30. Dezember 2022

Anthologie: junge rumäniendeutsche Lyrik zwischen 1975 und 1980

Unter der Schädeldecke bewegen sich die „antillen“, schrieb einst Richard Wagner. In Hermannstadt steht auch jetzt der „Ayers Rock der heutigen deutschen Literatur Rumäniens“, Joachim Wittstock, schmunzelt Walter Fromm in alter Freundschaft. Bis in die Karibik und nach Australien greifen Autoren dieser Literatur aus, um sie und sich und einander zu „verorten“. So nennt man das heutzutage, wenn man nicht mehr weiß, wo man selbst, schon gar nicht, wo einem der Kopf steht oder gestanden hat. Drum ist es mehr denn berechtigt, diese Anthologie zumindest im Untertitel und in Klammer „historisch“ zu nennen, ja die Benennung darf mit Fug und Recht nicht allein als Datierung, sondern auch als Qualifizierung begriffen werden. Fürwahr historisches Gewicht gewinnt sie zumal jetzt, da alles, was drinsteht, der Geschichte angehört.
Als Walter Fromm die Sammlung von Texten zusammenstellte, die er der „engagierten Subjektivität“ zurechnete, da dachte und handelte er ganz und gar gegenwärtig, in der Gegenwart des sozialistischen Rumänien von 1980 – dem er gerade zu entrinnen trachtete. Er war im Begriff, das Land endgültig zu verlassen, was der Kulturfunktionärin Hedi Hauser, Chefin der deutschen Abteilung beim Kriterion Verlag Bukarest, den willkommenen Vorwand bot, das Manuskript zurückzuweisen. Der verhinderte Herausgeber fand den Mut, die Kraft und Mitstreiter (Adelheid Fleischer, Heinz Götsch, Autoren), es als kartoniertes Typoskript in 15 Exemplaren zu vervielfältigen und an die darin vertretenen Dichter und „befreundete Literaturkritiker“ zu schicken. Das Corpus Delicti, eine Vorkriegs-Schreibmaschine, ist in Hermannstädter Müllbergen versenkt worden, das Korpus der Textauswahl galt als versunken.

Nun aber ist sie „auf uns“ gekommen, man wünscht, sie käme „über uns“ mit aller Wucht der Hilf- und Aussichtslosigkeit, der (ein schönes Wort, dem wir ein drittes „l“ nicht antun wollen) hellichten Verzweiflung, die darin aufgehoben sind. Der bewundernswerte Verleger Traian Pop in Ludwigsburg hat jene und weitere Mitstreiter zu einer „historischen“ Neuauflage mit einem „Apparat“ an aufschlussreichem literarhistorischem Beiwerk vermocht und bietet ein denkwürdiges Stammbuch rumäniendeutscher Lyrik in qualitativ höchster Konzentration.

„Die einst jungen Autoren vermitteln heute ein vom abgelaufenen knappen Jahrhundert gezeichnetes schrundiges Bild.“ Für die Formulierung freundschaftlichen Bedauerns darf man dem auch außerliterarisch gereiften Walter Fromm ebenso dankbar sein wie dem „einst jungen“ für die damals nachgerade subversive, heute immer noch literarhistorische Tat. Er zieht allerdings auch „42 Jahre danach“ keinen Schlussstrich, er blickt ebenso dankbar bewegt zurück: „Die erosiven Scharten und Wunden – die buchstäblichen wie die bildlichen –, die seit jener unheilvoll-glücklichen ‚antillen‘-Aufbruchsdekade mehr und mehr eine bedrohliche Gestalt annehmen, stimmen mich ernst und traurig. Jeder einzelne der Autoren ist hier nur mit einem Mikroausschnitt seines Werkes vertreten, der ihm vielleicht unbedeutend erscheinen mag; aber in der Summe ergeben alle Gedichte zusammen einen eloquenten Makrokörper des nachhaltigen literarischen Paradigmenwechsels um 1975/1980. Den Autoren der Anthologie nur zu danken wäre eine Untertreibung im Kanzleistil. Ihre Texte empfinde ich auch heute noch als Geschenk an das literarische Leben deutscher Sprache, für das wir für immer in ihrer Schuld stehen werden.“

„Paradigmenwechsel“ klingt beileibe weniger lyrisch als dramatisch. Was war geschehen? Winter war es geworden in dem Land, das einst den Prager Frühling erschnuppert hatte, wie gewöhnlich hatten dabei die Dichter, in diesem Fall deutscher Sprache, die Nase im zunehmend frostigen Wind. Ihre Reaktion war keine Aktion mehr, wie sie die Aktionsgruppe Banat bis 1975 forsch proklamiert hatte, es gab auch keine Gruppe mehr, nachdem einige ihrer Mitglieder aus fadenscheinigem Grund verhaftet worden waren, worauf der eine, William Totok, monatelang weggeschlossen blieb. Umso bewunderns- und bedenkenswerter das klammheimliche Einverständnis, das nicht proklamiert werden musste, sich aber in den Veröffentlichungen jener Zeit und jetzt in dieser geballten Sammlung daraus geradezu frappierend offenbart. Sie wussten alle nicht mehr, wie weiter, wollten es auch nicht, und machten es trotzdem oder eben drum.

Die Wirklichkeit war dermaßen heftig hereingebrochen über die jungen Menschen, dass sogar der stets selbstgewisse Richard Wagner seine „froschperspektive“ in einer Frage kulminieren lässt: „oder reden wir weiter mit belegter stimme / etwas irritiert doch / eingestellt auf das unaufhörliche / umschlagen von informationen in emotion / schwelendes / feuer / eine antilopenhaut / aus sorgfältig ineinander / verschachtelten sätzen / wie kommt man da / ran wie kommt man /da ran dichter / sanfter / guerillero“. Eines Fragezeichens bedarf es bei solcher Ratlosigkeit nicht. Siegreich strecken die sanften Guerilleros die Waffen. Werner Söllner bescheidet sich in seiner „Entwöhnung“ mit einer „Ahnung“: „Wer hat mein Ich in die Flucht / der ‚Gedichte‘ geschlagen? (Jener Gedichte, in denen gewann, wer / zu schweigen verstand, wer es verstand, sich unverständlich zu machen.) Alle / tragen wir Bilder in uns: wie wir uns sehn wolln und wie wir wären, / wären wir nicht, wie wir sind. Und über allem die Ahnung vom Riss“. Die Ahnung wiederum kleidet Rolf Bossert im „lamento um den neuen tag“ in einen ebenso grimmig lustigen wie schlüssigen Vergleich: „ich wälz mich schwer im bett herum. / mir träumt, dass ich noch schlafe. / mein geist, der ist zur zeit so stumm / wie tausend tote schafe“.

Eine andere, nicht minder bedrängend trostlose Assoziation stellt Franz Hodjak dem lyrischen Ich – und dem „du“ – anheim: „etwas wie ein papierdrache // zerrt an einer unsich[tba]eren schnur. / plötzlich / spürst du das verlangen, dich / in eine alternde frau zu verlieben, als wäre / ihre trostlosigkeit das einzige, das dieses zerren aufwiegt“. Klaus Hensels „Gertrude“ ist vermeintlich eine Küchenschabe, eigentlich aber nur wie alle anderen ein Wesen, dem die Wirklichkeit weh tut: „Was hat sie eigentlich // vom Leben? Die Ungewissheit / ob ihre Wirklichkeit und die / Wirklichkeit überhaupt // sich decken? Und diese Angst / einer von uns könnte sie / tatsächlich festnageln // in seinem Gedicht“. Eine ähnliche Angst wie die der „frau in der haltestelle“ bei Horst Samson: „ich sehe oft hinüber / entsetzen / in ihren augen ein entstelltes märchen / ein mann und eine frau / auf einem großen bett / kaputte träume und ein unscharfes / bild von einem zimmer // in ihrem langen schwarzen mantel / versteckt / blickt sie klein und frierend / auf die handuhr / die frau in der haltestelle / steht abseits mit ihrer / geschichte“.

Abseits stehen mit seiner Geschichte: So wenig erhellend es sein mag, Gedichtfragmente dergestalt, einem Empfinden nach, aufzureihen, so deutlich wird aus diesem Flickenteppich einer „Erzählung“ ein allen Autoren gemeinsames Empfinden, das Helmut Britz in seiner „Ausuferung 1“ – nun ja, beschwört: „ein Zusammengehörigkeitsgefühl / wie unter dem Einfluss radioaktiver Strahlung / sonntagnachmittags / wenn die Massen dem Stadion entströmen / Leerstellen im Text eines Irren“. Dazu hat Hellmut Seiler in „wintermorgen 2“ ein Bild: „seht es ist ein wintermorgen / aus dem wort ‚wintermorgen‘ / in meinem zimmer / auf dem papier“. Seht, auf dem Papier in dem Zimmer bei Seiler, und seht in der Zusammenschau Johann Lippets beim „Versuch einer Diagnose“: „die gespräche mit den freunden / sind immer schwieriger in gang zu setzen / zu viel nachdenken liegt in jedem satz / zum verzweifeln / braucht man weniger zeit als zur ahnung der freude / hier irgendwo / liegt unser schweigen begraben“. Denn, so Helmut Britz in seiner „Ausuferung 2“: „ein Zahn fault mir im Mund / es geschieht etwas, Leute“.

Das ist geschehen, das geschah. Niemandem, der solchem „Einfluss radioaktiver Strahlung“ schon ein Jahrzehnt vor Tschernobyl ausgesetzt gewesen ist, werden diese Texte, „in denen gewann, wer / zu schweigen verstand, wer es verstand, sich unverständlich zu machen“ (Werner Söllner), und die entsprechenden „Leerstellen“ fremd bleiben, sofern er bereit ist, sich auf Lyrik einzulassen, obwohl die eigenen Erinnerungen alles andere als poetisch sein mögen.

Der Vorteil der „kleinen Literaturen“, den schon Franz Kafka in der Nähe von Autor und Öffentlichkeit sah, der ist dahin. Nicht gering zu schätzen aber ist, dass, wie Waldemar Fromm feststellt, die „Gedichte dieser Anthologie verdeutlichen, dass sie einem Vergleich mit avancierter Lyrik seit den 1970er Jahren in der Bundesrepublik standhalten“. Stolz daraus zu beziehen bleibt den Autoren überlassen, sofern sie das noch können. Unsereins wiederum kann diesseits des „Risses“, der „Scharten und Wunden“ mit frohlockend nachgetragener Bewunderung bedenken, dass vielleicht, nein: allenfalls!, ein Dichterwort aus unserer geschwätzigen Sprachlosigkeit zu helfen vermag.

Georg Aescht



„die bewegung der antillen unter der schädeldecke. junge rumäniendeutsche lyrik zwischen 1975 und 1980“. Eine (historische) Anthologie herausgegeben von Walter Fromm. Erweiterte, kritische Neuauflage 2022 mit einem einleitenden Essay von Prof. Dr. Waldemar Fromm und einer soziokulturellen Kontextualisierung von Prof. Dr. Anton Sterbling. Pop Verlag, Ludwigsburg, 2022, 286 Seiten, 23 Euro, ISBN 978-3-86356-350-9.

Schlagwörter: Lyrik, Autoren, rumäniendeutsch, Fromm, Sterbling

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