29. November 2021

Volkstrauertag in Dinkelsbühl: Ingrid Mattes spricht an der Gedenkstätte der Siebenbürger Sachsen

Der diesjährige Volkstrauertag in Dinkelsbühl begann wieder an der Gedenkstätte der Siebenbürger Sachsen. Zahlreiche Teilnehmer hatten sich auf der Alten Promenade eingefunden, darunter Oberbürgermeister Dr. Christoph Hammer, seine beiden Stellvertreter Nora Engelhardt und Georg Piott und mehrere Stadträte. Von der Kreisgruppe Dinkelsbühl – Feuchtwangen waren der Vorsitzende Georg Schuster, seine Stellvertreter Ludwig Groffner und Dieter Hermann sowie weitere Vorstandsmitglieder zugegen. Die Veranstaltung wurde von Hans Litschel mit der Siebenbürgischen Heimatglocke „eingeläutet“, wonach eine ergreifende Rede folgte von Ingrid Mattes, Stellvertretende Vorsitzende des Landesverbands Bayern des Verbands der Siebenbürger Sachsen in Deutschland. An der Gedenkstätte wurden Kränze der Stadt Dinkelsbühl und unseres Verbandes niedergelegt. Nachdem das Siebenbürgenlied von der Stadtkapelle gespielt wurde, ging es weiter zur Kriegergedächtniskapelle und in die Paulskirche. Lesen Sie im Folgenden die Rede von Ingrid Mattes zum diesjährigen Volkstrauertag in Dinkelsbühl.
„Niemand kennt das Ziel der Geschichte. Und dennoch treiben wir nicht einsam und haltlos im Strom der Zeit.“ (Helmut Kohl, 1983)

Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Dr. Hammer, sehr geehrte Stadtratsmitglieder, sehr geehrte Damen und Herren, liebe Landsleute, es ist mir eine Ehre, heute an diesem besonderen Tag zu Ihnen sprechen zu dürfen. Der Volkstrauertag ist ein Tag des stillen Gedenkens an alle Opfer von Krieg und Gewalt und zugleich ein Tag der Besinnung, wie wir heute auf Krieg, Gewalt und Terror reagieren. Besinnung auf das, was wir heute für Frieden, Freiheit, Gerechtigkeit und Menschlichkeit bei uns und in der Welt tun können.

Nicht nur die Tradition, sondern die Einsicht beantwortet immer wieder geäußerte Zweifel, ob wir diesen Gedenktag - 76 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und 103 Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkrieges - noch brauchen. Ja, wir brauchen ihn, aus Respekt vor den Millionen Opfern von Krieg und Gewalt. Wir brauchen diese Momente des Innehaltens, genauso wie wir Orte des Gedenkens brauchen, damit das, was geschehen ist, nicht verdrängt wird.

Beim Digitalisieren des Tagesbuchs meiner Oma habe ich mich erneut mit den Schicksalsjahren im Arbeitslager im Donbass auseinandergesetzt. Die Familie wurde auseinandergerissen, mein damals 13-jähriger Vater wuchs bei den Großeltern auf. Wirtschaftlicher Ruin, Entfremdung, Krankheit und Tod kennzeichneten nicht nur für meine Familie diese erbarmungslose Zeit.
Ingrid Mattes hielt die Rede zum Volkstrauertag ...
Ingrid Mattes hielt die Rede zum Volkstrauertag 2021 an der Gedenkstätte der Siebenbürger Sachsen in Dinkelsbühl. Foto: Sofia Schuster
So wie die Opferzahlen für uns immer unvorstellbare anonyme Größen bleiben werden, so konkretisiert sich in persönlichen Zeilen das Leid der Opfer und ihrer Angehörigen. Für diejenigen, die - zum Glück - die persönliche Erfahrung des Krieges nie machen mussten, wird es ein wenig fassbarer, was es tatsächlich bedeutet, wenn Lebensläufe zerstört und Zukunft nicht erlebt werden kann. Zerstörte Lebensläufe, zumindest aber gestörte Lebensläufe - solch persönliche Tragödien trafen Millionen Deutsche, die nach dem Zweiten Weltkrieg vertrieben wurden. Viele verloren nicht nur die Heimat, sondern auch ihr Leben. Die meisten von ihnen waren persönlich unschuldige Opfer eines verheerenden Krieges, der zweifellos von Deutschland verursacht und verschuldet war.

Wir als Siebenbürger Sachsen gedenken am heutigen Volkstrauertag „der Söhne und Töchter Siebenbürgens, die ihr Leben“ „im Osten“, „im Süden“, „im Westen“, „im Norden“, „hinter Stacheldraht“, „auf der Flucht“, „in der Heimat“ lassen mussten.

Die beiden Weltkriege brachten Elend über die Menschen, Elend für die Familien, Krankheiten, Hunger und Zerstörung in einem unvorstellbaren Ausmaß. Damit es keine Wiederholung geben kann, ist es wichtig, unsere Geschichte, die Ursachen wie auch die Auswirkungen der Kriege und das Elend zu kennen, zu verstehen. Wissen fördert Verstehen, Verstehen fördert Verständnis, Verständnis ist die Basis eines ehrlichen Austausches – das sind die Schritte auf dem langen, nie endenden Weg zu Versöhnung, Verständigung und Frieden.

Im Bewusstsein um die Vergangenheit lernen wir unsere Gegenwart und Zukunft zu bestreiten, ohne Fehler unserer Geschichte zu wiederholen. Fast täglich erleben wir neu, welch ein empfindliches, zerbrechliches Gut der Friede ist. Wir sind ermüdet von der Last der Pandemie und wundgerieben im Streit um den richtigen Weg. Wenn wir heute in die Welt schauen, sehen wir Kriege. Sie begleiten uns täglich in den Medien, und auch in Deutschland gibt es Streit und Gewalttaten in Familien. Täglich sehen wir Leid, Tod und Trauer, die Not der Menschen. Die Art der Kriegsführung, die Behandlung von Gefangenen oder auch praktizierte Verhörmethoden erinnern an längst überwunden geglaubte Barbarei. Mühsam erkämpfte Konventionen und Regeln scheinen zu bröckeln. Gerade da, wo internationaler Terrorismus wahllos Menschen tötet, verletzt und verschreckt, vermissen wir längst jedes ethisch-moralische Tabu. Die Medien führen es uns täglich neu vor und geben uns das beklemmende Gefühl der Machtlosigkeit.

Der Friede ist auch im Kleinen keine Selbstverständlichkeit, sondern er braucht Menschen, die ihn stiften – in der Ehe, in den Familien, in Vereinen und Gruppen. Dort sind wir nicht machtlos. Aber wie die Lage um uns her auch aussieht, wir können und müssen uns entscheiden, welchen Weg wir gehen. Wir können die Nachrichten annehmen, resignieren oder uns in Gesprächen über die aktuelle Lage aufregen. Vielleicht gibt es einige Vorurteile gegenüber dem Unbekannten und eine Furcht vor dem, was kommen mag. Lassen wir diesen Blick auf die Geschehnisse siegen und möglicherweise sogar in Hass umschlagen?

Oder halten wir inne, hinterfragen das eigenen Verhalten, lernen aus unserer Vergangenheit und entscheiden uns heute dafür, dazu beizutragen, dass sich die Geschichte nicht wiederholen wird. Machen wir unsere Augen und unsere Herzen auf. Begegnen wir dem scheinbar Bedrohlichen, lernen es kennen und geben dem Fremden eine Chance, uns ihre Welt zu zeigen. Wir tragen heute die Verantwortung und werden mit unserer Entscheidung die Zukunft prägen. Entscheiden wir uns heute für mehr Achtung, mehr Verständnis, mehr Hilfsbereitschaft, mehr Verantwortung für die Mitmenschen – Bausteine einer besseren Welt, die jeder von uns mit zusammentragen kann. Lassen Sie uns die Aufgaben, die uns unsere Vergangenheit stellt, annehmen und darauf aufbauend weiter an einer Gesellschaft arbeiten, die ihren Stolz aus dem bewussten, sensiblen und verantwortungsvollen Umgang mit ihrer eigenen Geschichte beziehen kann. Mit einer solchen Haltung können wir alle Opfer von Krieg, Terror, Vertreibung und Unrechtsregimen würdigen und ihnen unseren Respekt erweisen.

Wir denken heute an die Opfer von Gewalt und Krieg, an Kinder, Frauen und Männer aller Völker. Wir gedenken der Soldaten, die in den Weltkriegen starben, der Menschen, die durch Kriegshandlungen oder danach in Gefangenschaft, als Vertriebene und Flüchtlinge ihr Leben verloren. Wir gedenken derer, die verfolgt und getötet wurden, weil sie einem anderen Volk angehörten, einer anderen Rasse zugerechnet wurden, Teil einer Minderheit waren oder deren Leben wegen einer Krankheit oder Behinderung als lebensunwert bezeichnet wurde. Wir gedenken derer, die ums Leben kamen, weil sie Widerstand gegen Gewaltherrschaft geleistet haben, und derer, die den Tod fanden, weil sie an ihrer Überzeugung oder an ihrem Glauben festhielten. Wir trauern um die Opfer der Kriege und Bürgerkriege unserer Tage, um die Opfer von Terrorismus und politischer Verfolgung, um die Bundeswehrsoldaten und anderen Einsatzkräfte, die im Auslandseinsatz ihr Leben verloren.

Wir gedenken heute auch derer, die bei uns durch Hass und Gewalt gegen Fremde und Schwache Opfer geworden sind. Wir trauern mit allen, die Leid tragen um die Toten, und teilen ihren Schmerz. Aber unser Leben steht im Zeichen der Hoffnung auf Versöhnung unter den Menschen und Völkern, und unsere Verantwortung gilt dem Frieden unter den Menschen zu Hause und in der ganzen Welt. Deshalb schließe ich mich dem Zitat von Violeta Avram an: „Nur durch die Erziehung der nachfolgenden Generationen im Geiste von Frieden, Mitgefühl, Mut und kritischem Denken können wir verhindern, dass die Grausamkeiten des Krieges sich wiederholen.“

Schlagwörter: Volkstrauertag, Dinkelsbühl, Gedenkstätte, Rede, Mattes, Bayern, Landesverband , Christoph Hammer, Flucht und Vertreibung. Krieg

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