14. Dezember 2020

Erst bedacht, dann rasch gemalt und schön geschrieben: Renate Mildner-Müller zum 80. Geburtstag

Die Künstlerin und Kunstpädagogin erblickte vor 80 Jahren, am 7. Dezember 1940, als Renate Mildner das Licht der Welt – in Kronstadt. Die dort begonne­ne Karriere setzte Renate Mildner-Müller nach der 1977 erfolgten Ausreise fort. Ein fast unübersehbares Œuvre ist ihrer überbordenden Schaffenslust und ihrem Arbeitstempo zu verdanken. Ihre Werke wurden in über 100 Ausstellungen gezeigt, illustrieren annähernd 30 Bücher und wurden ausgezeichnet – in Rumänien. Nicht zuletzt befruchtet Renate Mildner-Müller als Dozentin für künstlerische Techniken und Schrift auch andere Künstler. Obzwar die Erfolgsgeschichte noch lange nicht beendet ist, sondern von der Künstlerin in Winnenden fortgeschrieben wird; einen Zwischenruf hat sie sich verdient. Erst recht wenn mit der Vorbereitung dafür ein Atelierbesuch einhergeht, der der Recherche und dem besseren Kennenlernen dient und zumindest ein wenig über den von Corona bedingten Ausfall des traditionellen Advents-Workshops samt Ausstellung hinwegtröstet.
Renate Mildner-Müller mit dem Aquarell ...
Renate Mildner-Müller mit dem Aquarell „Vogelschrift“ in ihrem Atelier. Alle Fotos: H-W S
Wer kennt sie nicht? Die mit leichter Hand hingeworfenen, wie aus einer anderen Welt herbeischwebenden Figuren mit dem kindlichen Optimismus und der naiven Unschuld, die noch jedem Betrachter ein Lächeln ins Gesicht zaubern? Ich habe sie erstmals 1984 wahrgenommen, in dem vom Wort und Welt Verlag herausgegebenen Band „Der Wunderbaum“. Die darin enthaltene Auswahl der von Josef Haltrich gesammelten Märchen aus Siebenbürgen hat Renate Mildner-Müller so opulent illustriert, dass die Rezensenten ihnen die größte Aufmerksamkeit widmeten. „Zauber und Wunder sind in den Bildern von Renate Mildner-Müller zugelassen. Sie sind nicht nur denkbar – sie geschehen“, urteilte der Banater Journalist und Kunstkenner Franz Heinz. Mich haben sie verzaubert und ich konnte es kaum erwarten, diese Künstlerin und Werke von ihr im Original kennenzulernen. Allerdings sollte das noch ein paar Jahre dauern.

Illustre Illustratorin

Verbleiben wir aber noch bei Renate Mildner-Müller als vielfach ausgezeich­neter Illustratorin – aus mehreren Gründen: Illustration stellt eines ihrer Haupttätigkeitsgebiete dar, wird neben dem Aquarell am stärksten von der Öffentlichkeit wahrgenommen und ist nicht zuletzt erhellend für das Selbstverständnis dieser Künstlerin.

Das alles erstaunt wenig, wenn man weiß, dass sie eine frühe künstlerische Förderung durch den Vater erhält, den Militärarchitekten und Schildermaler Josef Mildner, und auch von Harald Meschendörfer ausgebildet wird. Auch wenn Renate Mildner-Müller schon früh erste Erfolge feiert – z.B. 1959 der dritte Preis bei der Bukarester Aus­stellung für dekorative Kunst – sollte es noch ein paar Jahre dauern, bis sie sich als Illustratorin einen Namen macht. Davor ist sie 1959 als technische Zeichnerin tätig, studiert ab 1960 am Klausenburger Institut für bilden­de Künste „Ion Andreescu“, heiratet 1964 den Medizinstudenten Martin Müller, mit dem sie 1966 die erste Tochter bekommt – 1968 folgt die zwei­te –, und wird 1966, als sie das Studium mit Diplom und als Meisterschülerin der Grafik abschließt, als Kunsterzieherin an das Kronstädter Musik­- gymnasium zugeteilt. Später wechselt sie an das Honterusgymnasium hat aber schon ab 1966 als Mitglied des von Friedrich von Bömches geleiteten Kronstädter Künstlerverbandes zahlreiche Ausstellungsbeteiligungen – auch im Ausland, u.a. in Breslau und Madrid –, 1970 folgt die erste Einzelausstellung in Bukarest, 1973 dann in Kronstadt, und sie illustriert ab 1968 17 Bücher vor allem für die Verlage Kriterion und Dacia.
„Kranke Bäume“, Linolschnitt, um 1974, 100 x 70 ...
„Kranke Bäume“, Linolschnitt, um 1974, 100 x 70 cm
Mir ist diese Phase ihres Lebens nicht so bekannt, ich frage immer wieder nach, will u.a. wissen, für welche Bücher sie mit welchen Preisen ausgezeichnet worden ist und wie viele Bücher sie überhaupt illustriert hat. – Sie weiß es nicht genau. Das darf vielleicht nicht wundern, angesichts der Tatsache, dass es sich mitunter nur um ein Titelblatt und ein paar grafische Elemente handelt. Es darf erst recht nicht wundern, wenn man kurz vorher schlucken musste, angesichts der Tatsache, dass es kein Werkverzeichnis gibt und dass noch nicht einmal eine Liste der Ausstellungen geführt wird. Bekannt ist aber, dass der von ihr illustrierte Band „Der tapfere Ritter Pfefferkorn“ den größten Erfolg gehabt hat. Der 1971 im Kriterion-Verlag erschienenen Auflage folgen bis heute viele weitere Auflagen und Ausgaben. Schade nur, dass dieser Erfolg, der auch den Illustrationen von Renate Mildner-Müller zu verdanken ist, zumindest in finanzieller Hinsicht an der Künstlerin vorbeigeht.

Ganz reibungslos kann sie nach der Ausreise an diese Erfolge nicht anknüpfen. Ihre Vorstellungsgespräche bei den großen Verlagen sind ernüchternd, auch wenn sie nicht immer so zu schlucken hat, wie bei der Bemerkung „Wissen sie, wir fahren mit einer Tasche Altkleider nach Prag und lassen dafür dort unsere Bücher illustrieren“. Aber sie macht sich auch in Deutschland als Illustratorin einen Namen, nicht erst beginnend mit dem eingangs erwähnten „Wunderbaum“. Auch wenn sie nicht mehr so viele Bücher wie in Rumänien illustriert, gibt sie vielen anderen Büchern wie auch Platten, CDs und DVDs mit ihren Titelbildern ein Gesicht.

Nicht nur als Illustratorin, auch als Malerin reüssiert sie. „Renate Mildner-Müller – von der angewandten Graphik zur freien Malerei“ titelte 1986 unser Landsmann Dr. Günther Ott, damals Direktor des Außenreferats der Kölner Museen und Dozent für Kunstgeschichte an der Fachhochschule Köln, in der „Kulturpolitischen Korrespondenz“. Darin schwingt eine Rangfolge an, eine Rangfolge die sich aber nicht von der Grafik hoch zur Malerei ergibt, sondern von der angewandten, der „gebundenen“ Kunst hin zur freien Kunst. Es war ein mühsamer Prozess hin zur freien Kunst und zu der Freiheit der Kunst. Nur ist es ein großes Missverständnis, wenn damit auch eine qualitative Konnotation einhergeht. Ein Michelangelo oder ein Tizian gehören nicht deshalb zu den bedeutendsten Künstler weil sie frei drauflos malten. Nein, sie wie auch alle ihre Nachfolger bis weit ins 19. Jahrhundert hinein waren gebunden an die Vorgaben ihrer Auftraggeber: Adlige, kirchliche oder städtische Würdenträger. Nur in den vorgegebenen Grenzen – Größe, Technik, Sujet … – konnte sich ihr Genie entfalten.

Solchen vorgegebenen Grenzen ist heutzutage Grafik und insbesondere Illustration in höherem Maße ausgesetzt als Malerei. Wenn Renate Mildner-Müller den Auftrag erhält, ein Buch zu illustrieren, ist sie gebunden durch dessen Machart – von Umfang und Satzspiegel bis hin zu Papier- und Druckqualität … – aber insbesondere durch den Inhalt, den sie ins rechte Licht rücken soll nach dem Motto: Ein Bild sagt mehr als tausend Worte.
„Parzivals nachgelieferte Frage“, gerahmt, 1985, ...
„Parzivals nachgelieferte Frage“, gerahmt, 1985, Eitempera auf Leinwand, 46 x 36 cm
Renate Mildner-Müller schafft das, ihr gelingt es immer wieder, in einem Bild ein Märchen einzufangen, ein Gedicht, ja sogar die Stimmung eines ganzen Romans. Allenthalben wird die unglaubliche – mit handwerklichem Können und Präzision einhergehende – Schnelligkeit betont, in der sie ihre Werke gestaltet. Allerdings ist der Schaffensprozess insgesamt um einiges verhaltener, bedächtiger. Ein Märchen, ein Gedicht, erstrecht ein Roman wollen erst gelesen werden, man muss sich mit ihnen so lange auseinandersetzen, bis man von ihnen einen nachhaltigen Eindruck erhält und sich mit dem Autor oder zumindest mit einer seiner Personen oder Szenen gemein machen kann. Erst dann ist man imstande, Bücher so zu illustrieren, dass der Inhalt offen sichtlich wird und den Leser anspricht, eben so wie Renate Mildner-Müller es tut und uns damit manch ein Werk insbesondere siebenbürgisch-sächsischer Autoren nahe­bringt.

Der hier geschilderte Prozess ist aber nicht auf die Grafik und die Illustration Renate Mildner-Müllers beschränkt. Ich glaube, er ist in großem Maße für ihre gesamte Kunst gültig. Bei dem Atelierbesuch wollte ich mir insbesondere den Teil ihres Werks ansehen, den ich nicht kannte: Werke aus ihren frühen Schaffensjahren, aber auch Landschaften und Porträts.

Es ist mir nicht vergönnt, letztere zu sehen, da sie als Auftragsarbeiten bei den Porträtierten verblieben sind. Kann ich dann ein Selbstporträt sehen?, frage ich nach. Auch das geht nicht, weil die wenigen, die allesamt aus der Studienzeit stammen, verschollen sind.

Immerhin ist es mir vergönnt, etliche Werke zu betrachten, die noch in Rumänien entstanden sind. Sie sind nicht sofort als ein Mildner-Müller erkennbar, sie sind grafischer, weniger malerisch, und insoweit dürfte Ott wohl eine richtige Entwicklung diagnostiziert haben. Unter diesen Werken sticht der Linolschnitt „Kranke Bäu­me“ heraus. Weniger, weil er auch Landschaft abdeckt, sondern weil der Eindruck entstehen konnte, dass in Rumänien ein Problem bewusst war und zumindest in der Kunst behandelt wurde, lange bevor sich in Deutschland eine Umweltbewegung dem Baumsterben widmete. Diesen Eindruck korrigiert die Künstlerin sofort. Auf die nachgeschobene Frage, ob andere einschneidende Ereignisse in ihrer Kunst einen Niederschlag gefunden haben, verweist sie nur auf das großformatige Aquarell „Pax“, zu dem sie die Friedensbewegung inspiriert hätte sowie auf das Acrylgemälde „Rundtischgespräch“.

Auch Landschaft, vor allem aber Fantasie

Gemeinsam wenden wir uns den Landschaftsbildern zu – größtenteils Aquarelle, die in den 80-90er Jahren bei den nachholenden Reisen vor allem nach Italien und Griechenland, aber auch an Nord- und Ostsee ­entstanden sind. – Wir können nur ein Bild finden, das im Umland von Winnenden entstanden ist! Es sind ­typische Mildner-Müller-Aquarelle, leicht hingetupfte, flüchtig drübergezogene Farbschleier, die trotz der beträchtlichen Aussparungen, das einfangen und widergeben, was die Künstlerin berührt hat. Ich wundere mich, warum diese Landschaften noch nicht zu sehen waren, und erfahre, dass das schon passiert, – manchmal. Verdient hätten sie, dass das öfter geschieht.

Immerhin entspringen diesen Landschaftsbildern einige Elemente, die seither den Mildner-Müllerschen Bilderkosmos bevölkern, wie z.B. der Granatapfel, der Pinienzapfen …

Es kristallisiert sich allmählich heraus: das politisch-soziale Leben schlägt sich kaum nieder im Werk von Renate Mildner-Müllerer; die sie umgebenden Menschen wecken das Interesse der Künstlerin ebenso wenig wie die sie umgebende Landschaft – Landschaft und nicht Umgebung, denn ein Blatt oder ein Käfer schaffen das mühelos –, es sei denn, es handelt sich um etwas ganz Besonderes, Unbekanntes, Exotisches. Letzteres findet sie mitunter in der realen Welt, sie findet sie aber müheloser in der fiktionalen Welt, insbesondere in der Literatur. In einem gewissen Sinne passiert also bei jedem Werk von Renate Mildner-Müller, das, was weiter oben mit Blick auf ihre Illustration festgehalten wurde. Der Unterschied besteht allein darin, dass sie sich die Inspirationsquelle aussucht: ein Gedicht oder eine Sagengestalt, die sie beeindrucken oder die in einer Beziehung zu Sachverhalten stehen, die ihr wichtig sind.
„Theater“, 2010, Acryl auf Leinwand, 70 x 50 cm ...
„Theater“, 2010, Acryl auf Leinwand, 70 x 50 cm
Allerdings wird nicht wegen dieser fiktionalen Inspirationsquellen Mildner-Müllers Werk stilistisch dem „fantastischen Realismus“ – man spricht auch von „poetischem Realis-mus oder „lyrischem (Sur) Realismus“ – zugeordnet. Wie jede Zuordnung, trifft auch diese nur bedingt zu. Sie macht allerdings deutlich, dass dieses Werk trotz seiner ausgeprägten Gegenständlichkeit nichts mit „sozialistischem Rea­lismus“ zu tun hat. Dem „sozialistischen Rea­lismus“ ist Mildner-Müllers Stil allerdings zu verdanken, entwickelte er sich doch, wie die Künstlerin bekennt, aufgrund der Bemühungen, „die im Sinne des sozialistischen Realismus erwarteten und empfohlenen Themen zu umgehen.“

Ihre in diesem Prozess sich entwickelnde Handschrift und ihre Art zu malen behält sie auch nach der Ausreise, denn „für mich existierte (und tut es noch) eben auch eine andere Realität. Mir war und ist FIGUR – aus Literatur, aus Musik, Oper u.ä. – immer viel interessanter und wichtiger, schon um meine Fantasie zu ,bedienen‘.“ Dankbar merkt sie aber noch an, dass auch die materielle Sicherheit, derer sie sich als Arztgattin erfreuen darf, es ermöglicht, dass sie ihrem Stil treu bleibt und ihn weiterentwickeln kann, ohne Moden hinterher­- zulaufen und sich dem Kunstmarkt anzupassen.

Die frühe Abenddämmerung macht sich bemerkbar. Ich muss die Heimreise antreten, obwohl ich noch so viele Fragen hätte und noch einiges im Dunkeln liegt. Aber ich tröste mich damit, dass das Enigmatische zur Kunst der Mildner-Müller dazugehört, und dass das Wunder der Schöpfung dem verstandesmäßigen Zugang eh verschlossen bleibt. Das heißt nicht, dass der Zugang zu dem einzelnen Werk verschlossen bleibt, gibt uns doch die Künstlerin diesbezüglich Hilfestellung durch in ihre Bilder integrierte Kalligraphie. Trotz der Lesehilfe, die sie uns mit ihrer Schriftkunst bietet, werden die Bilder nicht entzaubert, sie behalten das Wundervoll-Geheimnisvolle, das – trotz des Kritikerurteils: „Ziemlich elitär das Ganze“ – so viele Betrachter anspricht.

Mit Blick auf den bevorstehenden 80. Geburtstag muss ich noch eine Frage stellen: „Wenn die uns umgebenden, von dir geschaffenen feenhaften Wesen jeden Wunsch erfüllen könn­ten, was wäre dein größter Wunsch?“ Wie aus der Pistole geschossen kommt die Antwort: „Eine Galerie.“ Ich bin überrascht. Aber nur kurz. Denn so überraschend ist der Wunsch in Corona-Zeiten gar nicht. Renate Mildner-Müller kann ja nach wie vor ihre Bilder malen, und sie kann sich dabei weiterhin voll und ganz auf alle ihre Sinne wie auf ihre stupende beidhändige Feinmotorik verlassen. Was ihr abgeht, ist der Dialog mit dem Betrachter ihrer Kunst, in dessen Auge bekanntlich Kunst entsteht.

Mit diesem letzten Wunsch im Ohr, schenke ich auf dem Weg zum Ausgang den zahlreichen Werken, die die Wände der gesamten Wohnung schmü­cken, eine gesteigerte Aufmerksamkeit. Mein Blick bleibt auf einem der letzten Schriftbilder hängen: „Carpe diem“ – eine Sentenz des römischen Dichters Horaz: „Genieße den Augenblick“ oder auch „Nutze den Tag“.
„Carpe Diem“, 2010, Acryl auf Leinwand, 40 x 40 ...
„Carpe Diem“, 2010, Acryl auf Leinwand, 40 x 40 cm
Renate Mildner-Müller hat dieser Sentenz gemäß gelebt und gewirkt und uns ein Werk geschenkt, an dem sich auch noch nachfolgende Generationen erfreuen werden. Möge sie noch viele Tage nutzen und viele Augenblicke genießen gemeinsam mit ihrem Gatten, den beiden Töchtern und drei Enkeln sowie mit den Figuren ihrer Bilder.

Hans-Werner Schuster

Schlagwörter: Porträt, Geburtstag, Künstlerin, Illustrationen, Kalligrafie, Kronstadt

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