30. Mai 2010

Mitbauen an einer Welt der Gesittung und Humanität

Hannes Schuster, langjähriger Chefredakteur der „Siebenbürgischen Zeitung“ (1989-2001), hat in seiner Ansprache am Abend des Pfingstsonntags an der Gedenkstätte der Siebenbürger Sachsen in Dinkelsbühl die Zuhörer aufgerufen, nicht in rückwärtsgewandter Trauer und nicht im Aufrechnen von Schuld zu verharren, sondern sich verstärkt einzubringen ins öffentliche Gespräch und in die Arbeit an Lebensentwürfen und Verhältnissen, in denen kein Platz ist für Gewalt, Menschenverachtung, Terror und den Verrat an solidarischem Zusammenstehen. Der Redetext wird im Folgenden ungekürzt wiedergegeben.
Hier vor diesen schweigenden Steinen sind wir versammelt, Freunde, um zu gedenken. Zu gedenken der Mütter und Väter, der Schwestern und Brüder, der Töchter und der Söhne, die sie uns und unseren Altvordern einst waren und die aus dem Leben gerissen wurden durch Krieg und Hass, durch Gewalt und Terror, durch Hunger, Kälte und übermächtige Bedrängnis. In einer Stunde wie dieser hier aber will Gedenken auch Be-denken sein, nämlich nicht allein Gedenken der Opfer, ihrer Namen und Zahl, sondern auch Bedenken ihres ganz konkreten Sterbens, ihrer letzten körperlichen Qualen und letzten seelischen Nöte, ihrer letzten Schmerzen und Ängste, ihres letzten Aufbäumens vielleicht und schließlich ihres Versinkens ins gähnende Nichts.
Hannes Schuster rief die Zuhörer an der ...
Hannes Schuster rief die Zuhörer an der Gedenkstätte der Siebenbürger Sachsen in Dinkelsbühl auf, an einer Welt der Gesittung und Humanität mitzubauen. Foto: Lukas Geddert
Und da muss ich mich fragen, muss uns alle fragen: Was wissen wir, was weiß ich von ihrem Sterben, was wissen wir überhaupt vom Tod? Ein deutscher Dichter schrieb die Verse, der Mensch wisse „nur vom Tod, was alle wissen: / dass er uns nimmt und in das Stumme stößt“. Wissen wir denn mehr? Aus Erinnerungen an die Hingegangenen, deren Gedenkstätte wir umstehen, erfahren wir nur, dass die meisten von ihnen jung und sehr jung waren, dass sie mitten in einem Leben standen, aus dem sie brutal gerissen wurden. Sicher hatten sie Träume und Pläne, Sehnsüchte und Erwartungen, ähnlich wie die unseren. Sind diese in ihnen noch einmal fassbar erwacht, bevor sie endgültig verblassten? Ist ihr kurzes, allzu kurzes Leben noch einmal im Schnelldurchlauf an ihnen vorbeigezogen, wie es von Sterbenden heißt, oder waren da nur peitschender Schmerz, übermächtige Drangsal und würgende Todesangst? Stammelten sie letzte Worte oder war da nur Stöhnen und verlöschender Atem? Was nahmen sie ein letztes Mal noch wahr von dem, was Leben und Welt bedeutete, was Wirklichkeit gewesen war für sie durch die Jahre, die ihnen gegeben waren? War da vielleicht Tröstung, von einer Hand etwa, die ihnen über die Stirn strich, einfach nur die ihre hielt, oder war da nichts als leere Trostlosigkeit?

Wir wissen es nicht. Eines aber können wir wissen und sollten es gerade in dieser unserer heutigen Gedenkstunde mit aller ernsten Hinwendung bedenken: dass nämlich Tode wie die ihren, Tode, hinter denen Gewalt und Menschenverachtung stehen, nicht naturgegeben oder gottgewollt sind, sondern immer und überall inhumanem Fehlverhalten und barbarischen Gesellschaftssystemen, nationaler Unduldsamkeit, zügellosem Machtstreben und ideologischem Starrsinn entwachsen wie giftige Pilze und würgende Flechten. So geschehen in dem verbrecherischen, aus wahnwitziger Herrschaftsgier von Hitlerdeutschland angezettelten Weltkrieg, so geschehen mit den Männer und Frauen, die in der sowjetischen Deportation dem Hunger, der Kälte, den unmenschlichen Arbeitsbedingungen und ungehemmt grassierenden Massenerkrankungen zum Opfer fielen oder in den Gefängnissen und Straflagern des nationalkommunistischen Regimes in Rumänien ihr Leben lassen mussten. Die unermessliche Not, die sie alle mit ihren letzten Atemzügen zu durchleiden hatten, verbietet es uns, hier von hehrem Heldentum oder von unausweichlichen Schicksalsschlägen zu sprechen.

Und noch etwas sollte uns verboten sein. Nämlich das Schweigen darüber, dass nicht wenige von ihnen sich hatten verführen lassen von großsprecherisch verkündeten Scheinidealen und planmäßiger Volksverdummung, von hohlen Heilsversprechen und hingehämmerten Phrasen, andere sich gar verstricken ließen in die Mechanismen des diktatorialen Terrors, schuldhaft Untaten begangen oder Verrat geübt haben, Verrat am Menschentum, Verrat an den moralischen Erfordernissen solidarischen Zusammenstehens, Verrat nicht zuletzt an sich selbst. Das alles aber hier aufzurechnen, dazu wollen wir nicht berufen sein, um so weniger, als es die verbrecherischen Systeme waren, die Verbrechen möglich machten, die Verruchtheit förderten, weil sie auf Verruchtheit basierten.

Nicht verharren wollen wir im Aufrechnen und nicht verharren in der Trauer, sondern die Mahnung erkennen, die ausgeht von diesen Steinen, um die wir heute versammelt sind. Lasst uns im Sinne dieser Mahnung arbeiten an Lebensentwürfen und Verhältnissen, die dazu führen, dass Tode, wie sie diese Gedenkstätte in Erinnerung ruft, künftig nicht mehr als unentrinnbare Heimsuchung auf uns und unsere Nachkommen einstürzen können, dass Untaten und Verrat, wie sie tausendfach geschehen sind, nicht Raum gegeben wird. Lasst uns Gemeinsinn fördern und Toleranz üben, Solidarität erfahrbar machen und Verständnis zeigen für Andersdenkende! Lasst uns mitbauen an einer Welt der Gesittung und der Humanität! Und lasst uns das tun nicht nur mit unserem Wohlverhalten im engen Kreis von Familie und Freunden, sondern auch indem wir uns verstärkt implizieren ins öffentliche Gespräch um ein rechtsstaatliches und gerechtes Miteinander in unserem Land und auch über seine Grenzen hinaus.

Vielleicht können wir auf diese Weise dem Sterben, von dem diese Steine hier künden, etwas von seiner Sinnlosigkeit nehmen, ihm einen letzten Sinn verleihen, der uns Heutigen hilft, das Leben zu bestehen, selbst wenn es auch schwere und schwerste Stunden für uns bereit hat. Solche Sinnstiftung aber wird uns eher gelingen, wenn wir wieder und wieder aufs Neue versuchen, „gemeinsam unterwegs“ zu sein.

Schlagwörter: Heimattag 2010, Gedenkstätte, Hannes Schuster

Bewerten:

19 Bewertungen: +

Noch keine Kommmentare zum Artikel.

Zum Kommentieren loggen Sie sich bitte in dem LogIn-Feld oben ein oder registrieren Sie sich. Die Kommentarfunktion ist nur für registrierte Premiumbenutzer (Verbandsmitglieder) freigeschaltet.