26. August 2022

Edith Ottschofskis neuer Gedichtband „saumselige annäherung“

Vor einigen Wochen bekam ich den jüngsten Gedichtband der Lyrikerin Edith Ottschofski zugeschickt, die ich vor etwa 20 Jahren auf der Leipziger Buchmesse in Deutschland kennengelernt habe. Es war anlässlich eines Banketts, das zu Ehren von Schriftstellern aus Rumänien gegeben wurde, die sich in der deutschen Literaturszene etabliert hatten. Unter den Anwesenden fiel mir (wie konnte es anders sein?!) der inzwischen verstorbene Oskar Pastior auf, der damals schon seit etwa drei Jahrzehnten in Berlin wohnte.
Aber es waren auch deutsche Schriftsteller aus Rumänien zugegen, darunter der Hermannstädter Autor Joachim Wittstock und seine Schwester Rohtraut Wittstock, die jahrzehntelang die Literatursparte des Neuen Weg betreut und in den letzten Jahren die Chefredaktion der Allgemeinen Deutschen Zeitung in Rumänien inne hatte. Wenn ich mich nicht irre, nahm auch Andrei Pleșu an jenem Abendessen teil.

Edith Ottschofski erregte meine Aufmerksamkeit an jenem Abend, an dem wir uns kennenlernten… sie ist Temeswarerin… Temeswar, eine Stadt, in der ich auch zwei Jahre verbrachte, als Schülerin in der zweiten und dritten Klasse der Grundschule. Das Gespräch, das sich von Anfang an zwischen uns entspann, handelte über die Literatur. Scheinbar ging es vorzugsweise darum, aber sie erzählte mir nicht, dass sie auch schriebe. Ich begegnete ihr danach, viel später vor etwa vier Jahren bei den Deutschen Literaturtagen in Reschitza. Diese versuchen eine Literatenfamilie wieder zu vereinen, bestehend aus den Autoren mit deutscher Staatsbürgerschaft und jenen, die die rumänische behalten haben. Kürzlich schickte mir Edith Ottschofski ihren Gedichtband „saumselige annäherung“, in Ludwigsburg im Pop Verlag in einer herrlichen grafischen Ausarbeitung erschienen, gezeichnet von Ilse Hehn, die ebenfalls aus Rumänien stammt und sich erfolgreich auch in der Welt des Wortes umtut.

Ich lese also gierig das Buch der Dichterin Edith Ottschofski und muss zugeben, dass ich wieder einmal (eine erste Auswahl der Gedichte ist bereits in meiner Übersetzung in Bukarest erschienen) diese Serie kurzer Szenen vollends auskoste, in denen eine Zuschauerin, ein Junkie der Reisen mit den Öffentlichen Verkehrsmittel, wie eine Archivarin alles notiert, was das Bild eines Menschen einhüllt oder enthüllt, wenn dieser sich völlig „anonym“ wähnt, also frei! Aber ihr Blick ist der eines habgierigen Jägers, er kann von einer Handtasche ausgehen, von einem Paar Handschuhe, von einer bestimmten Frisur, einem Paar Ohrringe, einem Paar an den Knien eingeritzter Jeans und im Nu… fertig ist das Porträt! Das Äußere verrät das Innere; die Bestimmung der Wertigkeiten, der Anzahl der Sauerstoffatome, der Wasserstoffatome und anderer „chemischer“ Bestandteile. Auf diese Art führt Edith Ottschofski kaltblütig die minimalistische Radiografie eines unbekannten Individuums durch. Mir war, als würde ich die Tabelle von Mendelejew durchblättern. Sie geht nicht von dem Gedanken aus, dass die perfekte Radiografie des „zeitgenössischen“ Menschen vom Geschlecht bestimmt ist und von den abenteuerlichsten Auswüchsen dieses Garants des Lebens auf Erden. Sie nutzt ihre Beobachtungsgabe über Gebühr für die winzigen Dinge aus, die das konkrete Bild eines Menschen ausmachen, angefangen von der Kleidung, über eine bestimmte Art zu lachen oder sich an der Nase zu kratzen, einen Stuhl zu ergattern bis zur Inbesitznahme des umliegenden Raums mittels einer Einkaufstasche.

So entsteht das lebhafte Bild einer gesamten Gesellschaft, einer Welt, eines Chaos, in dem niemand auf niemanden mehr Rücksicht nimmt und der „Minimalismus“ vorherrscht, in einer Welt, die nicht mehr hineinpasst in den immer minimaler werdenden Raum!

Nora Iuga

(Aus dem Rumänischen von Edith Ottschofski)

Edith Ottschofski: „saumselige annäherung“. Gedichte. Mit bildnerischen Arbeiten von Ilse Hehn, Ludwigsburg: Pop Verlag, 2022, Reihe Lyrik Bd. 172, kartoniert mit bedrucktem Schutzumschlag, 110 Seiten, 16,50 Euro, ISBN 978-3-86356-352-3

Edith Ottschofski: „Clipe. Augenblicke, Clins d’œil“, in der Übersetzung von Nora Iuga und Alain Jadot, Bukarest: Casa de Pariuri Literare, 2021. 25 Lei (5,04 Euro), ISBN 978-6069902912 (siehe auch SbZ Online vom 21. November 2021)

Schlagwörter: Rezension, Lyrik, Ottschofski, Iuga

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