5. Oktober 2022

60 Jahre „Patenschaft für das Ostdeutsche Lied“

Es ist die einzige Sachpatenschaft für ein ostdeutsches Kulturgut in Deutschland: die „Patenschaft für das Ostdeutsche Lied“ der Stadt Wetzlar. Die Institution kümmert sich seit 60 Jahren darum, das Liedgut der einst deutschen Siedlungsgebiete im Osten vor dem Vergessen zu bewahren. Gefeiert wurde das Jubiläum mit einem Liederabend am 11. September in der Stadthalle.
Im Alten Rathaus Wetzlar ist die ...
Im Alten Rathaus Wetzlar ist die Patenschaftsstelle untergebracht.
Drei Zimmer im Alten Wetzlarer Rathaus in der Altstadt direkt neben dem Standesamt – das ist das Domizil der Patenschaftsstelle für das Ostdeutsche Lied. Hier sind die rund 2.000 Liederbücher der Sammlung, dazu 300 Fachbücher und 2.000 Liederblätter untergebracht. Geleitet wird die Einrichtung von Gerhard König. Der 82-Jährige leistet die Arbeit seit 2003 im Ehrenamt, unterstützt durch Petra Hannig, die als Mitarbeiterin im Historischen Archiv der Stadt Wetzlar stundenweise auch für die Patenschaftsarbeit tätig ist.
Gerhard König und Petra Hannig betreuen die ...
Gerhard König und Petra Hannig betreuen die Patenschaft der Stadt Wetzlar für das „Ostdeutsche Liedgut“ mit einer umfangreichen Liederbuch-Sammlung.
Den Anstoß zur Gründung gab der aus dem Sudetenland heimatvertriebene Musikpädagoge und Volkskundler Edgar Hobinka (1905-1989). Der spätere Ehrenbürger Wetzlars hatte bereits 1957 die Wetzlarer Musikschule mitbegründet und gehörte auch der Stadtverordnetenversammlung an, die 1962 den Beschluss zur Gründung der Patenschaft fasste.

Ziel war es, eine zentrale Sammel- und Auskunftsstelle für das ostdeutsche Liedgut einzurichten, die als Ansprechpartner für Chöre und Musiker fungiert und beispielsweise Notenblätter zur Verfügung stellt. Auch Anfragen aller Art sollten beantwortet werden. Ein großer Teil davon stammt von Chören oder aus den Reihen der Vertriebenenverbände, die auf der Suche nach bestimmten Liedern oder Liederbüchern sind. Viele Anfragen machen deutlich, dass es nicht nur um eine Melodie geht, sondern auch darum, das Trauma einer schweren Zeit aufzuarbeiten. So schickte eine ehemalige Gefangene in sibirischen Arbeitslagern aus Schwerin Lieder zu, die in diesen Lagern entstanden sind. Daraus ergab sich ein längerer Schriftwechsel mit dem Austausch von Erlebnissen und Erfahrungen.

Auch von Bürgern aus Polen oder Tschechien werden Anfragen nach Liedern gestellt, die von Wetzlar aus beantwortet werden können. Wer ein bestimmtes Lied sucht und nur den Textanfang kennt, hat die Möglichkeit, die Liedsuchdatei der Patenschaftsstelle zu nutzen. Sie verfügt mittlerweile über 66.000 Titeleinträge und dürfte kaum eine Liedanfrage offenlassen. Auch gibt es erste Bestrebungen, die alten ostdeutschen Lieder neu zu bearbeiten. So haben sich zwei Musikgruppen gemeldet, um die Lieder als „Jazzversion“ zu vertonen und damit neue Zielgruppen zu erschließen.

Um das ostdeutsche Liedgut zu pflegen und zu verbreiten, hat die Patenschaftsstelle eigene Liederbücher herausgegeben wie das in der 5. Auflage erschienene „Ostdeutsche Liederbuch“ und das Liederbuch „Brücke zur Heimat“, von dem bereits die 9. Auflage gedruckt wurde. Höhepunkt der jährlichen Aktivitäten ist ein Liederabend in der Stadthalle, der hauptsächlich von heimischen Chören und Musikern gestaltet wird.

Bevor die Patenschaftsstelle 1997 ins Alte Rathaus einzog, wo nach Inbetriebnahme des Neuen Rathauses Räume frei wurden, ist sie einige Male innerhalb der Wetzlarer Altstadt umgezogen. 2013 wurde der Patenschaft eine besondere Anerkennung zuteil: Sie wurde vom Land Hessen mit dem Preis „Flucht, Vertreibung, Eingliederung“ ausgezeichnet, der mit 2.500 Euro dotiert war.
Eine Karte zeigt den Aktionsradius der ...
Eine Karte zeigt den Aktionsradius der Patenschaft, zu dem 27 ehemalige deutsche Siedlungsgebiete gehören, von den bekannten wie Ostpreußen, Schlesien, Pommern und Sudetenland bis hin zu weniger bekannten wie Wolhynien, Buchenland und Bessarabien.

„Singen schafft Heimatgefühl“

Zum Jubiläumsabend am 11. September kamen über 250 Gäste in die Wetzlarer Stadthalle. Fünf heimische Chöre boten unter der Moderation von Margit Würz einen bunten Strauß an Volksliedern dar, die in den ostdeutschen Herkunftsorten der Heimatvertriebenen entstanden sind, aber auch solche aus anderen Regionen Deutschlands und Europas. Dazu trug das Gesangsduo Christa Löffler/Käthe Wilhelmi Weisen von Robert Schumann bis zu Volksliedern aus dem Böhmerwald vor. Für stimmungsvolle Polkas, Märsche und Walzer zum Mitklatschen sorgten das Böhmische Blasorchester „Egerländer Schmankerln“. Oberbürgermeister Manfred Wagner (SPD) würdigte die Patenschaft als „einzigartige Sachpatenschaft“ für ein ostdeutsches Kulturgut, die vielfach angefragt werde, und erinnerte an den Begründer Edgar Hobinka. Auch die Beauftragte der hessischen Landesregierung für Heimatvertriebene und Spätaussiedler, Margarete Ziegler-Raschdorf, die wegen einer Corona-Erkrankung nicht teilnehmen konnte, hob in einem schriftlichen Grußwort hervor, dass Wetzlar sich als einzige Stadt in Deutschland in dieser Form des ostdeutschen Liedgutes annehme. Singen schaffe Heimatgefühl. Diese Erfahrung hätten besonders die Heimatvertriebenen gemacht. „Das ostdeutsche Liedgut ist sehr lebendig“, so Raschdorf. Der „Ostdeutsche Liederabend“ findet einmal jährlich in der Stadthalle statt, zuletzt allerdings coronabedingt im Januar 2020.

Eckhard Nickig


Die Liederbücher „Brücke zur Heimat“ und „Ostdeutsches Liederbuch“ sind zum Preis von fünf Euro in der Patenschaftsstelle, Hauser Gasse 17, 35578 Wetzlar, Telefon: (0 64 41) 99 10 31, erhältlich.

Schlagwörter: Liedgut, Patenschaft, Wetzlar, Jubiläum

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