7. Februar 2021

Ein anderer Jänner

Immanuel Weißglas: „Gottes Mühlen in Berlin“. Ausgewählte Gedichte. Herausgegeben und kommentiert von Andrei Corbea-Hoișie. Rimbaud Verlag, Aachen, 2020, 156 Seiten, 30 Euro, ISBN 978-3-89086-393-1.
Verschollene Schriften haben es in sich. Um ein Buch ging es einst auch Umberto Eco. Der Phantasie des Schriftstellers waren keine Grenzen gesetzt. So leicht hat es ein Literaturwissenschaftler nicht, mag er noch so beherzt das Schicksal eines Buches nachzeichnen wollen: Ohne akribische Recherche kommt er nicht ans Ziel. Dem Germanisten Andrei Corbea-Hoișie, Professor an der Alexandru-Ioan-Cuza-Universität Jassy/Iași (Rumänien), ist es gelungen, die Geschichte eines Buchprojekts, das aus rätselhaften Gründen im Jahr 1947 nicht erscheinen konnte, zu rekonstruieren. Es handelt sich um den Gedichtband des Bukowiner Dichters Immanuel Weißglas „Gottes Mühlen in Berlin“. Die Mühlen, die bekanntlich „langsam, aber sicher mahlen“, bringen bei Weißglas Vernichtung, Tod und Elend. „Es fällt von Toten Schnee im Jänner“, wenn die „schweren Männer“ übers Land ziehen. „Mordbrenner“ ragen in einen Himmel, der verschlossen ist – „wo ich bete, ist kein Herz zu rührn“. Der „Herr“ ist taub. „Deutsche Klagen“ verklingen – aber sie legen Zeugnis ab: „Denn mein Gesang geht als der letzte Gast.“

Für den 1920 geborenen, aus einer assimilierten deutschsprachig-jüdischen Czernowitzer Familie stammenden Dichter, der die Gräuel der transnistrischen NS-Lager überlebte, war Schreiben „eine identitäre Wiederfindung“, wie Corbea-Hoișie anmerkt. Der schreienden Absurdität des Daseins musste ein Trotzdem entgegengesetzt werden: „Doch keine Schar ist so verloren,/ Dass sie nicht Liebe und Lust begehrt.“ Ein Dichter ist auf die Sprache angewiesen. Bei Weißglas war es die „Sprache der Mörder“. Sein Schulkollege und Freund Paul Celan brachte die Tragik, die darin lag, auf den Punkt; „Ich will Ihnen sagen, wie schwer es ist, als Jude Gedichte in deutscher Sprache zu schreiben. Aber mein Schicksal ist dieses: deutsche Gedichte schreiben zu müssen.“ Dieses Schicksal teilten alle Dichter, die aus Angst vor der Sowjetisierung der Nordbukowina in die rumänische Hauptstadt Bukarest geflohen waren. Der Zufluchtsort war für einige wie Paul Antschel alias Celan oder Rose Ausländer nur eine Zwischenstation Richtung Westen. Für Immanuel Weißglas blieb Bukarest bis zu seinem Tod 1979 ein zweites Zuhause, das aber nur durch „selbstgewählte Anonymität“ – mit einem Brotberuf als Verlagslektor und Übersetzer – das Überleben sicherte.

In den Nachkriegsjahren war Weißglas ein lyrischer Chronist seiner Zeit. Gedichte zu schreiben war für ihn mitnichten „ein barbarischer Akt“ (Adorno). Als jedoch Ende 1947 König Michael I. abdanken musste und in Rumänien die Zeit der kommunistischen Diktatur anbrach, wurde ihm das „Deutsche“ an seiner „Klage“ zum Verhängnis. Seine Gedichte schickte er Anfang 1948 dem Herausgeber der Zeitschrift Das Silberboot, Ernst Schönwiese, nach Salzburg, um sie zu retten. 1978 gelangte ein ähnliches Typoskript nach London – in die Hände des Germanisten Leonard Forster. Aus dem Nachlass der beiden sowie vielen anderen Zeugnissen von Weggefährten rekonstruiert Corbea-Hoișie Weißglas’ verschwunden geglaubtes Buch von 1947 – editorische Anmerkungen und kenntnisreiche Kommentare weisen ihn als beschlagenen literarischen Detektiv aus.

Ingeborg Szöllösi (KK)

Schlagwörter: Lyrik, Buch, Besprechung, Bukowina, Czernowitz, Weißglas

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