4. Juni 2023

Teil unserer DNA, unserer persönlichen Geschichte - Wilhelm Maurer hält Rede an der Gedenkstätte der Siebenbürger Sachsen

Der von der Knabenkapelle Dinkelsbühl angeführte Fackelzug schritt am Pfingstsonntagabend durch die Straßen Dinkelsbühls hin zu der den Opfern von Krieg, Verfolgung, Flucht und Vertreibung geweihten Gedenkstätte der Siebenbürger Sachsen in der Lindenallee der Alten Promenade. Dort hielt Wilhelm Maurer die traditionelle Rede an der Gedenkstätte - ein Programmbeitrag der den Heimattag 2023 mitausrichtenden Landesgruppe Hessen. Die Ansprache wird im Folgenden im Wortlaut wiedergegeben.
Sehr geehrte Damen und Herren, sehr geehrte Dinkelsbühler Knabenkapelle, liebe Landsleute und Freunde, ein farbenfroher Tag geht zu Ende und es ist Abend geworden. Es war ein aufregender Tag des Wiedersehens. Ein Tag der Begegnungen unter Landsleuten, die sich einst nahestanden und sich dann über die Jahre trotzdem irgendwie aus den Augen verloren hatten. Ein Tag des gefühlsbetonten Miteinanders. Und was bleibt davon übrig? Urlaube versuchen wir in kleinen Andenken festzuhalten. Durch ein Steinchen, eine Muschel, eine zwischen Buchseiten gepresste Blüte oder einen Gegenstand. Meistens aber – wie auch heute – sind es viele Fotos und Filmchen, für die man später kaum jemals Zeit findet, sie alle anzusehen. Und in jedem Fall nehmen wir Eindrücke mit. In unseren Köpfen und Herzen, von wo wir sie jederzeit abrufen könnten. Um die erlebten angenehmen Erfahrungen nachzuempfinden. Denn es sind überwiegend positive Erlebnisse. Weil wir und Jüngere von Krieg, Deportation, Flucht oder wilder Vertreibung bis jetzt – Gott sei Dank – verschont geblieben sind. Deshalb stehen wir heute hier. Um uns der Generationen unserer Großeltern und Eltern zu erinnern, die nicht so viel Glück hatten. Die vieles durchleiden mussten, was uns erspart geblieben ist. Über ihr erfahrenes Leid, das uns an diesem Ort des Gedenkens eins ums andere Mal einholt, kann man – durch den jahrzehntelangen Abstand zu den geschichtlichen Ereignissen – gewiss emotionslos referieren. Mir will das nicht ganz gelingen. Weil ich befangen bin und denke, es meinen Vorfahren schuldig zu sein, hier auch für sie über das zu sprechen, was diese Steine hinter mir anonym zu erzählen versuchen.

Meine beiden Großväter waren im Ersten Weltkrieg Soldaten der Donaumonarchie, zu der Siebenbürgen damals noch gehörte. Einer von ihnen kam mit einer Verwundung davon. Den anderen führte eine fünfjährige Odyssee durch halb Europa. Dabei überlebte er seinen Fronteinsatz, eine russische und eine italienische Gefangenschaft, eine schwere Malariaerkrankung, blieb von der Spanischen Grippe verschont und irrte schließlich wochenlang auf einem Schiff über das Mittel- und das Schwarze Meer, bis er endlich nach Hause zurückkehren durfte.

Eine Generation später, als sich im Januar 1945 das Ende des Zweiten Weltkrieges anschickte in einer unfassbaren Welle der Gewalt über Europa hinwegzurollen, wurden meine Mutter, meine Schwiegermutter, ihr Bruder, zwei Schwestern meines Vaters und mein Schwiegervater ins Donezk-Becken zur fünf Jahre dauernden Zwangsarbeit deportiert. Die Älteste war 22, die Jüngsten 16 Jahre alt. Währenddessen kam der einzige Bruder meiner Mutter als 19-jähriger Soldat an die Ostfront, wo sich seine Spur in den Wirren der letzten Kriegstage für immer verlor. Mein Vater war bereits 1944 im Fronteinsatz schwer verwundet worden, wodurch er 21-jährig als Invalider das Kriegsende in der Heimat erlebte. Doch musste er, während über alle Deutschen im Osten Europas eine unvorstellbare Apokalypse hereinbrach, monatelang in Keller- und Waldverstecken um sein Leben bangen, währenddessen sein Vater (mein Großvater) aus politischen Gründen für drei Jahre eingekerkert wurde.

An diesem Mahnmal stehend, erinnere ich mich zuerst dieser meiner Familiengeschichte. Aber auch der Schicksale Millionen anderer Menschen, die Ähnliches oder noch viel Schlimmeres mit- und leider oft nicht überlebt haben: Inhaftierung oder Ermordung aus nationalistischen, rassistischen und politischen Gründen, mörderische Bombenangriffe mit sehr vielen unschuldigen Opfern, ruinenhaft anmutende, in Schutt und Asche gelegte Städte. Überlebende, die mit der Erinnerung daran leben mussten, was hasserfüllte Menschen imstande sind einander anzutun. Grausamkeiten und Vergewaltigung. Erlittene Todesängste und das Sterben Nahestehender, das man hilflos ansehen musste.
Wilhelm Maurer sprach an der Gedenkstätte der ...
Wilhelm Maurer sprach an der Gedenkstätte der Siebenbürger Sachsen in Dinkelsbühl. Foto: Christian Schoger
Traumatisierende Ereignisse... Und dennoch nahmen die Betroffenen auch aus dieser Zeit Andenken mit. Andenken der besonderen Art: Narben und Behinderungen. Viel öfter jedoch seelische Beeinträchtigungen, die niemand therapiert hat. Weil die Überlebenden einfach weiter funktionieren mussten. Ganz selten blieb vielleicht ein Foto erhalten, als Schnappschuss ihres Leidensweges. Und den meisten blieb das erhalten, was sich für sie später zu einer Form von Selbsttherapie entwickelte: ihre Erzählungen über das Erlebte. Über das, was sie gesehen und empfunden hatten. Mit zunehmendem Alter sprudelten diese Geschichten immer häufiger hervor. Wenn sich die Familie nach gemeinsamen Mahlzeiten dafür Zeit nahm. Manchmal wurde es sogar etwas zu viel. Weil man zum Zuhören keine Kraft und Geduld mehr aufbrachte. Zu gut kannte man die Geschichten und zeigte nur noch dann vages Interesse, wenn ausnahmsweise die ein oder andere Nebengeschichte vergessen wurde. Dann reichte eine kurze Nachfrage, um eine weitere Stunde Erlebnisgeschichte aufzutun.

Mittlerweile sind diese Geschichten von Schmerz, Hunger, Tod, Abschied und Heimweh in unserem Hause verstummt. Und manchmal scheint es, als ob uns dadurch etwas fehlen würde, so selbstverständlich gehörten sie über Jahrzehnte zu unserem Familienleben dazu. Überhaupt gibt es nur noch wenige Zeitzeugen jener Jahre. Und genau deshalb steht diese in Stein gehauene Geschichte hinter mir, um uns das Erinnern zu erleichtern. Obwohl außerhalb der Stadtmauern gelegen, schafft diese Gedenkstätte der bewegten Geschichte und dem Heimatverlust der Siebenbürger Sachsen eine fassbare, fest verankerte Sichtbarkeit, wie sie Medien mittels Text, Bild oder Ton nicht erreichen könnten. Aber nicht als symbolhafte Anklage, sondern als Erinnerung und als Mahnung. Wobei wiederholte Erinnerung heilsame Kräfte freisetzen kann. Weil man sich durch das Reflektieren aller Facetten der Geschichte, damit kritisch auseinandersetzen kann. Dadurch werden fremde und eigene schuldhafte Verstrickungen erkennbar. Man kann Tatsachen annehmen, wie sie sind, und an Erkenntnissen genesen.

Durch ihre Präsenz schafft diese Gedenkstätte auch einen bleibenden Anlass, einander hier immer wieder zu treffen, um sich dessen jedes Mal neu zu vergewissern, was uns eigentlich durch die Zeiten trägt. In der Rückschau ist es nämlich erstaunlich zu beobachten, dass die Siebenbürger Sachsen nach dem Zweiten Weltkrieg, durch ihre Enteignung und Entrechtung, durch den verloren gegangenen Besitz und vermutlich auch durch die Wertlosigkeit des Geldes, ein neues Bewusstsein des Aufeinander-angewiesen-Seins entdeckten, das sie zu einer einzigartigen Schicksalsgemeinschaft eng zusammengeschweißt hat. Erst Mittel- und Rechtlosigkeit ließen sie erkennen, was ihre Gemeinschaft während den zurückliegenden Jahrhunderten eigentlich am Leben erhalten hatte. Zum einen war es ihr Pioniergeist und Fleiß, aus denen ihnen ein bescheidener Wohlstand erwachsen war. Doch vor allem das Bewusstsein grundsätzlicher Zusammengehörigkeit durch ihre Lebensführung, ihre Sprache und nicht zuletzt durch ihren Glauben von etwas Höherem gehalten zu sein.

„Einigkeit und Recht und Freiheit“ und ihr im Christentum verankertes Gottvertrauen waren es, die sie vor dem Untergang bewahrt hatten, wenn es um ihr Sein oder Nichtsein in Siebenbürgen gegangen war. Dort im Karpatenbogen, in dem Land hinter den Wäldern, wohin sie einst als Gäste gerufen worden waren, wo sie sich über die Jahrhunderte unter wechselnden Herren wehrhaft und häuslich eingerichtet hatten, weil sie glaubten, eine bleibende Heimat gefunden zu haben. Wo sie aber nach Hunderten von Jahren zuerst entrechtet, dann enteignet und schließlich für bare Münze verkauft wurden. All diese Ereignisse sind nicht mehr änderbar. Sie sind Geschichte. Doch sollten sie nicht in Vergessenheit geraten. Weil sie ein Teil unserer DNA, unserer persönlichen Geschichte geworden sind, durch die vieles, was uns ausmacht, erklärbar wird, nachvollziehbar, verständlich und hilfreich. Unsere bewegte Geschichte hat uns nämlich geformt und gelehrt, dass dort wo Zusammenleben mit anderen Menschen gelingen soll, es nicht ohne Vergebung und Neuanfang geht.

Aufgrund dieser Erkenntnisse sind wir dankbar, hier im Land unserer Muttersprache Aufnahme gefunden zu haben und uns hier ein Neuanfang ermöglicht wurde. Doch bei allem Stolz über die Erfolge unserer gelungenen Integration empfiehlt es sich, demütig zu bleiben, weil es nicht allein unser Verdienst war, hier erfolgreich sein zu können. Unsere siebenbürgisch-sächsische (sprich deutsche) Abstammung hat uns zwar den Zugang zu diesem Land als neuer Heimat geöffnet, schenkt uns aber noch keine tiefer reichende Zugehörigkeit zu den Menschen, die uns hier aufgenommen haben. Die müssen wir uns einzeln und in allen Lebensbereichen erst erwerben. Durch gesellschaftliche und familiäre Verflechtung, die in der Regel längst erfolgt ist, und wo noch nicht, befindet sich vieles auf einem guten Weg.

Weil unsere Vorfahren 800 Jahre lang offensichtlich ganz gut Siebenbürger sein und dennoch Deutsche bleiben konnten, meine ich, dass auch wir hier gute Bürger sein und trotzdem Siebenbürgen im Herzen bewahren können. Zwar sind die Bindungen und der Zusammenhalt der Siebenbürger Sachsen in meiner Generation (gefühlt) noch stark, weil sie aus der alten Heimat nachwirken und gepflegt werden. In zwei, drei Generationen könnte und wird das anders sein. Doch wenn unsere Enkel ganz selbstverständlich Franken, Hessen oder Bayern sind, Siebenbürgen aber – auch wenn sie es mit eigenen Augen nie gesehen haben sollten – als Sehnsuchtsort ihrer Großeltern trotzdem noch irgendwie zu ihnen gehört, dann haben wir vieles richtig gemacht.

Vor mehr als 35 Jahren, traf ich nach der Einreise ins Rhein-Maingebiet, im Verlauf der Anmeldeprozedur einen Sachbearbeiter, der mich mit den Worten begrüßte: „Was haben Sie denn mitgebracht?“ Wobei sein Gesichtsausdruck verriet, dass er mehr meinte als meine Unterlagen. Geld und Güter haben wir nicht mitgebracht. Auch keine klingenden Namen von Eroberern oder Siegern in großen Schlachten. Was wir mitgebracht haben, sind bestenfalls Namen gewissenhafter Verwalter, begnadeter Tüftler, guter Lehrerinnen und Lehrer, fleißiger Hausfrauen, Bauern und Handwerker. Alles andere, was wir besaßen, musste zurückbleiben. Nicht zuletzt die weithin sichtbaren Zeugnisse unserer einzigartigen Kultur: unsere Kirchenburgen.

Demnach ist das, was wir hierher mitgebracht haben, bestenfalls die Bereitschaft, uns hier mit allem, was wir sind und können, einzubringen zum Wohle dieses Landes, seiner Bürger und unserer selbst. Wir haben die Erfahrung mitgebracht, dass es im Zusammenleben der Menschen nichts Sinnvolleres gibt als ihren Zusammenhalt, bei aller Vielfalt der Ausprägungen, Ansichten und Veranlagungen. Wir haben die Erfahrung mitgebracht, dass es gelegentlich sinnvoll ist, Umwege zu gehen, was die Strecke zwar verlängert, aber Möglichkeiten bietet, unterwegs mehr Menschen mitzunehmen und sie sicherer ans Ziel zu bringen, als auf dem direkten, brachialen Weg über die Hauptstraße. Wir haben die Erfahrung mitgebracht, dass Anpassung an Mitwohnende nicht bedeutet, ihretwegen die eigene Identität aufzugeben, sondern bloß seine Identität rücksichtsvoll zu leben. Und schließlich haben wir die Erfahrung mitgebracht, dass das Leben weder schwarz noch weiß ist, sondern eher bunt, und ein „sowohl als auch“ oft lebensnäher und zukunftsträchtiger ist als ein „entweder – oder“.

Nicht zuletzt haben wir die Erkenntnis mitgebracht, dass Identität vielleicht das Wertvollste ist, was ein Mensch haben kann. Zu wissen, woher man kommt, wer und was man ist. Wo man dank Sprache, Wertvorstellungen und Glauben verortet ist und hingehört. Niemand gibt das auf, ohne seine Seele zu verlieren. Die gegenwärtigen Ereignisse in der Ukraine haben damit vermutlich viel zu tun. Durch diesen Krieg erhalten hierzulande viele eine Ahnung davon, was Menschen woanders bereit sind, für die Wahrung ihrer Kultur, ihrer Identität, ihrer Heimat zu tun und zu opfern. Durch diesen Krieg wird uns auch bewusst, was es heißt, dass Heimat ein Menschenrecht ist. Doch selbst wenn ich die entschlossene Gegenwehr der Angegriffenen richtig finde, bedaure ich, dass es leider so wenig Anlass gibt, in naher Zukunft auf Frieden vor unserer Haustür zu hoffen. Ein Leben lang habe ich geglaubt, dass es immer und überall möglich sei, einen Weg des Friedens und der Verständigung zu anderen Menschen zu finden. Weil wir nur dann, wenn wir Friedfertigkeit und Toleranz leben, Anlässe vermeiden, die dazu führen könnten, weitere Fundamente für neue Denkmäler zu gießen, wie dieses hinter mir. Davon stehen nämlich schon zu viele in unserem Land. Genau genommen über 1500. Und die sollten uns und allen folgenden Generationen als Mahnmal reichen.

In diesem Sinne schließe ich mit Worten des Dankes an die Stadt Dinkelsbühl, weil sie uns die Möglichkeit bietet, ein Wochenende im Jahr hier einen Teil unserer Identität als siebenbürgisch-sächsische Gemeinschaft leben zu dürfen. Desgleichen danke ich für die gebotenen Rahmenbedingungen zu dieser traditionellen Abendveranstaltung. Ein besonderer Dank gilt der Dinkelsbühler Knabenkapelle für die Begleitung des Fackelzuges an diesen Ort des Gedenkens und für die würdige Rahmung dieser Feier mit dem großen Zapfenstreich. Nicht zuletzt danke ich allen Teilnehmern und Zuhörern für ihre Aufmerksamkeit und wünsche uns allen, dass uns Gottes Segen und sein Friede begleite auf unserem Heimweg und in die kommende Zeit. Auf Wiedersehen!

Schlagwörter: Heimattag 2023, Weltkrieg, Gedenkstätte, Rede, Maurer

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