24. Juli 2025

Bienen oder Maulbeeren?/Erzählung von Annemarie Roth

Annemarie Roth, geboren 1958 in Marienburg bei Schäßburg, begann während der Coronazeit Erzählungen zu schreiben, die in Siebenbürgen spielen und eine Mischung aus realen Begebenheiten und Fiktion sind. In der SbZ Online wurden bisher sieben ihrer Erzählungen veröffentlicht.
Maulbeeren. Foto: pixabay ...
Maulbeeren. Foto: pixabay
Ganz früher, man könnte aber auch sagen schon immer, lebten die Menschen auf den Dörfern zum größten Teil von den Erzeugnissen, die Hof und Garten hergaben.

So war es auch in den 60-ern und 70-ern bei uns, in meiner Kindheit. Jeder hatte Nutztiere wie Schweine, Kühe, Schafe, Hühner, Hasen, Bienen, baute Gemüse an und erntete Obst aus dem eigenen Garten.

Dies behielt man bei, auch als die Dorfbewohner keine Vollzeitbauern mehr waren. Man übte seinen erlernten Beruf aus und betrieb nebenher etwas Landwirtschaft. So war man immer zur Genüge mit allem versorgt und gesünder war es auch, da man natürlichen Dünger und Spritzmittel auf Pflanzenbasis benutzte. Einen sozialen Aspekt hatte diese Lebensweise auch. Alte Menschen, meist unsere Großeltern, die die schwere Feldarbeit nicht mehr verrichten konnten, arbeiteten in Hof und Garten, in ihrem eigenen Rhythmus, fühlten sich nützlich und waren so voll in die Familie integriert. Außerdem konnten sie ihre jahrelange Erfahrung einbringen, wovon die Jüngeren nur zu gerne profitierten.

An unseren Hühnerhof grenzte hinter den Ställen und der Scheune ein großer Gemüsegarten an, der etwas abfiel und bis zum Bach reichte. Auf der anderen Seite des Baches befand sich ein zweiter Garten, in dem hauptsächlich Kartoffeln angebaut wurden und verschiedene Beerensträucher wie Johannisbeeren, Himbeeren und Stachelbeeren wuchsen. Hier nun standen zwischen den Sträuchern auch etwa acht Bienenstöcke, um die sich mein Vater liebevoll und gewissenhaft kümmerte, hatte er doch auch jedes Jahr einen so reichen Ertrag an Honig, dass er sogar einiges davon verkaufen konnte.

Unsere Sommerferien waren fast drei Monate lang. Wie bei allen Kindern war die Ungeduld groß, wenn wir an diese schulfreie Zeit dachten. Auch wenn es damals bei uns nicht üblich war, in Urlaub zu fahren, hatten wir schöne unbekümmerte Wochen vor uns, die wir nur zu gut auszufüllen wussten.

Da wir in einem kontinentalen Klima lebten und die Sommer heiß und trocken waren, nur unterbrochen von kurzen heftigen Regenfällen, gab es unzählige Gelegenheiten, im Dorf spielend und Unsinn treibend unterwegs zu sein.

Was ich nie vergessen habe, weil es sicher einer der angenehmsten Rückblicke in meine Kindheit ist, waren unsere nachmittäglichen Völkerballspiele hinter unseren Obstgärten. Auf einer ebenen, abgemähten Wiese steckten wir unser Feld ab und spielten, Jungen und Mädchen, bis zur Erschöpfung und ehrgeizig, jeweils auf den Sieg der eigenen Mannschaft hinzielend. Diese Nachmittage waren erfüllt von Lachen und Freude. Wir waren Freunde und verbrachten eine unbeschwerte Zeit ganz im Jetzt, wie das wohl nur Kinder können.

Meine Hauptaufgabe, die mir mein Vater für einen bestimmten Zeitraum in den Ferien übertrug, war, auf das Ausschwärmen der Bienen zu achten. Es bildete sich um diese Zeit im Jahr um eine neugeschlüpfte Königin ein junges Bienenvolk, das sich in ihrem Gefolge vom Bienenstock entfernte und einen eigenen Lebensraum, ein eigenes Zuhause für ein neues Volk suchte.

Die Tage, an denen ich besonders wachsam sein musste und mich in der Nähe der Bienenstöcke aufhalten sollte, konnte mir mein Vater ziemlich genau nennen, da er ja das Wachstum der Bienenkönigin und die Stimmung im Bienenstock sorgfältig beobachtete.

Also lungerte ich in der Nähe der Bienenstöcke herum, lag auf einer Decke und betrachtete die Wolken und las fantastische Gebilde aus ihnen heraus, Vögel, Katzen, Engel, träumte mich mit ihnen am Himmel, las mal etwas oder stibitzte reife Beeren von den Sträuchern, beobachtete die Vögel und ihren Flug am Firmament und horchte immer wieder in Richtung Bienen. Ich langweilte mich ziemlich oft, sehr.

Es gelang mir aber den meisten Bienenschwärmen zu folgen. Sobald sie sich am Flugloch sammelten, ihr Summen zu einem gut vernehmbaren Brummen anwuchs und sie fest zusammenhängend in einem kunstvollen Wirbelgebilde vom Stock hochstoben und dann wie in einer Welle Bewegungen nach links und rechts machten, bevor sie endgültig losflogen, rannte ich hinterher, durch die Obstgärten, rauf und runter, durch hohes Gras und Gestrüpp und Brennnesseln und über Maulwurfshügel, auch mal in die Gärten der Nachbarn, die Gott sei Dank offen standen.

Fast immer den Blick nach oben gerichtet, um den Schwarm ja nicht aus den Augen zu verlieren, fiel ich nicht selten hin, musste mich aber schnell aufrappeln und weiter hinterherhetzen. Meine Knie waren danach oft aufgeschlagen, mein Kleidchen verschmutzt und meine Haare zerzaust, und außer Atem war ich sowieso. Doch das zählte hier nicht.

Auch wenn der Flug zwischendurch an Geschwindigkeit zunahm, gelang es mir dranzubleiben, da die Bienen auf der Suche nach einem geeigneten Platz ihren Flug auch verlangsamten. Meist landeten sie auf einem Ast an einem Baum und blieben da wie eine große Traube hängen, brodelnd und sich unterhaltend. Ich merkte mir die Stelle, lief heim, der restliche Tag gehörte mir allein.

Am späten Nachmittag, wenn mein Vater von der Arbeit kam, zeigte ich ihm den Schwarm im Garten und er fing die Bienen, ausgestattet mit einer Leiter, einem Korb und einem Rauchbläser, wieder ein. Zuhause im Garten schüttete er sie ruckartig aus dem Korb in einen neuen, eigens für das junge Bienenvolk mit frischen Waben hergerichteten Bienenstock hinein.

In der Regel gelang es mir meine Aufgabe bei der Gründung eines zusätzlichen Bienenvolkes gut und zur Zufriedenheit meines Vaters zu erfüllen, auch wenn ich mir als Kind mitten in den Sommerferien spannendere Abenteuer vorstellen konnte.

Nun läuft ja bekannterweise nicht alles glatt im Leben. Diese Binsenweisheit sollte ich nolens volens in diesem Sommer bald kennenlernen.

Aber „Hindernisse überwinden ist der Vollgenuss des Daseins“, sagt Schopenhauer. Also stürzte ich mich ins Abenteuer und nahm das Risiko an.

Zu der Zeit hatte ich einen kleinen Freund, Gert. Er himmelte mich an und war immer darauf erpicht, mir etwas Gutes zu tun und mich zu beeindrucken. Er hing wie eine Klette an mir, was mir auch schon mal unangenehm war. Da er mich aber oft beschenkte, meist mit Erzeugnissen aus dem Garten oder Figuren aus Holz, die er selbst bastelte, ging ich egoistischerweise oft auf ihn ein und hielt ihn mir sozusagen warm. Keine gute Eigenschaft, ich weiß, aber Kinder sind in dieser Beziehung ichbezogener als manch ein Erwachsener. Glaube ich zumindest.

Seine Familie wohnte in einem kleinen schlichten Haus und auch die angrenzenden Gärten waren nicht groß. Der Hof allerdings war riesig und bestand nicht wie bei uns aus Gehwegplatten, Blumenbeeten und gemähtem Gras dazwischen und lauschigen, aus sich rankenden Weinreben entstandenen Lauben, die Schatten spendeten und unter denen man sich in der Mittagshitze aufhalten konnte.

Dieser Hof war nackt und kahl, kein Grün, keine Blumen und die Sonne brannte auf einen aus harter und festgetretener Erde bestehenden gelben Boden, von dem sich hie und da ein leichter, vom lauen Sommerwind verwehter Staub erhob.

Mitten in diesem öden Hof stand einsam ein großer, prächtiger Maulbeerbaum. Der einzige Schattenspender in dieser Ödnis. Der Boden unter ihm war mit reifen Maulbeeren bedeckt, so dass man nicht umhinkam sie, wollte man auf den Baum klettern, zu zermatschen.

Ich kannte sonst niemanden, der solch einen außergewöhnlichen Baum besaß. Wurden die dunklen, länglichen, süßen Beeren reif, lud mich Gert ein, mit ihm zusammen in die Krone des Baumes zu klettern und die herrlichen Beeren zu genießen. Wir saßen für mein damaliges Zeitempfinden ewig in den schattigen Ästen des Baumes und schlugen uns den Bauch mit den wohlschmeckenden, von der Sonne warmen Maulbeeren voll.

Ihre Süße, gepaart mit der milden Sommerluft und der Stille des mittäglichen Dorfes um uns herum, ist eine meiner bleibenden und mich zutiefst mit Ruhe erfüllenden Kindheitserinnerungen. Wie sollte ich Gert für diesen Genuss nicht dankbar sein?

Später in meinem Leben habe ich nur noch einmal einen mit reifen Beeren übervollen Maulbeerbaum gesehen, auf einer Rundreise durch die Türkei. Zu gern hätte ich davon gekostet!

Die Beeren waren dunkel, fast schwarz, wenn sie reif waren, und dementsprechend färbten sich die Zunge und die Lippen bläulich. Man konnte also nur schlecht verbergen, dass man von den Beeren genascht hatte, auch wenn wir noch so vorsichtig beim Essen waren. Es war ja nicht immer erlaubt auf den Baum zu klettern und Beeren zu pflücken, was wir natürlich oft missachteten.

Es kam, wie es kommen musste. Das Schicksal nahm seinen Lauf.

An einem Tag wurde mir wieder eingebläut die Bienen zu hüten, aber gleichzeitig rief mich Gert zu sich Maulbeeren essen. Seine Eltern waren außer Haus, die Oma bei einer Nachbarin, um im Garten zu helfen, also hatten wir freie Bahn. Der Maulbeerbaum mit seinen köstlichen Früchten gehörte an diesem Nachmittag uns allein.

Ich befand mich wirklich und wahrhaftig in einem riesengroßen Gewissenskonflikt. Es war Nachmittag und ich saß natürlich, wie mir aufgetragen, in der Nähe der Bienenstöcke. Was sollte ich tun? Ich war hin- und hergerissen. Der Kopf schwirrte mir vor lauter Pro und Contra. Die Bienen verhielten sich ruhig, kein Anzeichen dafür, dass sie ausschwärmen wollten, war zu sehen oder zu hören.

Sollte ich es wagen und ein Stündchen mit Gert im Maulbeerbaum verbringen? Die Beeren waren besonders reif, dick und süß in diesen Tagen. Ich näherte mich behutsam den Bienenstöcken, um die Bienen nicht aufzuregen und um nicht gestochen zu werden, bat sie inständig wispernd, sich nicht ausgerechnet in der nächsten Stunde auf den Flug zu begeben, horchte und hatte das Gefühl, als ob sie mich verstanden hätten. Ich lief, so schnell ich konnte, zu Gert.

Er saß schon im Baum und lächelte mich selig mit maulbeerblauen Lippen und Zähnen an, sichtlich froh, dass ich endlich da war. Ich kletterte hoch, aß schnell und vorsichtig, um im Gesicht keine verräterischen Spuren entstehen zu lassen und wissend, dass ich nicht lange bleiben konnte. Gert redete schmatzend auf mich ein, wollte wieder mal Eindruck schinden. Ich hingegen saß auf meinem Ast wie auf Feuer, und das schlechte Gewissen plagte mich, während ich mir den Mund mit Beeren füllte. Sie waren trotz der Umstände ein wahrer Genuss. Gert sprach die ganze Zeit, ich nickte nur hin und wieder und schenkte ihm ein Lächeln, damit er sich nicht ganz links liegen gelassen fühlte.

Zuhause wieder angelangt, versuchte ich an den Eingängen der Bienenstöcke eine eventuelle Veränderung festzustellen, schaute mich nach einem Schwarm um, es war aber nichts zu sehen.

Scheinbar hatte ich Glück gehabt. Bis mein Vater von der Arbeit kam, blieb ich gewissenhaft bei den Bienenstöcken. Das schlechte Gewissen plagte mich.

Mein Vater fragte mich natürlich, ob sich mit den Bienen etwas getan hätte, ich sagte nicht ganz die Wahrheit und hoffte, unentdeckt zu bleiben, wobei es mir nicht gut ging mit dem Flunkern.

Sollte ich meinen Fehler eingestehen? Ich tat es nicht.

Dass mein Vater die Bienenvölker kontrollieren würde, daran hatte mein Kinderhirn nicht gedacht. Er konfrontierte mich mit der Tatsache, dass in einem Volk Bienen und eine Königin fehlten, also mussten welche entflogen sein. Ich schämte mich, spielte aber die Unwissende, ich sei fast die ganze Zeit über in der Nähe gewesen. Fast stimmte ja auch fast.

Mein Vater betrachtete mich plötzlich genauer und begann zu grinsen.

„Die Maulbeeren waren wieder süß heute, oder?“, fragte er nun lachend. Ich erstarrte. Oje, waren doch verräterische Spuren in meinem Gesicht? Der Spiegel in der Küche zeigte mir später leicht bläuliche Lippen.

Ich sah unter mich und entschuldigte mich. Natürlich gab es noch eine Standpauke, die ich auch verdient hatte, und ich musste meinen Vater durch die Gärten begleiten, in der Hoffnung den Bienenschwarm zu finden.

Beladen mit Korb und Rauchbläser, Vater mit der Leiter, suchten wir über eine Stunde, und dies war Strafe genug für mein unerlaubtes Maulbeerschäferstündchen mit Gert.

Leider fanden wir die Bienen nicht und die Laune meines Vaters sank und sank. Er schwieg die ganze Suche über, was mich mehr belastete als alles Geschimpfe.

Später zu Hause hieß es nur: „Ich bin enttäuscht. Es soll dir eine Lehre sein fürs nächste Mal. Ich muss mich doch auf dich verlassen können.“

In der folgenden Zeit trennte ich gewissenhaft zwischen Bienenhüten und dem Maulbeeressen bei Gert. Am Ende des Sommers hatte ich beides zu meiner eigenen Zufriedenheit erledigt.

Es entstanden vier neue Bienenvölker dank meiner peniblen Beobachtung und mein Bauch war vollends zufrieden mit der üppigen Menge an verzehrten Maulbeeren.

Und Gert musste bis nächsten Sommer warten, um mich anzuhimmeln. Oder auch nicht.

Lesen Sie auch:
Gut frisiert fotografiert
Jetzt weiß ich, wer du bist
Vespern – bescheidener Genuss am Nachmittag
Grüß Gott
Einfach nur Mitzi
Die Wölfin oder ein Versprechen
Kleiner Napoleon im Federkleid

Schlagwörter: Erzählung, Erinnerungen, Literatur

Bewerten:

36 Bewertungen: ++

Noch keine Kommmentare zum Artikel.

Zum Kommentieren loggen Sie sich bitte in dem LogIn-Feld oben ein oder registrieren Sie sich. Die Kommentarfunktion ist nur für registrierte Premiumbenutzer (Verbandsmitglieder) freigeschaltet.