29. September 2013

Zur Familienzusammenführung / Auswanderung - von Hans Bergel

Vortrag, Film und Presse belebten in letzter Zeit die Diskussion zu einem Thema, das auf die umfassende geschichtswissenschaftliche Verarbeitung noch wartet: Anlass, Hintergrund und Mechanismen der Familienzusammenführung/Auswanderung der Deutschen Siebenbürgens und des Banats aus Rumänien zwischen den 1950er Jahren und 1989/90. Diese jüngsten Darlegungen bedürfen der Ergänzung, da sie sich ausschließlich der administrativen Seite des Vorgangs widmeten und die politische außer Acht ließen.
Anlass der Zusammenführung durch Krieg und Nachkrieg getrennter Familien und späteren Auswanderung war die als unerträg1ich empfundene Notlage, in der sich die deutschen Minderheitengruppen im nationalistisch-kommunistischen Land sahen, ihres Besitzes durch den Staat beraubt, kultureller Entmündung sowie rechtlicher Willkür ausgesetzt, Zielobjekt lokaler chauvinistischer Drangsalierungen, Aussichtslosigkeit der Heranwachsenden, nicht zuletzt in der weiteren Perspektive Verlust des Vertrauens zu jeder Art Regierung im Land, Freiheitsberaubung – all dies führte zu Hilferufen an Bekannte und Verwandte in der Bundesrepublik Deutschland, Österreich, Kanada, den USA.

Die Zahl der Bittsteller, die sich um Beistand bei Auswanderungsversuchen an Personen oder Institutionen in Westdeutschland wandten, wuchs Jahr für Jahr in einem Maße, dass Sprecher der Siebenbürger und Banater im Westen gemeinsam bereits Mitte der Jahre 1950 bei der Regierung in Bonn mit dem Anliegen vorsprachen, das Problem auf höchster staatlicher Ebene zu etablieren. Von nachhaltiger Wirkung waren dabei die Gespräche, die der Siebenbürger Heinrich Zillich und der Banater Peter Ludwig mit dem Bundespräsidenten 1949-59 Theodor Heuss und dem späteren Bundespräsidenten Karl Carstens, 1979-84, führten. In der Folge waren alle Bundeskanzler von Adenauer bis Brandt, von Schmidt bis Kohl mit der Frage vertraut und ließen sie – wenn auch mit unterschiedlichem Nachdruck – auf Ministerebene behandeln. Dazu lässt sich mehr sagen, als hier möglich ist. Schon gar nicht lässt sich auf engem Raum die politische Arbeit veranschaulichen, die von Vertretern der Siebenbürger geleistet wurde, um die Lösung des Problems voranzutreiben.

Unumgänglich bleibt jedoch die Feststellung, dass der Anstoß zur Familienzusammenführung/Auswanderung nicht von der Bonner Politik noch von Vertretern der Siebenbürger oder der Banater kam – wie verschiedentlich behauptet –, sondern dem Wunsch der meisten in Rumänien Lebenden entsprang, das Land endgültig zu verlassen. Mitte 1960 stapelten sich beim Repräsentanten des internationalen Roten Kreuzes in Bukarest, dem Juristen Crăciun, rund 80000 Familienansuchen um die Auswanderungsgenehmigung. Die Zahl bedarf keines Kommentars.

Von den Auswanderungslisten seit 1955 (Siebenbürgische Zeitung vom 15. Juni 1985) ist die Sperrigkeit abzulesen, mit der Bukarest verfuhr. Erst gedrängt vom wirtschaftlichen Verfall des Landes war es bereit, mit der reichen Bundesrepublik ein geregelt verlaufendes Geschäft zu machen: Bonn zahlte pro Auswanderer. Die Listen machen die erpresserischen Verzögerungen des kommunistischen Regimes mit dem Zweck der Erhöhung des Pro-Kopf-Preises deutlich. So trafen z.B. 1958 1333 Deutsche aus Rumänien hier ein, 1959 aber nur 465; 1965 2720, 1967 aber nur 440 etc.

Nicht allein wegen der zunehmenden Bitten aus Siebenbürgen meldeten sich die Siebenbürger im Westen immer unüberhörbarer öffentlich zu Wort (z.B. mit der Großkundgebung am 4. Dezember 1982 vor dem Kölner Dom), sondern jedesmal, wenn Bukarest die Deutschen im Land mit neuen Schikanen peinigte; in dem Schlagabtausch spielte die Siebenbürgische Zeitung eine substantielle Rolle.

Hinzu kam die Auseinandersetzung mit – kleinen – siebenbürgisch-sächsischen Kreisen, die sich der Familienzusammenführung/Auswanderung widersetzten. „Bleiben oder gehen“ wurde zum Schlagwort. Die Erkenntnis, dass der Entschluss, Siebenbürgen zu verlassen, ein historisch von langer Hand angelegtes Faktum war, ging dabei unter.

Der These von der „Heimattreue“ stand die humanitäre Einsicht in die existenzielle Not der zu Sklaven des roten Regimes degradierten Menschen gegenüber. Diese interne Auseinandersetzung verlieh der aufreibenden Brisanz des ­Disputs mit Bukarest zusätzliche Belastungskomponenten. Wie immer, sprach auch diesmal die Geschichte das letzte Wort. Das heißt spätestens 1989/90 wurde der Wille des Großteils der Siebenbürger und Banater mehr als deutlich. Nach der Grenzöffnung verließen sie lawinenartig das Land.

Es war ihre Entscheidung. Sie wurden weder „abgeworben“, noch hatten sie der Bevormundung bedurft. Manchen war dabei bewusst, dass sich hier der tragische Schlussakt eines geschichtlichen Abgangs abspielte. ,,Das Ende einer Hochkultur“, schrieb ein deutscher Journalist.

Mit der KSZE-Konferenz 1973 in Helsinki nebst den Folgekonferenzen erhielt das Problem ein neues Gewicht und Gesicht: „Korb 3“ der Schlussakte 1975 sah das „Recht auf freie Wahl des Wohnlandes“ vor. Nicolae Ceaușescu gehörte zu den Unterzeichnern. Er konnte jetzt beim Wort genommen werden. Der Verbandsvorsitzende Erhard Plesch (1963-77) intensivierte die menschenrechtliche Orientierung der Familienzusammenführung. Seine ungezählten Kontakte mit Bonner Spitzen, wie dem Innenminister Werner Maihofer (1974-78), der Siebenbürgen seit 1942 kannte, waren nachhaltig fruchtbar. 1975 von einer Konferenz in Bukarest und einer Siebenbürgenreise zurückgekehrt, sprach Maihofer in Dinkelsbühl aus, was alle dachten: ,,Reden Sie nicht mehr von Familienzusammenführung, reden Sie von Auswanderung!“ Erst recht wurde der Außenminister Hans-Dietrich Genscher (1974-92) zu Pleschs Dauergesprächspartner. Vorausgegangen waren Treffen 1971 mit Kanzler Willy Brandt, mit Franz Josef Strauß u.a. 1973 traf Plesch in Bukarest Ceaușescu, wenig später, begleitet von seinem Stellvertreter Wolfgang Bonfert, abermals parallel dazu führte ich auf seinen Wunsch als Schriftleiter dieser Zeitung regelmäßige Telefonate mit den Botschaftern Rumäniens Ion Morega und Constantin Oancea.

Großindustrielle von internationalem Gewicht, z.B. Beitz oder Stein, wurden kontaktiert. Wilhelm Bruckner, Verbandsvorsitzender 1977-83, kam u.a. 1980 mit dem späteren Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker und dem späteren Bundeskanzler Helmut Kohl zusammen. In Absprache mit dem Amt Genscher war ich 1975 mit der Forderung nach Bukarest gereist, die Auswandererzahl monatlich auf 1000 zu erhöhen; Anfang 1978 ließ sich Kanzler Helmut Schmidt die Abmachung auf Regierungsebene, von Ceaușescu, bestätigen (ab 1977: über 10000 Auswanderer pro Jahr). Um die Entwicklung nicht einschlafen zu lassen, hielt sich der Verbandssprecher Kurt Schebesch 1980 in Madrid auf (Folgekonferenz); im selben Jahr bat mich Bundespräsident Karl Carstens in Drabenderhöhe um Informationen im Blick auf seinen für 1981 geplanten Rumänienbesuch. War Willy Brandt 1978 in Rumänien gewesen, Karl Carstens 1981, Helmut Kohl 1984, so hatte Bundespräsident Gustav Heinemann 1978 Ceaușescu empfangen. Usw.

Alle hier genannten Spitzenpolitiker oder -industriellen und eine Reihe weiterer Persönlichkeiten waren vor ihren Gesprächen in Bukarest von Vertretern der Siebenbürger Sachsen über die Lage unterrichtet, alle waren um dringende Hilfe auch in der Auswanderungsfrage gebeten worden. Der Verbandsvorsitzende 1983-89 Wolfgang Bonfert setzte die Marschroute fort. Im gleichen Sinne verfuhren die Vereinsobmänner in Österreich Oswald Teutsch, Roland Böbel, Fritz Frank. Im Gefolge dieser politischen Wegbereitung hatte bereits in den ersten Jahren die Umsetzung ins Administrative begonnen; die Rechtsanwälte Ewald Garlepp und Heinz-Günther Hüsch waren ebenso kundige wie geduldige Unterhändler.

Zweierlei sei in dieser Stichwortdarlegung noch festgehalten: In der Verbandsgeschichte gab es weder vor noch nach diesen dramatischen Jahrzehnten – Mitte 1950 bis 1989/90 – so häufige Begegnungen siebenbürgischer Vertreter mit der ersten Garnitur deutscher Politik. Und: Eine Historiografie der Ereignisse ist ohne Heranziehung der umfangreichen Securitate-Dossiers nicht möglich.

Hans Bergel


Hinweis der Redaktion:

Ebenfalls zum Thema Auswanderung/Freikauf meldet sich in der Siebenbürgischen Zeitung Online vom 29. September 2013 der Theologe Prof. Dr. Paul Philippi, Ehrenvorsitzender des Demokratischen Forums der Deutschen in Rumänien (DFDR), zu Wort.

Schlagwörter: Rumänien, Familienzusammenführung, Freikauf

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Neueste Kommentare

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  • 29.09.2013, 09:31 Uhr von orbo: Erbitte soweit Möglich die genannte Zahl von 80000 zu erläutern (ist sie kumulativ oder p.a., sind ... [weiter]

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