31. Dezember 2021

Seiden und Leschkirch. Apropos Brukenthal: eine siebenbürgisch-sächsische Familie im Strom der Zeitgeschichte

Eigentlich hört man von überall, dass uns die Corona-Pandemie zum Stubenhocker gemacht hat. Auch ich laufe hin und her, wie die Raubkatzen im Eberswalder Zoo, pendele unentschlossen vor meinem Bücherregal herum. Mit schlechtem Gewissen, denn da liegen und stehen noch viele Bücher, die ich noch bzw. wieder lesen wollte. Zeit wäre coronabedingt eigentlich genug da, hängt mir aber gleichzeitig, als 82-Jährigem wie ein Damoklesschwert über meinem Nacken und wird zusehends, sowohl chronologisch als auch gefühlt, immer knapper. Ich greife gelangweilt eher intuitiv ins Regal und hole zufällig ein Buch heraus: „Wortreiche Landschaft – deutsche Literatur in Rumänien“.
Gleich beim ersten Umblättern springt mir eine von mir vor vielen Jahren ins Buch gelegte, leider fast vergessene Urkunde in den Blick. Es ist ein Dokument von meinem Blahm-Großvater, das er 1921 also genau vor 100 Jahren, für eine Spende für das Brukenthalmuseum erhalten hatte. Wir sollten diese Urkunde gut aufbewahren, mahnte er all die Jahre, da stände sein Name drauf. Die Spende – immerhin im damaligen Wert eines Schafes – sei sein Beitrag für die Bewahrung des sächsischen Kulturgutes gewesen. Ich habe die Urkunde bei meiner Auswanderung 1970 nach Eberswalde mitgebracht und gebe zu, nicht ohne historisch angehauchten Stolz.

Die vom Großvater anvertraute Urkunde im Original ...
Die vom Großvater anvertraute Urkunde im Original ist gerade 100 Jahre alt geworden.
Von meinem Großvater hatte ich erstmalig kurz nach Kriegsende etwas über Samuel von Brukenthal gehört, der von 1777 bis 1787 Gouverneur von Siebenbürgen war und aus Leschkirch stammte. Seine Mutter sei Mediascherin gewesen, aus dem Hause Breckner, also wie meine spätere Deutschlehrerin. Brukenthal, ein echter Sachse, wie es ihn nicht zweimal gegeben hätte, erzählte uns der Großvater, auf der Lief sitzend. Immer etwas überschwänglich, froh und dankbar dafür, dass er das Glück hatte und zu denen gehören durfte, die damals aus den Dolomiten im Zweiten Weltkrieg heil nachhause gekommen waren.

Durch die sehr guten Beziehungen nach Wien, so gut, dass sogar ein Techtelmechtel mit Kaiserin Maria Theresia vermutet wurde, hätte Brukenthal weltberühmte Kunstwerke gesammelt. Diese wurden dann zur Grundlage für das 1817 gegründete Brukenthalmuseum, das erste Museum Rumäniens. Nun sei es die Pflicht aller Sachsen, dieses einmalige Erbe zu pflegen und zu hüten, meinte der Großvater voller Sachsenstolz. Damals sicherlich nicht ahnend, dass fast hundert Jahre danach die Kontoversen zwischen den Siebenbürger Sachen und Rumänien auch museal noch nicht ausgefochten sein würden.

Natürlich hatte mein Großvater damals noch nie von Lucas Cranach, Tizian oder van Dyck gehört. Aber immerhin hörte ich das erste Mal von Leschkirch und stellte mir vor, dass dort mal eine Kirche gebrannt hätte und gelöscht wurde. Damals als Kind ahnte ich auch nicht, dass ich viel später eine Tante aus Leschkirch bekommen sollte. Ja auch die sächsische kleine Welt kann voller großer Zufälle sein!

Viele Jahre waren inzwischen über Siebenbürgens Sachsen gekommen, und längst weg gegangen, um anders geartetem Unheil Platz zu machen. Gekommen mit Krieg, nationalen Zerwürfnissen, Deportation, Enteignung, Entzug der Bürgerrechte, Rache! Rache für was? Wütende und rasend gewordene Zeiten.

Nach dem Gymnasium in Mediasch verschlug es mich 1957 etwas orientierungslos nach Hunedoara, wo meine Taufpaten, die Hennings aus Seiden, nach der Flucht vor der Deportation inzwischen wohlsituierte Bürger geworden waren und hier zumindest vorläufig und unauffällig als unbescholten gelten durften. Der Henning, nur Pepi-Hans genannt, hatte mit dem Bruder vom Eckardt Misch einen klapprigen LKW, mit dem in dieser aufstrebenden und verhätschelten Stadt immerhin verschiedene, mal krumme mal gerade, aber immerhin sehr lukrative Geschäfte möglich waren. Ja, und von wo kam der Eckardt? Na, aus Leschkirch. Und der Pepi-Hans war auch der, der dem Misch eine Seidnerin empfahl, sagte er stolz, als würde er sich einen Orden anhängen. Und so wurde aus einem Leschkircher ein Seidner. Und in Hunedoara sollte ich noch etwas später einen weiteren Leschkircher kennen lernen, den Hans Fröhlich. Noch einige Jahre darauf, heiratete er eine Seidnerin, sagte der dicken, stinkigen versmogten Hunedoaraer Luft ade, zog nach Seiden, und wie es sich gehörte, arbeitsmäßig gleich in den Weinkeller.

Inzwischen waren die Deportierten, die die Lagerarbeit im Donbass überlebt hatten, längst wieder zuhause. Das Leben in den sächsischen Dörfern regte sich, obwohl man nun nach den Enteignungen zu den Habenichtsen gehörte. Wenn man unmittelbar vor der Deportation in Gemütsstarre verfiel, kam jetzt bei den Sachsen ein konstruktiver Trotz auf. Viele lernten einen anderen Beruf, schulten ohne staatliche Gängelei um, wohl ahnend oder mehr wissend, dass Rumänien politisch und wirtschaftlich auf Industrie setzen würde. Der Misch pendelte, so wie viele Seidner, nach Târnaveni ins Chemische Kombinat, andere nach Blasendorf (Blaj) oder zogen ganz weg. Die Sachsen machten aus der Not eine Tugend. Sie waren bei der Industrialisierung ganz vorne dabei, und orientierten sich neu. Viele Rumänen sahen erstaunt, ohnmächtig in ihrer neuen und nun eigenen Macht, aber eher untätig zu.

Mein Onkel, der Bruder unserer Mutter, der Orendi Fritz, im Dorf-Jargon auch Komma-Fritz genannt, leitete einen Bautrupp bei der Eisenbahn CFR. Dort lernte er seine zweite Frau kennen, die auch aus der Deportation zurückgekommen war und nun Köchin bei der Truppe meines Onkels war. Sie kam aus Leschkirch, hieß Treni Baumann und wurde eine überzeugte Seidnerin. Sehr beeindruckt hatte sie mich, weil sie, für mich auch jetzt noch immer unerklärlich, klassische Gedichte von Goethe und Schiller lückenlos vortragen konnte. Die hätte sie ja alle in der Schule gelernt, meinte sie, und einige oft sogar im Lager vorgetragen. Der Erlkönig, die Glocke, der Taucher, und als hätte sie es vorausgeahnt, die zur EU-Hymne gewordene „Ode an die Freude“. Ich verneige mich, liebe Treni-Tante! Dabei hätte sie gerade zum Thema Freude nicht immer Anlass gehabt. Als ledige junge Frau wurde sie nach Russland verschleppt, überlebte, durfte ihre Heimat, dieses zerrissene, inzwischen völlig anders gewordene Land nicht nur wieder sehen, sondern musste sich in dieser „neuen“ Welt zurechtfinden. Ihre grundsätzlich positive Lebenseinstellung blieb weiter ihr Markenzeichen. Aber auch ihr Paprikasch, ihre Hätschenpätsch-Marmelade oder ihr gefällt Kreugt. Ein Genuss! Obwohl sie kinderlos geblieben war, bildete sie mit den vier Kindern meines Onkels eine echte, tadellose und gut sächsisch funktionierende Familie. Vielleicht hatte der Zufall es so gewollt, denn mein Onkel war auch ein in jeder Lage um Konsens bemühter Mensch. Eine absolute Frohnatur, Kulturmensch, immer einen Rat parat, aber auch mit einem Späßchen, mal direkt, mal hintersinnig. Bei Besuch holte er gleich die Weinflasche heraus, relativierte die Weinqualität vorbeugend mit dem Satz: Es gibt keinen schlechten Wein! Um die Erwartungen moderat zu halten, um dann im weiteren Verlauf sagen zu können: „Weißt du was? Das Leben ist viel zu kurz, um schlechten Wein zu trinken!“ Ging in den Keller und holte was vom Allerbesten. Lieber Kokeltaler statt Brunnentaler. Das haben wir uns verdient, sagte er mit einem verschmitzten Augenzucken. Typisch Fritz-Onkel! Lustig, witzig und trotzdem dicht am realen Leben, und immer geistreich, ja mit einem sogar als intellektuell daher kommenden Erscheinungsbild. Sei es beim Faschingsumzug, wenn er sich als Zirkusdirektor präsentierte, und die nur selten knapp bekleideten Dorfschönheiten nach seiner Peitsche tanzen mussten, oder als der im ganzen Dorf bekannte „Kulturmanager“, der auf der Rückseite des Seidner „Reches“ die Blaskapelle exerzieren ließ. So stramm mussten auch seine jungen Apfelbäume auf dem Hof stehen. Nachdem diese einige Jahre keinen einzigen Apfel zustande gebracht hatten, nicht mal einen verfaulten, folgte die verdiente Strafe. Kurz über dem Erdboden wurde der Stamm abgesägt, und dann die Äste auch, und nun wurden die Bäume verkehrt herum aufgestellt. Strafe „made in Romania“! Davor schnitzte er an der Schnittstelle einen Kopf und versah diesen mit einem alten Hut. Und Namen bekamen die Figuren auch. Ich weiß nur noch, dass einer Camacho hieß, nach einem spanischen Fußballer von Real Madrid, und einer nach der Sängerin Nightingale. Eigentlich kam einem ja das alles eher spanisch als sächsisch vor! Nun standen sie da, mit den verstümmelten Wurzeln Richtung Himmel zeigend. Betet zu Gott, könnte er gesagt haben. Der Gag muss sich in ganz Siebenbürgen, sogar bis Bukarest herumgesprochen haben, denn sogar das rumänische Fernsehen kam eines Tages an und filmte diesen Unfug. Die Truppe soll sich aber viel länger im Keller aufgehalten haben als beim Filmen, erzählte meine Tante. Kein Wunder, denn ein Jahr zuvor gab es eine Rekordernte, von der auch der Komma-Fritz als besitzloser „Ex-Weinbauer“ auf Schleichwegen profitierte! Und viel und laut gedacht und gelacht haben sie auch, erzählte der Nachbar. Bukarest war ja weit weg. Bis hinter die Karpaten reichte das strenge ZK-Auge auch nicht immer, oder man konnte beim Zudrücken des Auges nachhelfen! Rumänisch eben! Übrigens auf dem damaligen Hof wohnt jetzt die Familie Grama, nachdem Tante und Onkel in Bad Neuenahr ihre nicht mehr siebenbürgischen Tage verbringen sollten. Immerhin, näher an den ursprünglichen Sachsenwurzeln!

Aber bei dieser An-die-Wurzel-Gehen, frage ich mich, ob das Ganze nicht auch eine Symbolik trägt. Ich komme mir manchmal wie diese Apfelbäume vor, umso mehr, weil ich immer überzeugt war, ich sei ein Sachs von der Wurzel. Die Orendi-Apfelbäume mahnen mich aber, dass wir hinsichtlich der sächsischen Identität längst entwurzelt sind. Die Sachsen, die es in Seiden und Leschkirch noch gibt, kann man an meinem kleinen Zeh abzählen! Und was würden der Samuel von Brukenthal und mein Großvater dazu sagen?

Die Aufnahme (ca. 1981) zeigt Onkel Friederich ...
Die Aufnahme (ca. 1981) zeigt Onkel Friederich Orendi, die Tante, den Schwiegersohn Martin und seinen Sohn Fritz (von links nach rechts).
Aber manchmal glimmt es doch noch, eher zufällig. In Eberswalde wohnt die Tochter einer Leschkircherin, die auch nach Russland deportiert worden war, in Dresden lebt und gerne mit mir sächsisch spricht, weil ihre Töchter völlig eingedeutscht sind. Und wie der Zufall so würfelt, bekam ich neulich eine Mail von der Märkischen Oderzeitung, dass mich eine Siebenbürgerin gesucht hätte. Haha! Schon wieder. Ich mit 82 und gesucht? Die Siebenbürgerin stammt aus Kronstadt und ist die Tochter von Heinz Brestowsky aus Leschkirch stammt. Die Frau Grupp, nur 20 km von hier, nun in Bernau beheimatet, ist 1983 nach Deutschland gekommen und spricht noch immer hervorragend sächsisch, obwohl oder gerade deshalb, weil sie Germanistik studiert hat. Und nun wurden die Blahms fast postwendend zu den Grupps eingeladen. Sächsisch eben. Wahrscheinlich Mici essen.

Aber zurück nach Seiden. Wie fast alle Seidner in der Generation meines Onkels hätte er auch zur SS gehen wollen müssen. Aber der Orendi Fritz war schlau genug und landete bei der später nicht so vorwurfsvoll bewerteten Wehrmacht, bei den Junkers-Werken in Dessau. Historisch also nicht so ultranational belastet. Trotzdem wurde sein Sohn, auch ein Orendi Fritz, nicht zur Offiziersschule in Kronstadt zugelassen. Begründung: Wir nehmen keine Sachsen! Nur ein Beispiel für viele andere schikanösen Praktiken des Staates, der sich im Namen der PCR eigentlich mit „egalitate si democrație“ (Gleichberechtigung und Demokratie) brüstete.

Die Endlichkeit des sächsischen Lebens in Rumänien schien ihre Schatten vorauszuwerfen. Die 1940er und 50er Jahre hatten zu viele Unvereinbarkeiten hinterlassen. Den Sachsen wurde weiter die Rolle der Mittäter aufgebrummt, mit all den negativen Konsequenzen. Unklar aber blieb auch bis auf den heutigen Tag, ob nun der russische Geheimbefehl 7161 und Order 031 vom 3. Januar 1945 dezidiert 71.000 deutschstämmige Arbeitskräfte angefordert hatte, oder war das erst im rumänischen Dekret 34376745 so enthalten. Beide Seiten scheuen sich auch 76 Jahre nach dem Krieg, in dieser historischen Frage mit Wahrheiten umzugehen. Immerhin, aus welchem Anlass auch immer, hat sich Rumänien bereit erklärt, den Nachfolgeopfern eine Entschädigung zu zahlen. Ein spätes Schuldeingeständnis in einem inzwischen nahezu sachsenlos gewordenen Rumänien. Erinnern, verzeihen, Realitätssinn!?

Die damalige Pauschalisierung mit der NS-Vergangenheit hing in den Nachkriegsjahren allen wie ein ewiger Klotz am Bein, mit dem man in Rumänien zum Humpeln verdammt war. Im Nachhinein, zugegeben, haben wir die einfachste und gleichzeitig umständlichste Lösung gesucht und scheinbar beide Varianten gefunden. Jeder hat seinen Anteil bei unserem Weggang. Ob unsere Ahnen Beifall klatschen würden? Da kann ich mir aber nicht so sicher sein. Nun ist die ehemals geschlossene Ethnie der Siebenbürger Sachsen, die längst nur noch ein Häuflein war, unaufhaltbar auf dem Weg dabei, nur noch Geschichte zu werden. Aber mit erhobenem Haupt, sagt auch meine brandenburgische, nicht wurzelechte sächsische Enkelin und fügt noch das „Sachs von der Wurzel“ hinzu. Und das ist doch auch was!

Und egal aus welcher Sichtweise, Seiden und Leschkirch gehören auch dazu! Auch wenn es mir wie im Gedicht von Gottfried Keller vorkommen sollte. Wir tragen das verwitterte Fähnlein der sieben Aufrechten weiter – siebenbürgisch-sächsisch eben! Aber Gottfried Keller hat ja auch noch gesagt: „Achte jedes Mannes Land, aber deins liebe!“ Das könnte auch mein Großvater gesagt haben. Aber heute? Wenn er das wüsste? Ich sehe sein Kopfschütteln und sein Erröten! Und vielleicht seine sarkastische Ergänzung: „Dafür habe ich nun ein Schaf geopfert?!“

Hans Blahm

Schlagwörter: Seiden, Leschkirch, Brukenthal

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