als Einzelperson war es gefährlich, sollte man es wagen, die bestehende und von oben erwartete Haltung anzuzweifeln. Eine vom Staat und von den führenden politischen Verantwortlichen „verordnete“ Auflehnung gegen einen von ihnen bestimmten Widersacher muss immer angezweifelt werden.

Die Autorin in Uniform im ersten Jahr ihres ...
Die Autorin in Uniform im ersten Jahr ihres Studiums in Temeswar (1978).
Vor diesem Hintergrund veränderte sich meine Sicht auf das Grüßen von Grund auf, als ich im ersten Studienjahr war.
Es gab die Regel, dass auch die Studentinnen Militärdienst zu leisten hatten. Einmal in der Woche hatten wir einen Tag lang militärische theoretische Unterweisung und am Ende des Studienjahres nochmal drei Wochen in den Ferien eine soldatische praktische Ausbildung. Was es bedeutet hätte, sich zu widersetzen, kann sich jeder ausmalen, auch wenn er nie in einer ähnlichen Lage war.

Es war mir schon ein Graus, die Uniform anzuziehen. Zu dem, dass sie etwas symbolisierte, das mir zutiefst zuwider war und das mir mit dieser Kleidung zwanghaft im wahrsten Sinne des Wortes übergestülpt wurde, kam, dass sie nach staubiger trockener Schafwolle roch, was mich ekelte, und vor allem im Winter mit dem dazugehörigen Mantel sehr schwer war und einen somit nicht nur vom Symbolischen her buchstäblich erdrückte. Ich fühlte mich eingeengt und gefangen, und trotz Fluchtgedanken konnte ich mich in diesem sowohl ideellen als auch wahrhaftig reellen Korsett nur schwer vorwärtsbewegen.

Diesem Umstand konnte ich mich nicht entziehen. Bei der theoretischen Ausbildung konnte ich wenigstens innerlich flüchten. Das ging natürlich bei praktischen Übungen am Ende des Jahres nicht. Marschieren und Übungen am Gewehr waren unverrückbare Tatsachen. Dass ich eine gewisse Geschicklichkeit beim gezielten Schießen entwickelte, bescherte mir, trotz der Umstände, eine stille Genugtuung.
Später profitierte mein Patensohn, als er klein war, auf Jahrmärkten davon, wenn ich ihm dies oder jenes Spielzeug mit einem sicheren Schuss holte. Ein so erbeuteter kleiner, nicht unbedingt sehr schöner Löwe avancierte zu einem seiner Lieblingskuscheltiere. So schließt sich dieser Kreis, und zwar zum Guten.

Dass Soldaten ihre Vorgesetzten grüßen und dazu salutieren müssen, ist wohl überall gang und gäbe. Bei uns war es nicht anders.
Begaben wir uns in Uniform in Richtung unserer Ausbildungsstätte, hatten wir auf der Straße den Salut und auch den entsprechenden militärischen Gruß unseren Ausbildern ehrerbietig angedeihen zu lassen. Wir taten es alle, ich tat es ebenso, wenn auch widerwillig. Mir leuchtete vor meinem inneren Auge jedes Mal wie ein Warnschild auf: Verlogenheit! Unterdrückung! Und mein Innerstes war voll Bitterkeit.

Nun kam der Tag, der meine von der Erziehung her eher positive Einstellung zum Grüßen von Grund auf ändern sollte.
Ich war mittags nach den theoretischen Ausbildungsstunden in Uniform auf dem Weg zum Studentenwohnheim. Wieso ich alleine war, weiß ich nicht mehr. Normalerweise war ich mit meinen Freundinnen immer zusammen unterwegs.

Es war Winter, ziemlich kalt und es schneite so heftig, dass man kaum etwas erkennen konnte. Und doch sah ich plötzlich in einiger Entfernung vor mir sich eine uniformierte Person nähern. Es konnte nur eine Ausbilderin sein.
Mich auf das stürmische, die Sicht nehmende Schneegestöber verlassend, huschte ich schnell, einer inneren, wie sich später herausstellte, nicht sehr klugen Eingebung folgend, auf die andere Straßenseite.
Ich vertraute auf das Diesige durch den dichten Schneefall und dass die nah auffahrenden Autos noch zusätzlich den Blick verstellten.
Aus dem Augenwinkel sah ich den anderen Uniformierten, als er auf meiner Höhe war, ging aber mit gesenktem Kopf, wie eben vor dem Unwetter Schutz suchend, schnell weiter. Ich war schon vorbei und da traute ich meinen Ohren nicht. Durch das unwirtliche Wetter hindurch drang eine weibliche schrille Stimme, die mich mehrere Male aufforderte, stehen zu bleiben. Es war eindeutig unsere Ausbilderin. Ich ging einfach weiter, tat so, als ob ich nichts gehört hätte, in der Hoffnung, dass sie annähme, das Gestöber und der Lärm der Autos hätten ihre Stimme überdeckt.

Mein Atem ging um einiges schneller und dies nicht nur, weil ich beinahe rannte. Nur beinahe, denn das Gewicht des Mantels, die schweren Stiefel und die Angst, die wie ein Feuer in mir aufloderte, zudem der verschneite Gehsteig bremsten mich gewaltig ab in meinem Vorwärtskommen.
Ich kam schweißgebadet und panisch in unserem Zimmer an und warf die verhassten, stinkenden Uniformsachen von mir. Weinend und die liederlichsten Flüche von mir gebend, erzählte ich den anderen, was geschehen war.
Während die Freundinnen mich zu beruhigen versuchten, saß ich bebend auf meinem Bett. Ich kann mich sehr gut erinnern, wie übermächtig meine Angst vor den Folgen war. Selten in meinem Leben war ich so hilflos und fühlte mich so allein und mutlos. Die abscheulichsten Bilder tanzten wie im Fasching verkleidete gruselige Figuren durch meinen Kopf und ich sah mich schon in einem Hinterzimmer der Geheimpolizei völlig einsam und meinen Peinigern ausgeliefert. Niemand würde mir helfen können. Ich war am Boden zerstört. Grausame Tage lagen vor mir.
Es kam, wie es kommen musste, aber doch nicht ganz so abscheulich, wie ich befürchtet hatte.
Tagelang geschah nichts. Erst am Mittwoch, dem Tag der militärischen Ausbildung, sollte ich mich bloßgestellt sehen. Das System und seine willigen Vertreter verstanden es bis zur Perfektion, Menschen sich fürchten zu lassen, sie mürbe zu machen und nicht selten, sie zu brechen.
Den ganzen Vormittag über geschah nichts. Die Ausbilderin behandelte mich wie alle anderen, sodass ich zwischendurch doch auf die Gunst des Schicksals zählte.
Vielleicht würde sie das Ganze doch ad acta legen. Die Hoffnung glomm wie ein zages Flackern auf, um gleich darauf von den unheilvollen, beklemmenden Gedanken, die mich seit einer Woche marterten, im Keim erstickt zu werden.

Nach dem Unterricht wurde ich gebeten, noch etwas zu bleiben.
Als wir alleine waren, bekam ich eine gehörige Standpauke, wobei mir die Ausbilderin zeitweise sehr nahe kam, sich vor mir aufpflanzte in voller Größe, um mich wohl noch mehr einzuschüchtern.
Dies gelang ihr. Meine Beine zitterten. Sie war überzeugt davon, dass ich sie an besagtem Tag gehört hatte.

Ich blieb, trotz wachsendem Unbehagen, meiner Version treu, erniedrigte mich dahingehend, dass ich log, mich mehrmals entschuldigte, falls ich sie gekränkt hätte, versprach, aufmerksamer zu sein, ich wolle ja alles richtig machen, hasste mich für mein Verhalten und für alles, was ich sagte, aber die tagelange Ungewissheit und Beklemmung hatten mich so geschwächt, dass ich nicht anders konnte. Und zudem weinte ich, so weit unten war ich. Ich fühlte mich zutiefst gedemütigt.
Sie entließ mich großzügig. Sie spürte ihre Macht über mich und glaubte wohl mich gebrochen zu haben.

Hätte sein können, aber ich erholte mich und in mir wuchsen Wut und Hass, zwei sehr starke, sehr zerstörerische Emotionen. Niemand würde mich je wieder so demütigen, schwor ich mir. Und ich lernte eine Fassade aufzubauen und einen schützenden Panzer um mich herum zu schaffen. Auch später sahen nur wenige, was sich eigentlich darunter verbarg.

Das Grüßen wurde mir durch dieses Erlebnis zum Gräuel. Später wohnte ich in einer Großstadt und musste mich damit nicht mehr auseinandersetzen.
Erst als ich an meinen heutigen Wohnort zog, begann ich allmählich, langsam, behutsam das Angenehme und Verbindende des Grüßens wieder zu entdecken.

Manchmal im Leben ist es eine kleine, scheinbar wenig bedeutende Begebenheit, die in einem etwas Verhärtetes, Verschobenes, Verirrtes wieder zurechtrückt. So als ob ein harter schmerzhafter Knoten sich nach und nach löst. Es war mein Patensohn, der den Knoten zumindest anfing zu lockern.
Er war vielleicht vier Jahre alt. Wir gingen auf den Spielplatz, am Eingang saß auf einer Bank eine sehr alte Frau mit Gehstock. Als er sie sah, lief er überaus fröhlich auf sie zu und rief lachend: „Hallo, Oma“. Die Überraschung und die Freude der alten Frau waren von einer solchen Intensität, dass ich zutiefst erschüttert und den Tränen nahe war. Mein Innerstes erinnerte sich schlagartig an die verbindende Kraft des Grüßens. Was ein ehrlicher, freundlicher, von Herzen kommender Gruß doch bewegen konnte!

Ab diesem Zeitpunkt begann meine verletzte, geschädigte Einstellung zum Grüßen allmählich heil zu werden und ich konnte mich wieder gerne an unser Grüß Gott aus jungen Jahren erinnern.

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Schlagwörter: Erzählung, Erinnerungen, Literatur, Annermarie Roth

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