8. Dezember 2023

Ein allerletzter Blumenstrauß für meine Mutter: Maria Stenzel erlebte das Trauma der Russlanddeportation

Heute ist für mich ein Tag der großen Trauer. Meine Mutter, Maria Stenzel, geboren am 29. Oktober 1923 in Dobring, Rumänien, wäre heuer 100 Jahre alt geworden. Leider ist sie viel zu früh von uns gegangen, am 29. März 1998, vor genau 25 Jahren. Sie ruht auf dem Friedhof in Ravensburg Weissenau Mariatal. Das Grab muss zum Ende dieses Jahres geräumt werden, darf von mir nicht weiter gepflegt werden, obwohl ich das sehr gerne möchte.
Ich (68 Jahre) habe ab dem nächsten Jahr keinen Ort der Trauer mehr. Meine Mutter hatte sich gewünscht, in ihrem Geburtsort Dobring im Familiengrab bestattet zu werden. Diese Gräber dort gehören uns für immer. Leider konnte ich ihr diesen Wunsch aus Kostengründen im Jahr 1998 nicht erfüllen.

Die Deportation meiner Mutter nach Russland war nicht rechtmäßig, da sie sich keiner politischen oder gesellschaftlichen Straftat schuldig gemacht hatte. Die in verschiedenen Arbeitslagern im Donbas (heute Ukraine) verbrachten fünf Jahre – es hätten die schönsten Jahre ihres Lebens werden können – wurden ihr geraubt. Das erlebte Trauma beeinträchtigte ihr ganzes Leben. Der Traum, das vom Vater neu erworbene Geschäft in Hermannstadt endlich führen zu dürfen, wurde somit zerstört.

Das Grab von Maria Stenzel auf dem Friedhof in ...
Das Grab von Maria Stenzel auf dem Friedhof in Ravensburg Weissenau Mariatal
Die Geschichte der verschleppten Frauen aus Siebenbürgen/Rumänien zur Zwangsarbeit nach Russland muss einfach erzählt werden. So auch die meiner Mutter. Viele haben nicht darüber geredet, andere hätten es gerne, aber es wurde ihnen nicht zugehört. Es gibt heute nur noch wenige Zeitzeuginnen, die darüber berichten können. Aus den Erzählungen meiner Mutter weiß ich, dass sie im bitterkalten Januar 1945 von der Miliz und sogar von den eigenen Landsleuten wie eine Verbrecherin mit Waffengewalt zur Sammelstelle zusammengetrieben wurde. Manche konnten gar nicht Abschied von der Familie nehmen. Weil viele untergetaucht waren, sich also dem Kommando entzogen hatten, bei der Verhaftung nicht anwesend waren, wurden andere festgenommen, die älter oder jünger waren. So auch eine junge Frau, die gerade vor drei Tagen ihr Kind bekommen hatte. Es war bitterkalt und eng im Viehwaggon. Die junge Mutter bekam hohes Fieber und starb: das erste Drama auf diesem Weg ins Verderben. Nachts öffneten die Aufpasser die Schiebetür, und die Frau wurde einfach rausgeschmissen, in den Wald, in den Schnee, den Tieren zum Fraß.

Nach zwei Wochen Zugfahrt in Viehwaggons kamen sie in Russland, heute Ukraine, an. Maria Stenzel war im Donbas in Lagern wie Makewka, Kriwoirog, Odessa u.a. Sie selbst hatte das Glück, dass der Onkel beschloss (er war im Ersten Weltkrieg gewesen und zurückgekehrt), bei dem bekannten Tischler im Ort einen Koffer nach Maß anfertigen zu lassen, in dem ein Behältnis aus Emaille mit kleinen Löchern oben (sächsisch Fatdos genannt) passen sollte. Darin hatte ihre Mutter gebratenes Schweinefleisch und Wurst in Schweineschmalz eingelegt, denn es war ja kurz nach dem Schweineschlachten. Dies sollte ihr das Leben retten. Zwei Jahre aß sie davon, auch wenn es ranzig geworden war, denn die Sommer waren heiß und das Fett schmolz. Jeden Tag tunkte sie den Finger ins Fett und überlebte so ganze fünf Jahre, vom Januar 1945 bis Dezember 1949.

Auch beschloss der Onkel, die Winterschuhe beim örtlichen Schuster mit fünf zusätzlichen Sohlen bestücken zu lassen. Auch das stellte sich dort überlebenswert dar, bei der Kälte auf den Bahngleisen. Sie mussten zu zweit mit einer Trage die vom Krieg zerstörten Bahngleise zu einer Sammelstelle bringen. Sie fanden Helme mit dem Kopf des Soldaten noch drin, Briefe und Bilder der Familienmitglieder, alles tiefgefroren.

Von und zu den Baracken mussten sie marschieren und dabei singen. Die Aufpasser, russisch Natschalnik, waren sehr streng. Der Hunger hatte die Männer in der Gruppe dazu gebracht, die Hunde und Katzen der Bewohner zu fangen und im Marsch in der Kolonne zu schlachten. Es wurde in der ersten Zeit alles gefangen, was frei herumlief, und geschlachtet. Nachher sah man keine Hunde und Katzen mehr herumlaufen. Die Verpflegung war für die schwere Arbeit unzureichend. Hunger war der ständige Begleiter. Schwache Ernährung. Die Massenunterbringung, Läuse am Körper und Ratten in den spärlichen Bretterbaracken, bot keinen Schutz vor der extremen Kälte. Sanitäre Anlagen waren kaum vorhanden. Sie erkrankte an Malaria, überlebte die Krankheit. Viele erkrankte Frauen wurden nach Hause geschickt, meine Mutter nicht. Ein Arzt untersuchte sie untersucht und sagte, sie sei nicht krank genug, um nach Hause geschickt zu werden. Darauf hat sie viel Salzwasser getrunken, um krank zu werden, damit sie auch nach Hause darf.

Meine Mutter dachte, dass zu Hause noch alles so sei wie bei der Verschleppung im Januar 1945. Es war geplant, dass sie das Geschäft in Hermannstadt (in bester Lage in der Heltauer Gasse) führt. Dieses Geschäft hatte ihr Vater für sie (er war Kaufmann und besaß ein Auto) gekauft. Bei diesem Kauf war meine Mutter dabei. Den Ackerboden samt Weingärten, Wälder und Obstwiesen sollte ihr einziger Bruder Michael erhalten und bewirtschaften. Damals durfte man in Rumänien erst mit 23 Jahren ein Geschäft führen. Ihr Vater, der Kaufmann Michael Stenzel, musste zur Wehrmacht als Postkraftwagenlenker. In Österreich fuhr er über eine Brücke, die explodierte, er starb. Meine beiden Großväter sind wegen des Zweiten Weltkriegs gestorben, der eine bei der Explosion hinter dem Steuer des Postautos der Wehrwacht in Österreich, der andere in Russland.

Mutter wurde fünf Jahre zur Zwangsarbeit deportiert, ihr einziger Bruder als 17-Jähriger in den Krieg einbezogen. Großmutter wurde aus dem Haus gejagt und blieb bei guten Menschen wohnen, bis meine Mutter im Dezember 1949 zurückkehrte. Von Russland wurde sie mit dem Zug nach München gebracht. Dort auf dem Bahnhof seien so viele Menschen gewesen, sagte meine Mutter, wie auf einem Ameisenhaufen. Bei dem Durcheinander stieg ihre Freundin in den falschen Zug und fuhr nach England. Von dort gelangte sie nach Amerika. 1998 war ein Treffen mit der Freundin geplant, doch es kam nicht mehr dazu. Meine Mutter starb.

Der Orientexpress brachte meine Mutter von München bis zum Bahnhof in der Nachbargemeinde Großpold in Siebenbürgen. Von dort waren es noch vier Kilometer über den Berg bis nach Hause. Es war Dezember, viel Schnee lag auf dem Weg und die Wölfe heulten. Es war nach Mitternacht. Endlich am Elternhaus angekommen, klopfte sie und da kam eine Frau ins Fenster und sagte etwas, dass hier nicht genannt werden kann. Mutter weinte und fragte, wo denn ihre Mutter sei. Die Frau nannte das Haus, in dem die Mutter wohnte. Sie ging dorthin, klopfte, dann kam die Mutter. Sie umarmten sich, weinten, und konnten zwei Tage lang nicht mehr sprechen.

Rumänien zahlt heute sogar an die Kinder der Zwangsarbeiter (an mich und meine Schwester) eine monatliche Entschädigungszahlung von 350 Euro. Sie selbst hätte 700 Euro erhalten. Ich wünschte, Mutter hätte diese Entschädigungszahlung noch erlebt, denn ihre Rente hier war sehr gering (400 DM) nach zehn Jahren Arbeit, fünf Kinder und fünf Jahre Zwangsarbeit.

Mit Blick auf das Geschehen in der Ukraine und in Nahost: Ich mache mir große Sorgen um unsere Demokratie in unserem Land. Verschiedenste Gruppierungen hetzen und sehnen erneut alte Zeiten herbei. Die alle haben keine Ahnung, was der Zweite Weltkrieg an Leid, Elend, Vertreibung, Verschleppungen verursacht hat. Meine Familie wie viele andere wurden zerstört, enteignet, ermordet.

Die weißen Rosen werden bald welken. Das Grab muss bis zum Ende des Jahres abgeräumt werden. Es verschwindet also mein Ort der Erinnerung an meine Mutter. Es bleiben Narben zurück, tiefe Narben in Erinnerung an dieses Trauma und Unrecht, das meiner Mutter aber auch tausend anderen Siebenbürger Sachsen widerfahren ist.

Katharina Zank

Schlagwörter: Deportation, Russland, Dobring, Ravensburg, Zwangsarbeit

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Neueste Kommentare

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