25. September 2025

Der Schönste unter den Verstorbenen

Nicolae Tzones Band „Begräbnisse“, jüngst im Pop Verlag erschienen, gehört zweifellos zu den eigenwilligsten poetischen Publikationen der letzten Jahre. Das Werk, ins Deutsche von Horst Samson übertragen, ist in der Form eines Fresko-Gedichts angelegt, das sich aus fragmentarischen lyrischen Partituren zusammensetzt, und spricht mit einer Stimme, die in der Dichtung höchst selten vernommen wird: mit der Stimme eines Toten, eines Mannes, der in den Fluten der Donau ertrunken ist und nun, gleichsam schwebend, seiner eigenen Beerdigung beiwohnt.
Diese ästhetische Entscheidung bedeutet eine radikale Umkehrung der herkömmlichen Perspektive. Wo in der Regel die Lebenden über den Tod sprechen, um den Verlust zu beklagen, ergreift hier der Tote selbst das Wort. „An einem Nagel aufgehängt, der in eine Wolke geschlagen wurde“, neben Gott, beschreibt er die Waschung des Leichnams, die Vorbereitung des Sarges, den Ablauf des Rituals. Doch was sich jenseits dieser Szenen abzeichnet, ist eine weit wesentlichere Einsicht: Trauer wiegt schwerer als der Tod und die Einsamkeit ist bedrückender als das biologische Verlöschen.

Das Gedicht entfaltet seine Wucht durch eine Folge von Bildern, die zwischen naturalistischer Schärfe und surrealer Überhöhung oszillieren. Zersetzte Materie – Algen in den Ohren, Donauschlamm in den Lungen, verfaulter Fischlaich – steht neben transzendenten Symbolen: dem in den Himmel geschlagenen Holzstift, den übergroßen Tränen der Gottheit, dem absoluten Gehör des Toten, der jene Musik vernimmt, die selbst Beethoven nicht mehr hören konnte. Gerade diese Spannung zwischen Konkretem und Metaphysischem verleiht dem Text seine suggestive Bildkraft und seine meditative Tiefe.

Ein Höhepunkt von Tzones Erfindungskraft ist der „Wettbewerb der Toten“, bei dem die Dorfgemeinschaft mit Früchten und Steinen den „Schönsten“ der Verstorbenen kürt. Das groteske Schauspiel, mit feiner Ironie und scharfem Blick geschildert, entlarvt die Oberflächlichkeit und Gleichgültigkeit der Überlebenden: Der Tod gerät zum Spektakel, echter Schmerz, wahres Trauern fehlen. Zwar wird der Erzähler zum „Kaiser der Toten“ gewählt, doch bringt ihm dieser Titel keinen Trost, da niemand um ihn geweint hat. Das einzige Mitleid erweist ihm Gott, der schließlich die Tränen vergießt, die den Menschen versagt bleiben.

Stilistisch bedient sich Tzone einer fragmentierten, oft minimalistischen Diktion: nicht selten besteht ein Vers aus nur einem Wort. Dieses Verfahren rhythmisert die Lektüre und erinnert an den Takt einer Totenklage. Der Tonfall schwankt zwischen feierlicher Gravität, beißendem Sarkasmus und metaphysischer Erleuchtung – ein Amalgam aus expressionistischer Groteske und der Fremdheit des magischen Realismus.

Die rumänische Kritik hat die Bedeutung des Bandes früh hervorgehoben. Gheorghe Grigurcu sieht ihn in der Tradition einer „schwarzen Poesie“, die sich dem Realen widersetzt und die Wiederverzauberung der Welt sucht. Ion Pop betont die Rolle des Dichters als „Sprachoperator“, der souverän zwischen Registern zu wechseln versteht. Octavian Soviany nennt Tzone einen der „Hohepriester“ der Kathedrale der zeitgenössischen Poesie, während Andrei Codrescu das ekstatische Licht dieser Lyrik hervorhebt. Gemeinsam zeichnen diese Stimmen das Bild eines Werkes, das poetisch wie existenziell von zentraler Bedeutung ist.

Ich weiß nicht, wie die Leserschaft dieser deutsche Ausgabe, die die DNA der (rumänischen) Originalausgabe enthält – sowohl durch die inspirierte Umsetzung des Textes durch den Dichter Horst Samson als auch durch die Illustrationen der nicht nur in Rumänien, sondern auch in Deutschland bekannten Künstlerin Suzana Fântanariu – reagieren werden. Eine inspirierte Wahl des immer bekannter werdenden Pop Verlags, um die lange Liste der Lyriker, die dem deutschsprachigen Publikum zur Lektüre vorgeschlagen werden, mit Nicolae Tzone zu erweitern, und die uns sicherlich noch viel mehr bieten wird.

Egal ob es so oder so sein wird, „Begräbnisse“ ist weit mehr als ein Buch über den Tod. Es ist eine Meditation über die Stellung des Künstlers und über die Fragilität menschlicher Gemeinschaft. Das Groteske und die Ironie des Tragischen dienen hier als Mittel einer Reflexion über den Mangel an Liebe, die kollektive Gleichgültigkeit – und zugleich über die Kraft der Dichtung, selbst über die Grenzen des biologischen Lebens hinaus fortzubestehen. In diesem Sinne ist Nicolae ­Tzones Band eine intensive, unvergessliche Lektüre – ein Werk, in dem der Tod nur Anlass ist, vom Leben zu sprechen, von Abwesenheit und von der Sehnsucht nach Mitgefühl.

Nicolae Tzone, 1958 in Malu an der Donau in Rumänien, geboren. 2012 promovierte er an der Fakultät für Literatur in Bukarest. 1990 Gründer und seither auch Leiter des Bukarester verlages vinea. 1998 Gründer und Leiter des Instituts zur Erforschung der rumänischen und der europäischen Avantgarde. Zahlreiche Veröffentlichungen, Preise und Stipendien

Pethő Lorand

Nicolae Tzone: „Begräbnisse“. Gedichte. Aus dem Rumänischen von Horst Samson. Mit 20 bildnerischen Arbeiten von Suzana Fântânariu und einem Nachwort, Metamorphosen, von Ioana Pârvulescu. Pop Verlag, Ludwigsburg, Reihe Lyrik Bd. 195, 134 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag, 33 Euro, ISBN 978-3-86356-420-9.

Schlagwörter: Buch, Lyrik, Rumänien

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