30. November 2024
Aussöhnung mit der Vergangenheit: Christine Birós Lebenserinnerungen
Der Prolog verheißt nichts Gutes, denn „das Kind war untröstlich“, obwohl die Mutter „nach einer Ewigkeit“ – nach langem Weinen, Rufen und Wehklagen – von nebenan, wo die Chorprobe „mit der Mutter als Chorleiterin“ abgehalten wird, auftaucht und „das erschöpfte Bündel“ auf den Arm nimmt. Aber die „gefährlichen Tiere und Monster“, die „Schatten und riesigen Ungeheuer“ lassen sich nicht so leicht vertreiben. Der Einstieg in Christine Birós Lebenserinnerungen „Die Rache des Karpfens. Eine Kindheit in Siebenbürgen“ mutet trostlos an. Wie soll ein Kind, dessen Mutter da ist und doch abwesend, das Urvertrauen entwickeln, geborgen zu sein, geliebt zu werden und in diesem Bewusstsein zu einem Menschen mit gefestigter Persönlichkeit heranwachsen?
Belehrungen, Gebete, Gehorsam sind an der Tagesordnung. „Früh machte das Kind die Erfahrung, dass Gut und Böse, Belohnung und Bestrafung, nahe beieinanderlagen. Nichts würde ohne Folgen bleiben.“ Das Mädchen wächst zweisprachig auf „in einem Pfarrhaushalt, in dem die Bibel wie das tägliche Brot zum Alltag dazugehörte“, und muss lernen, die „Rolle als Pastorentochter, die ihr von Geburt an übergestreift wurde wie eine zweite Haut“, auszufüllen. Die Mutter, traumatisiert von ihrer Deportationserfahrung und vom Sterben der eigenen Mutter, ist die strengere im Haus, der Pastorenvater, der seine Jüngste liebevoll „Csibe“ (ungarisch Küken) nennt und den sie meist nur bei der Morgentoilette sieht, umso wichtiger. „Der Duft von warmer Milch, vermischt mit dem von Seife und Rasierschaum – das war Geborgenheit.“ Halt in den frühen Jahren bietet „Klari … Das Kindermädchen gehörte zur Familie dazu wie das gesamte Inventar. (…) Über dem Wohl des Kindes zu wachen war ihr wichtiger als ihr eigenes Bett.“
Christine Biró lässt uns teilhaben an ihrem Erwachsenwerden in Armenierstadt, wo sie am 8. Dezember 1960 geboren wurde, Sächsisch-Regen, woher ihr Großvater, ein Uhrmacher, stammt, und Darmstadt, wo die Familie nach der Aussiedlung aus Rumänien heimisch wird. Diese prägenden Ortschaften überschreiben die drei Teile ihres Buches, die chronologisch von der Zeit zwischen 1960 und 1978 erzählen. Der autobiografische Text wird immer wieder von eingeschobenen Kommentaren der Autorin unterbrochen, in denen sie das Erlebte aus ihrer heutigen Perspektive deutet und einordnet. Der prägendste und sicherlich interessanteste Aspekt der Erinnerungen ist die im deutsch-ungarischen Elternhaus gelebte, streng an der Bibel ausgerichtete Religion. „In der Glaubensgemeinschaft meiner Familie“, heißt es in einem Einschub, „wurde der Sabbat als Ruhetag gefeiert, aber es gab noch weitere Parallelen zum Judentum und dem alttestamentarischen Glauben, wie Schweinefleisch, das strikt verboten war.“ Um welche Glaubensgemeinschaft es sich handelt, wird im Buch leider nicht deutlich. Einzig die Beschreibung eines heimlichen Treffens mit den „Predigerkollegen“ des Vaters und ihren Familien in den Karpaten verrät, dass in dieser Woche im „jährlichen Zeltlager“ alle Kinder zu „Waldensern“ geweiht werden. Was das denn sei, fragt das Kind den Vater und bekommt zur Antwort: „Waldenser – das sind in der Vergangenheit verfolgte Christen gewesen. Sie mussten sich wegen ihres Glaubens versteckt halten und lebten überwiegend in Wäldern und in Berghöhlen.“ Ein Abenteuer also und darum akzeptabel für das Kind, aber: „Schnell geriet die Waldenserin in Vergessenheit.“
Die heute in Landsberg am Lech lebende Christine Biró bekennt in einem Interview mit ihrem Verlag: „Ja, ich glaube an einen Schöpfer, den größten Freigeist überhaupt, der Freiheit und Liebe verkörpert. Aber ich fühle mich keiner Religionsgemeinschaft zugehörig.“ Nach einem Studium der Kunstgeschichte, Sozialpsychologie und Philosophie in München war sie 15 Jahre lang im Journalismus tätig. Aktuell engagiert sie sich im Rahmen eines Projekts des Innenministeriums für die Integration von Geflüchteten und widmet sich nebenbei ihrer Leidenschaft, dem kreativen Schreiben. Ihr autobiografisches Buch „Die Rache des Karpfens“ erzählt die Geschichte einer „Kindheit in Siebenbürgen“ unter erschwerten Bedingungen: Die Ausreise aus dem sozialistischen Rumänien erfolgt, als Christine Biró 16 Jahre alt ist, und die Emanzipation von den rigiden Moralvorstellungen im Elternhaus, die bereits in Siebenbürgen begonnen hat, gelingt vollends in der neuen Heimat Deutschland. Eine „Aussöhnung mit der Vergangenheit“ nennt die Autorin die Arbeit an der eigenen Biografie und „eine Katharsis im besten Sinne“. Die Vermutung, dass hier eine psychotherapeutisch motivierte Aufarbeitung vorliegt, ist aber falsch, denn Christine Biró erzählt mit ihrer Lebens- auch ein spannendes Stück persönlich gefärbte Zeitgeschichte aus dem sozialistischen Rumänien und blickt ein wenig melancholisch, aber sehr liebevoll auf ihre Kindheit und Jugend zurück.
Christine Biró lässt uns teilhaben an ihrem Erwachsenwerden in Armenierstadt, wo sie am 8. Dezember 1960 geboren wurde, Sächsisch-Regen, woher ihr Großvater, ein Uhrmacher, stammt, und Darmstadt, wo die Familie nach der Aussiedlung aus Rumänien heimisch wird. Diese prägenden Ortschaften überschreiben die drei Teile ihres Buches, die chronologisch von der Zeit zwischen 1960 und 1978 erzählen. Der autobiografische Text wird immer wieder von eingeschobenen Kommentaren der Autorin unterbrochen, in denen sie das Erlebte aus ihrer heutigen Perspektive deutet und einordnet. Der prägendste und sicherlich interessanteste Aspekt der Erinnerungen ist die im deutsch-ungarischen Elternhaus gelebte, streng an der Bibel ausgerichtete Religion. „In der Glaubensgemeinschaft meiner Familie“, heißt es in einem Einschub, „wurde der Sabbat als Ruhetag gefeiert, aber es gab noch weitere Parallelen zum Judentum und dem alttestamentarischen Glauben, wie Schweinefleisch, das strikt verboten war.“ Um welche Glaubensgemeinschaft es sich handelt, wird im Buch leider nicht deutlich. Einzig die Beschreibung eines heimlichen Treffens mit den „Predigerkollegen“ des Vaters und ihren Familien in den Karpaten verrät, dass in dieser Woche im „jährlichen Zeltlager“ alle Kinder zu „Waldensern“ geweiht werden. Was das denn sei, fragt das Kind den Vater und bekommt zur Antwort: „Waldenser – das sind in der Vergangenheit verfolgte Christen gewesen. Sie mussten sich wegen ihres Glaubens versteckt halten und lebten überwiegend in Wäldern und in Berghöhlen.“ Ein Abenteuer also und darum akzeptabel für das Kind, aber: „Schnell geriet die Waldenserin in Vergessenheit.“
Die heute in Landsberg am Lech lebende Christine Biró bekennt in einem Interview mit ihrem Verlag: „Ja, ich glaube an einen Schöpfer, den größten Freigeist überhaupt, der Freiheit und Liebe verkörpert. Aber ich fühle mich keiner Religionsgemeinschaft zugehörig.“ Nach einem Studium der Kunstgeschichte, Sozialpsychologie und Philosophie in München war sie 15 Jahre lang im Journalismus tätig. Aktuell engagiert sie sich im Rahmen eines Projekts des Innenministeriums für die Integration von Geflüchteten und widmet sich nebenbei ihrer Leidenschaft, dem kreativen Schreiben. Ihr autobiografisches Buch „Die Rache des Karpfens“ erzählt die Geschichte einer „Kindheit in Siebenbürgen“ unter erschwerten Bedingungen: Die Ausreise aus dem sozialistischen Rumänien erfolgt, als Christine Biró 16 Jahre alt ist, und die Emanzipation von den rigiden Moralvorstellungen im Elternhaus, die bereits in Siebenbürgen begonnen hat, gelingt vollends in der neuen Heimat Deutschland. Eine „Aussöhnung mit der Vergangenheit“ nennt die Autorin die Arbeit an der eigenen Biografie und „eine Katharsis im besten Sinne“. Die Vermutung, dass hier eine psychotherapeutisch motivierte Aufarbeitung vorliegt, ist aber falsch, denn Christine Biró erzählt mit ihrer Lebens- auch ein spannendes Stück persönlich gefärbte Zeitgeschichte aus dem sozialistischen Rumänien und blickt ein wenig melancholisch, aber sehr liebevoll auf ihre Kindheit und Jugend zurück.
Doris Roth
Christine Biró: „Die Rache des Karpfens“. Eine Kindheit in Siebenbürgen. ATHENA-Verlag, Oberhausen, 2024, 196 Seiten, 17,90 Euro, ISBN 978-3-7455-1184-0.Schlagwörter: Buchbesprechung, Erinnerungen, Religion
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