13. März 2021

„Holen Sie mich da raus …“: Wie Günter Grass Hans Bergel bei der Emigration aus Rumänien half

Der vor Kurzem im Peter Lang Verlag, Berlin, erschienene Band „Siebenbürgen als Erfahrungsraum. Studien zur deutschsprachigen Literatur, Presse und Schule“ (herausgegeben von Maria Sass und Doris Sava, 284 Seiten, 59,95 Euro, ISBN 978-3-631-84234-8) enthält unter den achtzehn Beiträgen einer Tagung zum fünfzigjährigen Jubiläum der Hermannstädter Germanistik eine Untersuchung des Literaturhistorikers Dr. Walter Engel zum Thema „Solidarität eines Schriftstellers in Zeiten des ,Kalten Krieges‘. Günter Grass vor fünfzig Jahren in Rumänien“. Darin befasst sich Walter Engel, der damals Redakteur der Hermannstädter Zeitung war, mit dem Konflikt um eine deutsche Buchausstellung, die Günter Grass in Bukarest 1969 hätte eröffnen sollen, sodann mit Grass‘ Aufenthalt in Hermannstadt und seiner Beziehung zu siebenbürgischen Autoren. Der Beitrag bietet den ersten wissenschaftlich fundierten Bericht über die ehemals vieldiskutierte Rolle Grass‘ bei der Befreiung des Schriftstellers Hans Bergel aus dem kommunistischen Rumänien. Der Blick hinter die Kulissen der Vorgänge ist eines der bezeichnenden Zeugnisse aus der Zeit des Kalten Krieges, der vor allem Europa über Jahrzehnte hinweg in Spannung hielt.
Günter Grass im Barocksaal des Brukenthal-Museums ...
Günter Grass im Barocksaal des Brukenthal-Museums im Gespräch mit Wolf von ­Aichelburg und Georg Scherg nach seiner Hermannstädter Lesung, 1969 (von links nach rechts). Foto: Horst Buchfelner
Als Grass 1969 nach Bukarest kam, war er über die aktuelle Lage im sozialistischen Rumänien, einschließlich jene der deutschen Minderheit, im Bilde: Die bewegte Biografie des mehrfach aus politischen Gründen inhaftierten Autors Hans Bergel war ihm aus erster Hand bekannt. Der tatkräftigen Hilfe von Günter Grass hatte es der namhafte siebenbürgische Schriftsteller nämlich zu verdanken, dass er 1968 zu seiner Familie in die Bundesrepublik ausreisen konnte. Auch andere Siebenbürger, die Grass anderthalb Jahre später während seines Rumänien-Besuchs 1969 kennengelernt hatte, unterstützte er bei ihren Ausreisebemühungen (…).

Günter Grass’ Haltung im Falle der Ausreise Hans Bergels und die damit verbundenen Vorgänge – auf deutscher Seite – sind dokumentiert und aufschlussreich für das Agieren auf hoher Ebene in Fragen der Ausreisegenehmigungen. Der siebenbürgische Schriftsteller stellte mir die im Folgenden zitierten Unterlagen dankenswerterweise zur Verfügung: Er bat den westdeutschen Autor in einem Brief um Hilfe bei seinen Bemühungen um die Ausreisegenehmigung nach Deutschland. Kurz skizzierte er darin seine Biografie und aktuelle Lage:

„Ich bin Schriftsteller, das heißt, ich war es offiziell bis zu dem Zeitpunkt, da ich im Jahre 1959 einer 1957 in einem Bukarester Verlag veröffentlichten Arbeit wegen zu 15 Jahren Zwangsarbeit verurteilt wurde. Ich wurde nach 5 Jahren begnadigt – 1964 – und verdiene mir seither meinen Unterhalt als Orchestermusiker am hiesigen Operntheater [in Kronstadt, Anm. W. E.]. Ich bin verheiratet und Vater von drei minderjährigen Kindern. Ein Jahr nach meiner Entlassung erhielt meine Familie, Frau und Kinder, die Bewilligung zur Ausreise in die Bundesrepublik.“ (Bergel, Hans: Brief an Günter Grass vom 1. Juni 1967).

Bergel erwähnt, dass er „in der anderen, der südöstlichen Ecke (des) ehemaligen sogenannten deutschen Kolonisationsgebietes geboren“ wurde, assoziiert sodann auf Grassʼ Geburtsstadt, „insofern Sie der Stadt Kronstadt in Siebenbürgen dieses Recht auf ein Gegenstück zu Danzig einräumen wollen“. Der Brief gipfelt in einem dringenden Appell an Grass, in einem Hilferuf: „Lieber Günter Grass, holen Sie mich von hier hinaus – nicht meinetwegen, meiner Familie wegen. Sie können das, Sie werden sich dazu bereit erklären, wenn auch nur eine Zeile in Ihrer ‚Blechtrommel‘ und in Ihren ‚Hundejahren‘ wahr ist. Nur eine auf höchster Ebene ausgesprochene Aufforderung – ein konkret formulierter Wunsch des deutschen Außenministers in Bukarest Hans Bergel betreffend – wird die rumänischen Behörden bewegen, mich freizugeben und er wird es. Es muss aus zwei Gründen sehr rasch geschehen: Weil Brandt in nächster Zeit nach Rumänien kommt und weil meine Familie mich im Augenblick dringender braucht denn je.“

Den Brief hatte Hans Bergels „engster Freund“ (so Bergel) Klaus Theil, der 1963 ausgesiedelt und nun zu Besuch in Siebenbürgen war, nach Deutschland mitgenommen. Er sandte ihn an den westdeutschen Schriftsteller mit einem eigenen handschriftlichen Begleitschreiben (12.07.1967), in dem er die Dringlichkeit des Falles unterstrich. Grass reagierte prompt. Er reichte die Briefe von Hans Bergel und Klaus Theil weiter an Horst Ehmke, damals Staatssekretär im Bundesjustizministerium. Grass informierte Klaus Theil umgehend über den Vorgang: „Ich werde erwarten können, dass er [Ehmke, Anm. W.E.] den Fall übersichtlich zusammenfasst und dem Vizekanzler und Außenminister Willy Brandt vorlegt […]. Ich möchte Sie bitten, Frau Bergel zu benachrichtigen, desgleichen vorsichtig Hans Bergel. Ich werde die Sache weiterverfolgen.” (Grass, Günter: Brief an Klaus Theil vom 15. Juli 1967).

So muss es auch geschehen sein, denn nach seinem Rumänien-Besuch schrieb Willy Brandt an Horst Ehmke: „Während meines Besuches in Bukarest vom 3. bis 7. August ist auch die Frage der Familenzusammenführung ausführlich besprochen worden. Der Name Bergel ist in der Dringlichkeitsliste enthalten, die das Auswärtige Amt den rumänischen Behörden zugeleitet hat. Die Rumänen haben zugesagt, in diesen Dingen künftig ein größeres Entgegenkommen, abgestellt auf den einzelnen Fall, zu zeigen. Ich hoffe sehr, dass auch der tragische Fall von Herrn Bergel zufriedenstellend gelöst werden wird. Die mir übersandten, an Günter Grass gerichteten Schreiben des Herrn Theil und des Herrn Bergel füge ich wieder bei. Mit freundlichen Grüßen, Dein (gez.) Willy Brandt. (Brandt, Willy: Brief an Horst Ehmke vom 10. August 1967).

Das Karussell drehte sich weiter: Grass informierte Hans Bergels Frau Susanne über den Inhalt des Briefes von Willy Brandt. Sie möge ihren Mann „benachrichtigen, damit er informiert ist über die Existenz einer Dringlichkeitsliste, und dass sein Name darin enthalten ist“. Falls sich in den folgenden zwei Monaten nichts rühre, wolle er „notfalls noch einmal beim Außenministerium anklopfen oder ggf. an den Botschafter der Volksrepublik Rumänien einen Brief schreiben.“ Und es rührte sich einige Monate nichts. Am 5. Februar 1968 schrieb Grass an den rumänischen Botschafter in Deutschland hinsichtlich des immer noch erfolglosen Ausreiseantrags Hans Bergels. Er berief sich kurz auf Staatssekretär Professor Ehmke und bat den Botschafter, „der Familie Bergel entgegen allen bürokratischen Schwierigkeiten zu helfen“.

Einen guten Monat danach, am 9. März 1968, kam Hans Bergel in Frankfurt a.M. an. Zu einer kollegialen oder gar freundschaftlichen Beziehung zwischen den beiden Schriftstellern kam es in Deutschland nicht. Bergel traf Günter Grass wenige Wochen nach seiner Ankunft in Berlin. In aller Kürze schildert er heute seinen Eindruck von dieser Begegnung, die ihm „unvergessen“ geblieben ist:

„Ich besuchte ihn, um ihm für die Hilfe zu danken, die er meiner Familie und mir geleistet hatte; er lebte damals in Berlin. Das Gespräch nahm keinen guten Verlauf: Da er mich dazu aufgefordert hatte, berichtete ich knapp und informativ über die Verhältnisse im kommunistischen Rumänien. Er unterbrach mich, um mir nahezulegen, dass ich die Dinge ‚nicht ganz richtig‘ einschätze, der Sozialismus habe ‚auch ein anderes Gesicht‘. Ich musste zwei Mal schlucken, als ich Folgendes hörte: ‚Du warst zu nahe dran. Du kannst das nicht objektiv beurteilen‘. Meine Gegenfrage lautete: „Und welches war ‚das andere Gesicht‘ des Nationalsozialismus?“ Wir gingen nicht ‚im Frieden‘ auseinander. Mir nach fast einem Vierteljahrhundert östlichem Sozialismus, nach dreimaliger politischer Haft etc. etc. Belehrungen über den Sozialismus zu erteilen, war zu viel des Guten. Diese Art der Besserwisserei begegnete mir seither noch oft (allzu oft) in diesem Land.“ (Bergel, Hans: Brief an Walter Engel vom 4. Oktober 2019).

Über eine ähnliche Erfahrung berichtete der in Hermannstadt geborene Schriftsteller Paul Schuster (1930-2004), der Günter Grass 1969 auf dessen Rumänien-Reise nahegekommen war, dann aber ohne dessen Hilfe in die Bundesrepublik reisen konnte.

Walter Engel

Schlagwörter: Bergel, Grass, Aichelburg, Scherg, Schriftsteller, Emigration, Geschichte

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Neueste Kommentare

  • 13.03.2021, 09:09 Uhr von Äschilos: Das klingt mehr als zynisch: Du warst zu nahe dran. Du kannst das nicht objektiv beurteilen ! [weiter]

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