22. Juni 2025
„Gedenken macht uns als Gesellschaft menschlich“: Dr. Bernd Fabritius hält Rede an der Gedenkstätte der Siebenbürger Sachsen in Dinkelsbühl
Angeführt von der Knabenkapelle Dinkelsbühl, schritt der Fackelzug am Pfingstsonntagabend durch die Straßen Dinkelsbühls hinauf zur Gedenkstätte der Siebenbürger Sachsen in der Lindenallee der Alten Promenade, die den Opfern von Krieg, Verfolgung, Flucht und Vertreibung geweiht ist. Im Rahmen der Feierstunde hielt der Beauftragte der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten Dr. Bernd Fabritius, auch Präsident des Bundes der Vertriebenen und Ehrenvorsitzender des Verbandes der Siebenbürger Sachsen in Deutschland, die Rede an der Gedenkstätte – ein Programmbeitrag des den Heimattag mitausrichtenden Landesverbandes Bayern. Die Ansprache wird im Folgenden im Wortlaut wiedergegeben.

Ich grüße Sie auch im Namen aller Landsmannschaften, die unter dem Dach des Bundes der Vertriebenen bis heute aktiv sind – und sehen Sie die Niederlegung des Kranzes als Präsident des BdV als Zeichen der solidarischen Anteilnahme aller Landsmannschaften, die damit symbolisch heute Abend an unserer Gedenkfeier teilnehmen. Wir Siebenbürger Sachsen haben als Gemeinschaft, als Volksgruppe, im Laufe des letzten Jahrhunderts Menschen aus unseren Reihen verloren
• in den beiden Weltkriegen
• auf der Flucht der Nordsiebenbürger vor der Roten Armee
• in den Deportationsjahren 1945 bis 1950 in sowjetischen Zwangsarbeitslagern und den Spätfolgen, die zum Teil bis heute wirken
• in Kerkern des kommunistischen Systems bis 1989
• bei den Fluchtversuchen über die Grenzen nach Ungarn und Jugoslawien
Unsere Gedenkstätte ist der Platz, wo wir in Tradition und aus Verbundenheit, in gemeinschaftlicher innerer Einkehr an die Opfer aus unseren Reihen denken.
Wilhelm von Humboldt hat einmal gesagt, dass es „im Grunde die Verbindungen mit Menschen und die Erinnerungen daran“ sind, die dem Leben seinen Wert geben, und die uns bleiben“. Dieses Zitat berührt den Kern unserer Zusammenkunft hier an diesem Gedenkort: Wir denken an Menschen. Wir denken an die Schicksale unserer Vorfahren; an verlorene Orte, die diesen Menschen Heimat war; an funktionierende Gemeinschaften, aus denen sie herausgerissen wurden. Wir halten diese Erinnerungen lebendig, weil sie zu unserem Leben gehören. Sie sind das, was uns bleibt, wenn alles Andere vergangen ist.
Liebe Landsleute, geehrte Gäste, warum gedenken wir? Weil wir nicht nur zurückschauen, sondern das, was war, bewusst in unsere Gegenwart hereinholen, um es mit den nötigen Lehren daraus in die Zukunft zu tragen. Weil wir uns dem stellen, was Menschen erlitten haben. Und weil wir die Verbindungen ehren, die durch den Tod der Opfer zerrissen wurden, und die wir in Erinnerung behalten wollen.
Gedenken macht uns als Gesellschaft menschlich. Es erinnert uns auch – und in dieser Zeit ganz besonders – daran, dass unsere Freiheit, der Frieden und der Zusammenhalt nicht selbstverständlich sind. All das ist auch gebaut auf dem Schmerz und den Opfern vergangener Generationen. Unsere Vorfahren haben in den Kriegen für etwas gekämpft und sind dafür gestorben. Sie haben die Deportation in die Sowjetunion durchgestanden, weil der Gedanke an die Rückkehr in die siebenbürgische Heimat ihnen Trost gab. Bis sie vor Erschöpfung oder vor Hunger starben. Sie haben mit der Flucht ihr Leben aufs Spiel gesetzt, um die Freiheit im Westen zu erlangen. Und wurden dafür zu Tode geprügelt oder erschossen. Sie haben sich aus Charakterstärke und moralischer Überzeugung der Securitate widersetzt. Und verschwanden spurlos und für immer. In diesem Augenblick, wo wir dieser Menschen gedenken, ehren wir auch das, wofür sie standen und wofür sie gekämpft haben.
Ich bitte Sie darum, dass wir für ein paar Augenblicke über den siebenbürgisch-sächsischen Tellerrand hinaus auch auf die anderen Volksgruppen schauen, die unter hohen Opferzahlen durch Krieg und Gewalt aus ihrer Heimat gerissen wurden. Wir denken an die deutschen Vertriebenen, die nach 1945 ihre Häuser, ihre Heimatdörfer, ihr Hab und Gut verloren – die entwurzelt wurden und oft nur mitnehmen konnten, was sie am Leibe und in ihren Köpfen hatten. Wir denken auch an die vielen anderen Opfer von Krieg und Vertreibung, auch die in der heutigen Zeit, vor unserer Haustüre in Europa und weltweit.

Gedenken geschieht jedoch nicht nur hier, in der Öffentlichkeit. Es geschieht auch im Stillen, in den Herzen der Einzelnen. Jeder und jede von uns hat eigene Erinnerungen, eigene Familiengeschichten, eigene Menschen, mit denen wir nicht mehr sprechen können. Manche tragen Fotos der Großeltern bei sich. Andere erinnern sich an Erzählungen aus der Kindheit. Manche haben eine innere Sehnsucht nach einem Ort, den sie vielleicht nie selbst gesehen haben, der aber durch Aufnahme in die Erinnerung unserer Nächsten zu einem Teil der eigenen Identität geworden ist. Und dieser Ort liegt für viele von uns im heimatlichen Siebenbürgen. Dieses zutiefst persönliche, individuelle Gedenken ist genauso wichtig wie das öffentliche. Es ist oft persönlicher, manchmal schmerzlicher. Es geschieht beim Durchblättern alter Briefe oder beim Hören eines alten Liedes. Wie viele von Ihnen, liebe Landsleute, gehen dabei manchmal durch ein Dorf oder das Gässchen einer Stadt, das es nur noch in der Erinnerung gibt?!
Individuelles Gedenken konfrontiert uns mit Verlust und Bruch. Aber gerade, wenn wir es zulassen, kann die Erinnerung lebendig bleiben. So ist schon häufig aus der Vergangenheit das gewachsen, was uns heute noch prägt und trägt. An diesem Punkt – der Gegenwart – will ich mit kritischem Blick auf unsere Zeit feststellen: Wir müssen uns mit allen Mitteln dagegenstemmen, dass der Geschichtshorizont in der Gesellschaft immer weiter schrumpft. Immer mehr Menschen wissen immer weniger über die Vergangenheit. Wer aber nichts über die Geschichte und seine Vorfahren – oder noch präziser – über die Entstehungszusammenhänge seiner Gemeinschaft weiß, die kann diese auch nicht in die Zukunft tragen.
Es sind bedenkliche Zeichen unserer Zeit, dass schnelle Informationen oft mehr zählen als echtes Wissen. Dass Aufmerksamkeitsspannen kürzer werden und Geschichte als „schwer“ oder „alt“ oder rückwärtsgewandt abgetan wird. Alles, was ein breites Geschichtsbewusstsein in unseren Reihen und in der Gesamtgesellschaft fördert, – und ich erspare mir und Ihnen eine Aufzählung, weil sie nie abschließend wäre, begrüße ich uneingeschränkt. Denn eine Gesellschaft, die, ob im Kleinen oder im Großen, ihre Wurzeln und ja – ihre Geschichte – verliert, verliert auch ihre Standfestigkeit.
Mein stiller, aber eindringlicher Appell an den Zeitgeist: Lassen Sie uns das Wissen um unsere Geschichte und damit die Erinnerung an die Opfer aus unserer Mitte und auch die Umstände des Erlebten wachhalten. Lassen Sie uns den Horizont weit machen, nicht eng! Wir müssen wissen, was war, um zu verstehen, was ist – und um zu gestalten, was kommt.
Manche fragen: Warum sollen wir heute noch an das Leid von damals erinnern? Warum können wir nicht einfach einen Schlussstrich ziehen und nur noch nach vorne schauen? Meine, unsere Antwort ist: Gerade weil wir als Gemeinschaft der Siebenbürger Sachsen nach vorne schauen wollen, müssen wir erinnern. Gedenken und Erinnern müssen wir als Brücke zur Zukunft begreifen. Aus unserer Vergangenheit heraus verstehen wir die Gegenwart und gestalten die Zukunft. Das gilt für jeden einzelnen Siebenbürger Sachsen – genauso wie für unsere Gemeinschaft, deren unverzichtbares Instrument unser Verband ist. So bleiben wir stark. So stark, dass wir auch an der Seite der Menschen stehen können, die heute leiden, weil sie in ihren Reihen Opfer zu beklagen haben. So bleiben wir empathisch mit denen, die heute unser Verständnis und unser Mitgefühl brauchen.
Geehrte Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Feierstunde, geehrte jugendliche, junge und junggebliebene Landsleute, liebe Mitspieler der Knabenkapelle, viele von Ihnen sind heute Vormittag in Tracht durch die Gassen Dinkelsbühls gegangen. Die jungen Menschen der Knabenkapelle haben unseren Trachtenumzug heute Vormittag und auch unseren Weg hierher feierlich begleitet. Ich möchte Sie – Euch! – heute Abend ganz besonders ansprechen. Wir, die Älteren, tun was wir können. Ich weiß, dass die Siebenbürger Sachsen wie kaum eine andere Volksgruppe die junge Generation auch in das Gedenken einbezieht. Es darf aber nicht bei uns Älteren stehenbleiben. Wir müssen uns generationenübergreifend sowohl erzählen als auch zuhören dürfen. Junge Menschen müssen Räume fordern dürfen, in denen sie Fragen stellen können, die wir als Jugendliche uns nicht zu stellen gewagt hätten; Verständnisfragen; Wissensfragen; „Hinterfragen“.
Es bedeutet auch, dass wir an so manchen Stellen unsere – manchmal schon sprichwörtliche siebenbürgisch-sächsische Starrköpfigkeit – und ich meine das durchaus liebevoll – unterdrücken müssen, wenn diese hinderlich ist. Junge Menschen haben vielleicht andere Wege, sich zu erinnern oder ihr Gedenken zu ordnen. Sie erschaffen neue Ausdrucksformen. Sie nutzen digitale Medien. Sie gestalten Erinnerungsprojekte auf ihre Weise. Das ist wichtig – und gut so! Wichtig ist, dass die Inhalte weitergetragen werden. Wichtig ist, dass das Feuer der Erinnerung nicht erlischt.
Mit Gedenkstunden wie dieser setzen wir ein Zeichen gegen die Gleichgültigkeit. Wir erinnern uns. Wir gedenken. Wir ehren die Opfer. Wir tragen Verantwortung: Gegen die Gleichgültigkeit, aber für das Interesse an unserer Gemeinschaft der Siebenbürger Sachsen. Ersetzen wir in unserem Sprachgebrauch das Wort „Gleichgültigkeit“ durch das Wort „Interesse“! Interesse für die Lebenden und die Toten in unseren Familien und unter unseren Vorfahren, für unsere Geschichte und für die Menschen in unseren siebenbürgischen Gemeinschaften – und für die vielen, jungen Menschen, die noch da sein werden, wenn wir es nur noch in deren Erinnerung sind. Denn, um es mit Wilhelm von Humboldt zu sagen: Es sind die Verbindungen mit Menschen, die dem Leben seinen Wert geben – und es ist die Erinnerung daran, die uns bleibt. Halten wir sie – Menschen wie Erinnerungen – in Ehren.
Schlagwörter: Heimattag 2025, Dinkelsbühl, Gedenkstätte, Bernd Fabritius, Aussiedlerbeauftragter
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