18. Dezember 2020
Siebenbürgen als Schicksal und Lebensthema: Neuer Essayband von Hans Bergel
Mit dem jüngst erschienenen Sammelband „Randbemerkungen. Das Jahrhundert, an dem ich teilhatte“ legt Hans Bergel eine Auswahl von 29 Essays und drei Interviews vor, die zeitlich und thematisch weit ausgreifend, einen Zugang zum dichterischen und publizistischen Werk des inzwischen 95-jährigen Autors mit neuen Perspektiven komprimierter Welterfahrung und -deutung eröffnet. Auswahl und Anordnung der Texte bündeln das breite Spektrum von literarischer, kunsttheoretischer, historisch-politischer und wissenschaftlicher Thematik, die Hans Bergel in seinem Lebenswerk in über fünfzig Büchern entfaltet hat.


Bergels Portrait des Schriftstellers und protestantischen Pfarrers Andreas Birkner lenkt den Blick auf einen siebenbürgischen Prosaautor, der den größten Teil seiner Romane und Erzählungen nach seinem Weggang aus Rumänien in Deutsch-Österreichischen bzw. Schweizer Verlagen veröffentlicht hat. Wie der 14 Jahre jüngere Hans Bergel begleitet Andreas Birkner ein dramatisches Kapitel der Geschichte der Siebenbürger Sachsen in „babylonischen Geschichten.“ Im Unterschied zu dem großen Chronisten, Analytiker und Magier des Erzählens Hans Bergel liegt dem Werk des Dichter-Pfarrers Birkner der Tenor versöhnlichen Humors zugrunde, der die Konflikt- und Grenzsituationen der Figuren aus seinem der Realität entliehenen literarischen Fundus oftmals ironisch kommentiert und witzig pointiert. Seine motivisch verflochtenen Romane thematisieren – in der sinnlich plastischen und authentischen Darstellung den Romanen Bergels verwandt – die Kernproblematik, die eine Nachkriegsgeneration von Siebenbürger Sachsen, Banater Schwaben und Bukarester Deutschen bewegte und geben Antwort auf die Existenzfrage: Bleiben oder Gehen?
„Schreibt auf, was war!“ Der Titel eines Vortrags, den Bergel im Jahr 2000 in Jassy (Iași) hielt, nimmt Bezug auf „Deutsch-jüdische Autoren aus Südosteuropa in Israel“ (S. 161), ein weiteres Gebiet literarischer Vermittlung und Vertiefung, auf dem sich Bergel seit den 90er Jahren engagierte. Als einem der Ersten kommt ihm das große Verdienst zu, deutschsprachige Dichter und Schriftsteller aus Südosteuropa, besonders aus der Bukowina, aus Österreich und anderen Teilen Europas, die sich auf der Flucht vor der Verfolgung nach Israel retten konnten, in Deutschland bekannt zu machen. Als Mitherausgeber der Südostdeutschen Vierteljahresblätter, München (1989-2009) – seit 2006 Spiegelungen – bot er ihnen ein Forum zur Veröffentlichung, Mitgliedern des sog. Lyriskreises in Jerusalem, einer Gruppe von Exilautoren und – autorinnen, die ihre individuellen „jüdischen Jahrhundertwege“ verband. Der Lyriker Manfred Winkler (1922-2014), nahe Czernowitz geboren, war der bedeutendste Dichter des Lyriskreises. 2012 wurde ein Großteil des Briefwechsels zwischen Manfred Winkler und Hans Bergel veröffentlicht, ein in der Literatur aus und über Südosteuropa einzigartiges Dokument geistigen Austauschs über Fragen der Dichtung, Religion, Philosophie und Politik. (Hg. R. Windisch-Middendorf, Berlin, Franck & Timme). Die Übersetzung dieses Briefwechsels ins Rumänische erscheint voraussichtlich 2021 (Editura Hasefer, Bukarest). Von Manfred Winkler liegt inzwischen erstmals das lyrische Gesamtwerk in einem Sammelband von fast 900 Seiten vor: Haschen nach Wind. Die Gedichte. Hg. von Monica Tempian und Hans-Jürgen Schröder, Arco-Verlag Wien-Wuppertal 2018.
Im Zentrum eines Plenar-Vortrags, den Bergel 2013 in Bukarest hielt, steht Europa als Kontinent „der Vernunft, der Humanitas, der Kultur und der Künste und der fruchtbaren interkontinentalen Begegnungen“ (S. 41). Bergel, der sich zwei Kulturen zugehörig fühlt – geprägt durch Herkunft, Elternhaus und Erziehung „nach protestantisch-kantisch deutschen Maximen“ und den ihn umgebenden Kultureinflüssen „lateinisch-byzantinischer Prägung“ – appelliert daran, Europa in Erinnerung“ zu rufen als „Einheit in der Vielfalt“, als ein „Kosmos des aus allen und in alle Himmelsrichtungen strömenden innereuropäischen Gebens und Nehmens.“ All das geschieht im historischen Rückblick auf Literatur, Kunst und Musik, Architektur und Wissenschaft, Religion und Philosophie. Nach der „kulturellen Zweiteilung unseres Kontinents“, der „gewaltsamen Durchschneidung des geschichtlich erarbeiteten und gewachsenen Organismus Europa“ ... wird es „darum gehen, uns Europäern den Luxus unserer regionalen Vielgestaltigkeit und den Grundkonsens der Einheit zu bewahren bzw. wiederherzustellen“ – so Bergels künstlerisches und politisches Credo, eine Mahnung, die heute aktueller erscheint als zuvor.
Eine breit gefächerte Auswahl weiterer Beiträge der „Randbemerkungen“, die ins Schwarze treffen, steht exemplarisch für Bergels engagiertes Europäertum auf dem Weg zur einer Symbiose zwischen Osten und Westen, eine Vision, deren Wurzeln kulturhistorisch verbürgt sind: Aufsätze über den „Bewaffneten antikommunistischen Widerstand – Das unbekannte Aufbegehren“ (S. 51), „Die heroische Melancholie des Südostens. Die Odysseus-Gedichte von Radu Gyr und Lucian Blaga“ (S. 91), „András Sütö und die Metaphysik des Dorfes“ (S. 99), bis hin zu den Portraits herausragender Multi-Talente in Wissenschaft und Kunst: „Der malende und komponierende Krebsforscher Arnold Graffi“ (S. 67) oder „ Die stürzende Kathedrale und der Fall Konstantinopels. Kunst und Idee im Werk des Hans Fronius“ und „Die drei Musketiere, der Freiherr von Münchhausen und die Kosaken am Don. Der Zeichner Helmut Arz von Straussenburg.“ (S. 183)
So wie der Zufall die Schicksals- und Geistesverwandten Hans Bergel und Manfred Winkler nach ihrer ersten Begegnung in Bukarest 1994 wieder zusammenführte und einen intensiven, wechselseitig inspirierenden Briefwechsel in Gang setzte, knüpfte Hans Bergel auch den Kontakt zu Nicholas Catanoy durch Zufall. 62-jährig, beginnt er eine langjährige Korrespondenz mit dem gleichaltrigen Arzt, Schriftsteller, Lyriker, Aphoristiker und Weltreisenden, einem politischen Flüchtling aus dem europäischen Südosten, der einige Male „die Sahara durchquerte und den Globus umreiste, mit seinen Fragen an die Zeit ständig unterwegs war, irritiert und unbefriedigt von den Theoremen und Ideologien weltverbessernder Ideologen“. Bergel nennt ihn „einen Bruder im Geist“, einen Vertrauten im „Saeculum der Perversionen“ (S. 167), in dem sich „das Grundmuster schlechthin der Schriftstellerexistenz in diesem Jahrhundert“ wiederholt: „Sofern sie in den Brennpunkten des Saeculums standen, wurden die Schreibenden – die Aufzeichnenden – nolens volens zu Chronisten.“
Renate Windisch-Middendorf
Hans Bergel: „Randbemerkungen. Das Jahrhundert, an dem ich teilhatte“. Frank & Timme Verlag, Berlin, 2020, 272 Seiten, 48,00 Euro, gebunden, ISBN 978-3-7329-0653-6
Schlagwörter: Bergel, Buch, Essayband, Besprechung
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