20. April 2021

500 Jahre seit dem Reichstag zu Worms: Freimut im Zeitalter der Angst – Luthers Echo in Siebenbürgen

Die Siebenbürger Sachsen übernahmen die Reformation aus Wittenberg. Schon sehr früh – um 1520 – und seitdem bis in die Gegenwart fanden Luthers Schriften und Gedanken in Siebenbürgen nachhaltigen Widerhall. Neben Luther gilt vor allem Melanchthon als Impulsgeber. Dessen Schüler, Damasus Dürr, der Pfarrer von Kleinpold, zählte seine Gemeinde um 1570 zu den „lutrischen“. Schon 1565 haben sich die Sachsen an der Confessio Augustana orientiert, und auch die Glaubensformel von 1572 lehnte sich an diese an. Allerdings entfaltete sich die reformatorische Bewegung, sodass unterschiedliche Richtungen sich auf Melanchthon beriefen.
Martin Luther auf dem Reichstag in Worms, ...
Martin Luther auf dem Reichstag in Worms, Holzstatue in Bisiritz, geschnitzt aus gebeiztem Hartholz. Der Sockel trägt den legendären Ausspruch als Inschrift: „Hier stehe ich. Ich kann nicht anders. Gott helfe mir! Amen.“ Über das nahezu lebensgroße Standbild Martin Luthers aus der Evangelischen Stadtpfarrkirche gibt es in Bistritz eine Legende, die besagt, dass es von einem französischen Kriegsgefangenen während des Ersten Weltkriegs geschnitzt worden sei, der es dann der Kirchengemeinde geschenkt habe. Tatsache ist (laut Eintrag im Inventar der Kirchengemeinde), dass das Standbild vom Tiroler Bildhauer Albino Pitscheider (1877-1962) im Jahr 1916 geschaffen wurde und eine Stiftung des sächsischen Bürgermeisters von Bistritz ist. Fotograf: Martin Eichler, München
Der Landtag beschloss 1568 Verkündigungsfreiheit und verstärkte die bestehenden Tendenzen protestantischer Vielfalt. Schließlich beschloss der Landtag 1595 in Weißenburg offiziell die Garantie der erreichten Mehrkonfessionalität und etablierte Siebenbürgen als Pionierregion der Religionsfreiheit. Seit dem Beitritt zum Lutherischen Weltbund vor fast 60 Jahren gehört die Evangelischen Landeskirche A. B. in Rumänien zum großen Weltverband der Lutheraner. Diese Konfessionsfamilie geht zurück auf Wirken und Ausstrahlung des Reformators Martin Luther und der Wittenberger Reformation im 16. Jahrhundert.

Am 17./18. April 1521 kam es zu einer weltgeschichtlichen Begegnung am Rande des Wormser Reichstags, wie sie ungewöhnlicher hätte kaum sein können. Martin Luther, der inzwischen äußerst populäre Universitätsprofessor einer „am Rande der Zivilisation“ gelegenen, erst kürzlich begründeten Landesuniversität Wittenberg und Bestsellerautor, war vom Reichsherold nach Worms geholt worden. Der jüngst vom Papst als Ketzer gebannte Mönch trat im Bischofshof vor Kurfürsten, Politiker und Zaungäste, vor allem aber vor den Universalmonarchen – Karl V. (1500-1558).

Luthers Idee

Luthers Reise nach Worms hatte einem Triumphzug geglichen; überall war er erwartungsvoll aufgenommen und zum Predigen aufgefordert worden. Die Reichsstände befürchteten Aufruhr. Aber Luther ging es nie um gesellschaftliche Revolution. Seine Analyse sollte „zum Kern der Nuss“ vorstoßen! Er wollte eine Kirchenreform oder Reformation: Ein Leben in der Nachfolge Jesu wie im Urchristentum. Sein Ziel war bedingungsloses und konsequentes Vertrauen in die Gnade Gottes, die sich im stellvertretenden Sühnetod des Heilands Jesus Christus am Kreuz auf Golgatha offenbart hatte. Intellektuell redlich sollte diese unmittelbare Beziehung zwischen Mensch und dem gnädigen Gott sein. Glauben war Vertrauen in Gottes Zusage, die nur dann Heilsgewissheit begründete, wenn sie auch mit vernünftigen Gründen und dem biblischen Zeugnis in Deckung zu bringen war. Inhalt der Verkündigung war für Luther das reine und lautere Evangelium. Und es galt allen Menschen, wofür ganz besonders die Bibel in die jeweilige Muttersprache übersetzt werden musste.
Seitenschiff mit Luther-Gemäde und der Inschrift ...
Seitenschiff mit Luther-Gemäde und der Inschrift „Ein feste Burg ist unser Gott“, Evangelische Kirche in Heldsdorf. Foto: Martin Eichler, München

Auftritt vor Kaiser und Reich

Luther hoffte, dass ihm der humanistisch gebildete und reformtheologisch erzogene Herrscher auf dem Wormser Reichstag eine angemessene Diskussionsatmosphäre für seine theologischen Reformansätze ermöglichen würde. Für ihn überraschend wurde er allerdings am ersten Abend ohne Umschweife und bedingungslos aufgefordert zu widerrufen. Erst am nächsten Tag gelang es Luther, mit einer überzeugenden Rede die Propagandahoheit zu erlangen. Mit Freimut stellte er sich vor das Auditorium und berief sich auf sein subjektives Gewissen: „gefangen im Gewissen an dem Wort Gottes, derhalben ich nicht mag noch will widerrufen, weil wider das Gewissen zu handeln beschwerlich, unheilsam und gefährlich ist. Gott helfe mir! Amen.“ Einen großen Teil der Zuhörer hatte Luther mit seiner Rede für sich eingenommen, und auch außerhalb des Saales machten die Menschen „ain gros geschrai“. Es folgte eine „Welle der Lutherbegeisterung“ (Heinz Schilling), die mit weiteren Flugschriften in der Folgezeit die öffentliche Meinung dominierte. Die „causa Lutheri“, die Luther-Sache, die eigentlich auf einem Nebenschauplatz des Reform-Reichstags abgehandelt werden sollte, bestimmte im Nachhinein das historische Bild des Wormser Reichstags von 1521.

Doch Luther hatte den Herrscher Karl V. nicht überzeugt. Auch dieser konnte nicht anders. Denn seine universalen, politischen Pläne konnte er nur mit einer die gesamte Christenheit umfassenden „Katholizität“, einer einheitlichen weltanschaulichen Basis erreichen. Auch er berief sich auf sein Gewissen, auf sein Majestätsbewusstsein, das auf objektiven Institutionen und Traditionen gründete, um das habsburgische Zukunftsmodell Europas voranzutreiben: Plus ultra – immer weiter, so sein Motto.

Politik der Habsburger

Der neue deutsche König, der erwählte Kaiser Karl V. hielt in Worms seinen ersten Reichstag auf deutschem Boden ab. Er war gerade 21 Jahre jung, in Burgund aufgewachsen, bereits regierender Herrscher über Spanien und dessen Weltreich (bis nach Mittel- und Südamerika). Im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation – einer Wahlmonarchie – hatte er sich erfolgreich bei der Königswahl durchgesetzt. Damit schien er der von Gott auserwählte Weltherrscher werden zu können. Aber mit diesem Konzept sowie der konkreten, überdehnten Herrschaft ist er gescheitert – auch wegen der verlorenen religiösen Einheit, die der rastlos reisende Kaiser benötigt hätte, aber durch seine auf diversen Kriegsschauplätzen verzettelte Energie verspielte. Nach der Königswahl war er im Oktober 1520 in Aachen zum deutschen König gekrönt und bestieg als Nachfolger seines Großvaters Maximilian den Thron. Dieser hatte zu Lebzeiten ein Europa überspannendes Netz von Heiratsverbindungen eingefädelt. Die Habsburgerdynastie hatte unverhofft viel Glück: Überall trat zu ihren Gunsten der Erbfall ein (gemäß dem berühmten Satz: tu felix Austria nube / du glückliches Österreich heirate). Kriege führten sie im 16. Jahrhundert trotzdem – in jahrzehntelanger Konkurrenz zu Frankreich (auch in Italien) und zu den Osmanen (auch in Afrika und auf dem Balkan). In Ungarn trat 1526 nach dem Schlachtentod König Ludwigs II. Jagiello der Erbfall ein. Aber eine klassische Doppelwahl trübte den politischen Erfolg der Heiratspolitik ein; gekrönt wurde zunächst der Konkurrent, der siebenbürgischen Woiwode Johann Szapolyai: „Hans kunig“ so eine Quelle. Erst mit einmonatiger Verspätung wurde im Dezember 1526 der Habsburger Ferdinand, der Bruder Karls V., gewählt. Weil sich Szapolyai 1528/29 freiwillig den Osmanen unterwarf, konnte er mit deren Unterstützung seinen Herrschaftsraum in Ungarn erhalten. Schließlich blieb Ungarn dreigeteilt: Den Westen und Norden beherrschten die Habsburger mit König Ferdinand, das Zentrum regierten die Osmanen direkt. Der östliche Bereich, das historische Siebenbürgen (mit angegliederten Teilen im Nordwesten, den Partes adnexae), bildete das neugebildete Fürstentum Siebenbürgen. Jede politisch privilegierte Gruppe bildete eine natio: Das waren die natio des ungarischen Adels, die natio der Szekler und die natio der „Saxones“ auf Königsboden (zusammengefasst in der Nationsuniversität der Sachsen). Alle drei Gruppen oder Nationen bildeten einen Regierungsverband: eine unio trium nationum. Diese Art „Ständemonarchie“ oder „Bundesstaat“ wählte den Woiwoden bzw. Fürsten und regierte mit diesem zusammen auf Landtagen und mit der Regierungskanzlei in Weißenburg (Alba Iulia).

Erste Reaktionen in Hermannstadt

In den Jahren nach 1520 erreichten Ideen der Wittenberger Reformation das gebildete Bürgertum und Patriziat in Hermannstadt. Diese hatten Händler (wohl von der Leipziger Messe) in gedruckten Schriften importiert. Die Quellen berichten über Reaktionen in der Bevölkerung, in den ratsführenden Schichten, bei den irritierten Geistlichen, aber auch bei den Menschen in umliegenden Dörfern. Zettel mit spöttischen Versen gegen die bisherige Religionspraxis von Prozessionen oder geistlichen Bruderschaften wurden an die Kirchentüren geheftet. Andererseits sind muttersprachliche Predigten in Privathäusern gehalten worden, in denen auch deutsche (evangelische) Lieder gesungen wurden. Vermutlich haben auch evangelische Predigten in den Nebenkirche der Stadt stattgefunden. Dazu kam ein Kirchenstreik gegen den Priester in Baumgarten (Bongard) bei Schellenberg. Außerdem beunruhigte die nachlassende Bereitschaft, für kirchliche Zwecke zu stiften oder in Testamenten entsprechende Bestimmungen zu treffen, die kirchliche und weltliche Obrigkeit. 1525/26 erreichten schließlich die Gegenreaktionen von obrigkeitlicher Seite ihren ersten Höhepunkt: Auch vom ungarischen König wurden den „Lutheranern“ strenge Strafen angedroht. Im August 1526 wendete sich das Blatt: Die ungarische Elite (inklusive der mitkämpfenden Bischöfe) war auf dem Schlachtfeld bei Mohács fast vollständig ausgelöscht worden. Daher überlagerten auseinanderstrebende und sich in einem Bürgerkrieg äußernde politische Interessen die religiösen Kontroversen. Die reformatorische Bewegung in Hermannstadt „versandete“ (Adolf Schullerus). Eine offizielle Einführung der Reformation wie beispielsweise in den Reichsstädten Süddeutschlands unterblieb. So ist zwar eine politische Delegation zum Reichstag 1530 nach Augsburg geschickt worden. Deren Auftreten ist in den Reichstagsprotokollen aber nicht erwähnt; und die Verlesung der Confessio Augustana hat sie verpasst, weil sie erst danach vor Ort eintraf.

Unterschwellige Entwicklungen

Doch die Ideen blieben weiterhin unter der Oberfläche wirksam. Erste Studenten aus Siebenbürgen studierten an der Universität Wittenberg. Der spätere Ratsherr und Reformator Kronstadts, Johannes Honterus, hatte im Ausland (Regensburg, Krakau und Basel) höchstwahrscheinlich bis 1532 die reformatorische Bewegung kennengelernt und importiert. Kronstadt wurde für die offizielle Einführung der Reformation in Siebenbürgen entscheidend: Sie ist die allererste Stadt des christlichen, d. h. evangelischen Europas, über der die Sonne aufgeht, schreibt Johannes Honterus selbstbewusst in seiner Kosmographie. Der Rat von Kronstadt ergriff 1542 die Initiative. Als Motiv zur Kirchenbesserung wurde auch die Kritik der orthodoxen Gemeinden und Gläubigen an der westkirchlichen Religionspraxis erwähnt. Damit erfolgte ein nicht unwesentlicher Verweis auf die Mehrkonfessionalität, die in dieser Überlappungszone von Ost- und Westkirche bereits längst existierte. 1543 wurden die wichtigsten Drucke veröffentlicht (Reformatio Coronensis ecclesiae, Constitutio Scholae Coronensis, Gesangbuch), und die humanistische Stadtreformation ergriff von Kronstadt aus die gesamte Nationsuniversität. Besonders die beiden ersten Superintendenten Paul Wiener und Matthias Hebler haben Luthers Theologie im Einflussbereich der Nationsuniversität dauerhaft verankert. Der Sieg der Osmanen in Buda am 29. August 1541 hatte – mit kleinen Unterbrechungen – die antireformatorische Politik der Habsburger für 150 Jahre gestoppt. Im Einflussbereich des Osmanischen Reiches mussten die Anhänger einer „Religion des Buches“ zwar Sonderabgaben leisten, aber die Hohe Pforte hielt sich meistens aus den internen religiösen Angelegenheiten der nicht-muslimischen Untertanen heraus. Es entstand das den Osmanen souzeräne und tributpflichtige Fürstentum Siebenbürgen. In ihm entwickelte sich innerhalb der kommenden fünf Jahrzehnte eine „Pionierregion der Religionsfreiheit“.
Vor der Schwarzen Kirche in Kronstadt befindet ...
Vor der Schwarzen Kirche in Kronstadt befindet sich das Denkmal für Johannes Honterus, 1898 vom Berliner Bildhauer Harro Magnussen geschaffen.. Honterus (1498-1549) war der bedeutendste siebenbürgische Humanist und Reformator. Er bewirkte den Wechsel der Siebenbürger Sachsen zum evangelischen Glauben. Auch als Reformator des Schulwesens und als Verleger war er von großer Bedeutung. Fotograf: Martin Eichler, München

Reformation in Kronstadt 1542/43

Wittenberg war das früheste und entscheidende Ausstrahlungszentrum für die Reformation in Siebenbürgen. Dieses „Importgut“ wurde fast zeitgleich als „Exportgut“ sogar in die rumänische und ungarische Sprache übersetzt. Neben Martin Luther und dem Wittenberger Stadtpfarrer Johannes Bugenhagen befürwortete auch Philipp Melanchthon (1497-1560) die Kronstädter Reformation schriftlich. Vor allen anderen Reformatoren war der humanistische Gelehrte und Bildungsexperte „Melanchthon als Impulsgeber“ (Armin Kohle) jahrzehntelang die wichtigste reformatorische Persönlichkeit für Siebenbürgen. Die Reformatio Coronensis ecclesiae wurde in Wittenberg sofort nachgedruckt mit einem Vorwort von Melanchthon. Auch die Schulordnung nahm Melanchthons Ideen (dem Nürnberger Modell folgend) auf. Dadurch wurde die bereits jahrhundertelange enge Verbindung von Schule und Kirche nun auf eine solide und bis ins 20. Jahrhundert fortdauernde Basis gestellt. Denn die Wittenberger Reformation war nicht zuletzt eine Bildungsbewegung. Luther hatte für ein allgemeines Schulwesen, sogar für Mädchenbildung in einer Flugschrift an die „Ratsherrn aller Städte deutsches Landes“ plädiert. Darüber hinaus wurden seine Katechismen weltweit gelesen und gelernt. Honterus bereitete mit der 1539 in Kronstadt begründeten Druckerei der Reformation die Bahn. Dort wurden zunächst humanistische Schulbücher gedruckt. Anschließend verließen kirchliche Reformtexte, Katechismen und Agenden sowie Gesangbücher die Druckerpresse und wurden verbindlich gemacht.
Vor der Schwarzen Kirche in Kronstadt befindet ...
Vor der Schwarzen Kirche in Kronstadt befindet sich das Denkmal für Johannes Honterus, 1898 vom Berliner Bildhauer Harro Magnussen geschaffen. In der Hand hält er symbolisch das Reformationsbüchlein und die Schulordnung. Foto: Martin Eichler
Bemerkenswert ist die spirituelle Offenheit der Kronstädter Reformation. Obwohl sie sich generell am Wittenberger Vorbild ausrichtete, ging sie eigene Wege. Die Reformation war auch eine Singbewegung und fand besonders durch die vielen neuen religiösen Lieder und Gesangbücher lebhafte Aufnahme und Verbreitung in der breiten Masse der Bevölkerung. Lieder wurden vor allem zum auswendig gelernten Glaubensgut und tief verinnerlichten Seelentrost. Obwohl es schon rund 20 Jahre Wittenbergische Liedtradition gab, entschied sich Kronstadt zunächst anders. Es behielt seinen eigenen Gesangbuchschatz konsequent bei und druckte ihn in späteren Gesangbuchausgaben immer wieder nach. Das erste Gesangbuch (1543) von Andreas Moldner zeigt eine eigengeartete Herzensfrömmigkeit. Dazu zählen eine klare Absage an die altgläubige Rom-Orientierung christlicher Gemeinde. Sie ist aber vor allem in als bedrohlich empfundenen Zeiten für das Wirken des Heiligen Geistes offen und sieht sich in der Nachfolge Christi zu konsequentem Lebensstil und sittlichem Handeln verpflichtet. Damit griff die Kronstädter Reformation Ideen der Böhmischen Brüder und der Täufer auf. Auch ließ sie in den Anfangsjahren die für Luther zentrale Rechtfertigungslehre, die besonders Gottes gnädige Barmherzigkeit gegenüber den notorischen Sündern herausstellte – das Heil allein aus Gnade –, unerwähnt. Stattdessen wurde die sittlich tugendhafte Haltung und Lebensweise beispielsweise von Valentin Wagner, dem Nachfolger des 1544 zum Pfarrer eingesetzten Reformators Johannes Honterus, in den Mittelpunkt gerückt: „So wird dich Gott und deine Tugend in den Himmel tragen.“

Statue Philipp Melanchtons an der Schule in ...
Statue Philipp Melanchtons an der Schule in Wolkendorf im Burzenland. Foto: Martin Eichler, München

Melanchthon als prägende Gestalt

Während seiner vier Jahrzehnte dauernden Lehre in Wittenberg hat Melanchthon unter anderem hunderte Studenten aus Siebenbürgen und Ungarn weit mehr geprägt als Luther. Philipp Melanchthons Rhetorik-Lehrbuch hat nachhaltigen Einfluss auf die reformatorische Predigt in diesem Raum ausgeübt. Seine Theologie und sein brieflicher Rat waren vielfach gefragt, nicht zuletzt im Blick auf die seit Ende der 1550er Jahre in Siebenbürgen strittige Abendmahlslehre. Auch in dieser Hinsicht war seine deutungsoffene Antwort wesentlich: Beide theologischen Richtungen (die Schweizerische und die Wittenbergische) beriefen sich auf den Praeceptor Germaniae et Hungariae (Lehrer Deutschlands und Ungarns). Die sächsischen Pfarrer in Klausenburg, Franz Hertel (Davidis) und Kaspar Helth übernahmen mit ihrer Gemeinde zunächst die Theologie der Schweizerischen Reformation und nach 1566 sogar die Ideen der italienischen und polnischen Antitrinitarier, welche der Hofarzt Giorgio Biandrata nachdrücklich förderte.

Vier rezipierte Religionen – Die Entstehung der Pionierregion der Religionsfreiheit

Die theologischen Positionen im Protestantismus des 16. Jahrhunderts waren in Bewegung. Die Weiterentwicklungen führten zu Vermittlungsbemühungen, Unsicherheiten, aber auch zu Gegensätzen. Das Fürstentum Siebenbürgen wurde in den 1560er Jahren als protestantischer Staat wahrgenommen, in dem die katholische Kirche verkümmerte und die rumänischen Orthodoxen durch den Landtagsbeschluss von 1568 zur Aufgabe ihrer religiösen Praxis genötigt werden sollten. Praktisch gestattete der Landtag den Pfarrern 1568 und 1571 Verkündigungsfreiheit, womit aber zunächst kein klares Profil verbunden war. Der mit der antitrinitarischen Richtung sympathisierende Fürst Johann II. Sigismund Szapolyai suchte eine Harmonisierung zu erreichen. Ob seine Strategie auf eine einheitliche unitarische Landeskirche hinauslief? Es ist zu vermuten. Aber das Projekt blieb Fragment, denn der Fürst starb im März 1571. Wenige römisch-katholische Gemeinden blieben – meist im Szeklerland – noch erhalten. Die den Osmanen genehmen, katholischen Báthory-Fürsten bemühten sich mit vielfältigen Maßnahmen, den Sog der antitrintarischen Bewegung zu brechen. Neben dem Neuerungsverbot in religiöser Hinsicht nötigte Stephan Báthory die Synode und den neuen in Birthälm residierenden Superintendenten Lucas Unglerus zur Anerkennung der Confessio Augustana. Doch die 1572 von Unglerus verfasste Glaubensformel versuchte einen Spagat: Einerseits sollte dem Willen des Fürsten formell entsprochen werden, andererseits aber sollten die Formulierungen viel Auslegungsspielraum lassen, um vor allem in der Sakramentstheologie divergierende Positionen äußerlich zusammenzuhalten. „Eine konfessionelle Klärung vollzogen sie nicht mit“ (Robert Kolb). Einen gewissen Abschluss der organisatorischen und begrifflichen Klärung erzwang der Fürst Sigismund Báthory mit einem für die Verfassungsgeschichte Siebenbürgens und Gesamteuropas denkwürdigen Landtags-Beschluss, indem er 1595 die zum Landtag in Weißenburg Versammelten militärisch belagerte. Diese beschlossen die Anerkennung von vier Konfessionen im Landtag als religio recepta. Gewissermaßen grundgesetzlich verankert wurde die Existenzgarantie für Katholiken, Anhänger der Confessio Augustana, Kalvinisten und „Arianer“ (Unitarier). Die politisch nichtprivilegierten rumänischen Orthodoxen wurden nun aber „toleriert“. Diese Konstellation darf man allerdings nicht idealisieren. Denn Siebenbürgen war keine Insel der Toleranz. Die jeweiligen Landesfürsten förderten in der Folgezeit immer die eigene Konfession zum Nachteil der anderen. Trotzdem kann Siebenbürgen als Pionierregion der Religionsfreiheit bezeichnet werden, die bis ins 18./19. Jahrhundert hinein ihresgleichen sucht. Im Vergleich zu anderen Regionen Europas waren die Regelungen weder so weitgehend noch so dauerhaft gesichert. Die bereits am Ende des Mittelalters erprobte, weitgehend friedliche Mehrkonfessionalität Siebenbürgens der Frühen Neuzeit hat sich als Markenzeichen bis in die Gegenwart der weltweiten Ökumene erhalten. Auch das in Hermannstadt angesiedelte Institut für Ökumenische Forschung sieht sich dieser Tradition verpflichtet.

1817 wurde auch in Siebenbürgen an den Beginn der Wittenberger Reformation und Luthers 95 Thesen erinnert. Vor der Kontrastfolie des finsteren Mittelalters wurde durch Superintendent Daniel Georg Neugeboren im Geist der Aufklärung die Toleranzgeschichte Siebenbürgens als Frucht von Luthers Reformation erinnert – und damit eine das künftige Geschichtsbild prägende Deutung vorgenommen. Luthers theologisches Freiheitskonzept wurde im 19. Jahrhundert kulturprotestantisch, manchmal sogar freisinnig verstanden. Luther wurde als deutscher Nationalheld konstruiert. An diese Vorstellungen lehnte sich die siebenbürgisch-sächsische Lutherverehrung an, setzte aber eigene Akzente, die an die Frühzeit der Kronstädter Reformation anknüpften. Deren sittlicher, die christlichen Tugenden herausstellender Charakter fand in der Nächstenliebe, die in diakonischen Einrichtungen verwirklicht wurde, ein zeitgemäßes Echo. In diesem Sinne wurden „lebendige Denkmäler“ begründet. 1883 – im Gedenken an Luthers 400. Geburtstag – gab es zwei solcher Initiativen: das „Lutherhaus“ genannte Waisenhaus in Hermannstadt und die Idee der evangelischen Krankenpflegeanstalt in Hermannstadt, die 1887 schließlich eingeweiht werden konnte. In diese Linie ist auch der Reformations-Dank des Jahres 1917 einzuordnen: 200.000 Kronen spendeten die Gemeindeglieder der Landeskirche für die dringend nötige Erweiterung des Landeskirchlichen Waisenhauses in Birthälm.

Durchaus gegensätzlich verlief die Rückbesinnung auf die Reformation in den Jahrzehnten nach dem Ersten Weltkrieg. Einerseits beeinflusste die sogenannte Lutherrenaissance auch die theologisch redliche Luther-Rezeption, die von Bischof Viktor Glondys und Bischofsvikar Friedrich Müller-Langenthal gefördert wurde. Andererseits wurde ein nationalistisch verengtes Verständnis von Volkskirche radikalisiert. Bischofsvikar Dr. Franz Herfurth meinte 1918, das allgemein geteilte kulturprotestantische Selbstverständnis folgendermaßen definieren zu können: „Die sächsische Mutter führt ihr Kind früh zu Gott und kettet sein Herz an Familie und Volk. Evangelisch sein und sächsisch sein sind Wechselbegriffe. Recht und Brauch und Sprache haben uns zum Volk, der deutsche Glaube hat uns zur Gemeinschaft der Kirche, beides zur Volkskirche zusammen geschmiedet.“ Dieser „deutsche Glaube“ wurde ein Vierteljahrhundert später durch den Pfarrer im Landeskonsistorium Andreas Schreiner in nationalsozialistischen Sinne als „Volksreligion“ verstanden und präzisiert: Es sei weder Verrat noch Verleugnung des Christentums, wenn „mit Rücksicht auf das vorwiegend völkische Gemeinschaftsempfinden in unserer Landeskirche die […] Bezeichnung ‚evangelisch A. B.’ fallen“ gelassen würde, „um uns einfach eine ‚deutsche’ Kirche zu nennen“. In „dogmatisch nachlässiger Haltung“ sollte das Augsburgische Bekenntnis der Landeskirche nur noch als formaljuristisches Feigenblatt dienen. Kein Wunder, dass die Landeskirche 1945 dem Vorwurf als „hitleristische Organisation“ ausgesetzt und vom Verbot bedroht war.

Nach dem Zweiten Weltkrieg haben Bischof Müller-Langenthal und die Professoren am Theologischen Institut die Landeskirche bewusst an der als Grundlage wiederentdeckten Theologie Luthers ausgerichtet. Dabei sollte vor allem die betonte Unterscheidung der kirchlichen und staatlichen Kompetenzen im Sinne von Luthers Zwei-Reiche-Lehre den Zugriff des Staates auf das innerkirchliche Leben weitestgehend zurückdrängen. Je nach Gelegenheit geschah das mit Vorsicht, aber auch mit an Luthers Vorbild orientiertem Freimut. In der bedrückenden Lage des Jubiläumsjahres 1983 griff dies auch Bischof Albert Klein in seinem Kanzelwort auf. Er erinnerte nicht nur an Luthers Bibelübersetzung, seinen Katechismus und das „Herzstück“: die Kreuzestheologie. Darüber hinaus verwies er auf die diakonische Grundfunktion von Kirche und das protestantische Resistenzpotential, den christlichen Freimut: „Im Glauben an Jesus Christus hat Martin Luther die Befreiung von Menschenfurcht und Todesangst erfahren. Er ist nicht müde geworden, die evangelischen Gemeinden zum Bekenntnis der Wahrheit Gottes und zum Dienst der Liebe aufzurufen und so die Freiheit eines Christenmenschen zu bewähren.“

Ulrich A. Wien

Anmerkung der Redaktion:

Der Beitrag greift neue Forschungsergebnisse auf, die in zwei Neuerscheinungen präsentiert werden:
Ulrich A. Wien (Hg.): "Common Man, Society and Religion in the 16th century / Gemeiner Mann, Gesellschaft und Religion im 16. Jahrhundert. Frömmigkeit, Moral und Sozialdisziplinierung im Karpatenbogen". Göttingen 2021 (Refo500 Academic Studies 67). ISBN: 9783525571002
"Themenheft: 500 Jahre Rezeption der Reformation in Siebenbürgen und Ungarn: Anfänge und Netzwerke von Konfessionspluralismus in der Überlappungszone von West- und Ostkirche", hg. von Ulrich A. Wien. Berlin 2021 (Journal of Early Modern Christianity 8/1). ISSN 2196-6648 oder: e-ISSN 2196-6656.

Schlagwörter: Martin Luther, Reformation, Evangelische Kirche, Honterus, Melanchthon

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  • 07.05.2021, 16:31 Uhr von Administrator: Hallo Herr Wolf, Danke für die Rückmeldung. Die meisten Browser sind darauf optimiert, Seiten auf ... [weiter]
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