5. Juli 2011

Erinnerung als Notwendigkeit

Ein außergewöhnlich langer Fackelzug bewegte sich am Pfingstsonntagabend durch die Straßen Dinkelsbühls hin zur Gedenkstätte der Siebenbürger Sachsen in der Lindenallee der Alten Promenade. Die traditionelle Rede an der den Opfern von Krieg, Verfolgung, Flucht und Vertreibung geweihten Gedenkstätte hielt Wolfgang Wittstock. Wie der Vorsitzende des Demokratischen Forums der Deutschen im Kreis Kronstadt ausführte, sei „unser Totengedenken hier in Dinkelsbühl (…) keine sinnentleerte Zeremonie, sondern eine Notwendigkeit“. Die „Gräuel der Vergangenheit“ müssten „lebendige Erinnerung bleiben“, damit sie sich nicht wiederholen können. Wolfgang Wittstocks Rede an der Gedenkstätte wird im Folgenden ungekürzt wiedergegeben.
Jedes Volk hat seine eigene, seine spezifische Erinnerungskultur. Die Formen, in denen sich diese Erinnerungskultur manifestiert, widerspiegeln die Höhen und Tiefen, die Sternstunden, aber auch die Schicksalsschläge, die nationalen Katastrophen in der Geschichte des jeweiligen Volkes. Heutzutage haben die meisten Völker und Länder zumindest einen Nationalfeiertag, durch den ein wichtiges geschichtliches Ereignis in der jeweiligen Nationalgeschichte gewürdigt wird. Die Kehrseite der Medaille ist der Volkstrauertag. Als gesellschaftlicher Ritus der Mahnung und Erinnerung ist er eine Erfindung jüngeren Datums als der Nationalfeiertag, eine Erfindung des 20. Jahrhunderts, das mit seinen verheerenden Weltkriegen, mit seinen totalitaristischen, antidemokratischen Ideologien und Gesellschaftssystemen hundertmillionenfach Menschen in Unglück und Not gestürzt, in bis dahin unvorstellbaren Ausmaßen die Verletzung der Menschenwürde, den Verlust von Leben, von Hab und Gut, von Heimat, nicht zuletzt auch das Auseinanderbrechen unserer innerhalb des Karpatenbogens beheimateten siebenbürgisch-sächsischen Gemeinschaft verursacht hat. In Deutschland zum Beispiel gibt es den Volkstrauertag als staatlichen, also nicht kirchlichen Gedenktag. Er wird jährlich zwei Sonntage vor dem Ersten Advent begangen und erinnert an die Kriegstoten und Opfer der Gewaltherrschaft aller Nationen. Auch in anderen Ländern gibt es derartige Totengedenktage. In Belgien und in Frankreich ist der 11. November ein arbeitsfreier Gedenktag. Man weiß: Mit dem Waffenstillstandsabkommen von Compiègne, einer Stadt in Nordfrankreich, wurde am 11. November 1918 der Erste Weltkrieg beendet. Auch in vielen Ländern des ehemaligen britischen Weltreichs, des heutigen British Commonwealth of Nations, ist der 11. November ein nationaler Gedenktag.
Wolfgang Wittstock bei seiner Rede an der ...
Wolfgang Wittstock bei seiner Rede an der Gedenkstätte. Foto: Peter Baumgartl
Die Siebenbürger Sachsen begreifen sich bekanntlich als Volk, das stolz ist auf das, was es zivilisatorisch und kulturell, als Teil der deutschen Kulturnation, in seiner 850-jährigen südosteuropäischen Geschichte geleistet hat. Über weite Strecken dieser Geschichte bestimmten sie als eine der drei anerkannten ständischen Nationen das politische Geschehen im Fürstentum Siebenbürgen mit. Die Siebenbürger Sachsen haben ihre Nationalfarben Blau und Rot, und sie singen bei festlichen Anlässen ihre Nationalhymne „Siebenbürgen, Land des Segens“. Was die Siebenbürger Sachsen nicht bzw. noch nicht haben, sind ein Nationalfeiertag und auch ein eigener Volkstrauertag, wiewohl der Heimattag der Siebenbürger Sachsen, der alljährlich zu Pfingsten hier in Dinkelsbühl begangen wird, die Essenz sowohl des einen wie auch des anderen, in letzterem Fall durch die Zeremonie an dieser Totengedenkstätte, in sich birgt und damit eine wichtige Rolle bei der Ausgestaltung unserer eigenen siebenbürgisch-sächsischen Erinnerungskultur spielt.

Unlängst las ich, dass hier in Deutschland die Diskussionen über die Einführung eines nationalen Gedenktages, an dem der Opfer von Flucht und Vertreibung gedacht werden soll, recht fortgeschritten sind. Einem Beschluss des Bundestages zufolge kann dies der 5. August sein, der Tag, an dem im Jahr 1950 in Stuttgart die Charta der Heimatvertriebenen unterzeichnet wurde. Als Siebenbürger Sachsen können wir uns aber außerdem die Frage stellen, welche Daten unserer eigenen Geschichte sich gegebenenfalls für die Einführung eines siebenbürgisch-sächsischen Nationalfeiertages wie auch eines siebenbürgisch-sächsischen Volkstrauertages eignen würden. Die Schlussfolgerung, zu der mich dieses Gedankenspiel geführt hat, ist keine Überraschung. Als siebenbürgisch-sächsischer Nationalfeiertag kommt vermutlich nur ein Datum unserer frühen Geschichte im Karpatenbogen in Frage: eventuell der Tag, an dem der ungarische König Andreas II. im Jahr 1224 den Freibrief der Siebenbürger Sachsen, das sogenannte Andreanum, unterzeichnete (der aber meines Wissens nicht überliefert ist, weil das Andreanum selbst nur in einer späteren Abschrift erhalten ist); oder jener Tag im Jahr 1550, an dem die Nationsuniversität, die oberste Verwaltungs- und Gerichtsbehörde der Siebenbürger Sachsen, die nach dem Vorbild des Reformationsbüchleins des Honterus verfasste „Kirchenordnung aller Deutschen in Siebenbürgen“ anerkennt, die für die Sachsen sowohl auf Königs- als auch auf Komitatsboden einigendes Kirchenrecht wird; oder eventuell der 18. Februar, der Tag, an dem im Jahr 1583 Stephan Bathory, König von Polen und Fürst von Siebenbürgen, das Eigen-Landrecht der Siebenbürger Sachsen bestätigt, das auf dem Königsboden geltende Grundgesetz, das erst knapp drei Jahrhunderte später (1853) durch das österreichische Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch ersetzt wurde.

Bei der Frage nach einem geeigneten Datum für einen siebenbürgisch-sächsischen Volkstrauertag sind es aber vor allem die Desaster unserer jüngeren Geschichte, die sich in unserem kollektiven Gedächtnis Raum verschafft haben. Gewiss, es gab auch an den Anfängen unserer Geschichte nationale Katastrophen, z. B. den Mongoleneinfall von 1241, der wie ein Orkan oder Tsunami über Siebenbürgen hinwegfegte und für dessen Beginn ein genaues Datum, der 31. März, zugleich Ostersonntag, vorliegt. Auch andere Tage in der Geschichte unseres Volkes könnten für einen möglichen Volkstrauertag zumindest in Erwägung gezogen werden, etwa der 11. Mai des Jahres 1849, als Pfarrer Stephan Ludwig Roth, Märtyrer der Völkerverständigung, in Klausenburg standrechtlich erschossen wurde, der 2. April 1876, als der ungarische Reichstag die Aufhebung der sächsischen Selbstverwaltung auf dem Königsboden verkündete, oder der 30. Juli 1921, als das erste rumänische Bodenreformgesetz in Kraft trat, das unserer Gemeinschaft nicht nur durch die Enteignung der Sieben-Richter-Waldungen schweren Schaden zufügte. Keines dieser Ereignisse hat aber unser heutiges kollektives Gedächtnis derart gezeichnet und geprägt wie das, was den Siebenbürger Sachsen während der letzten Monate des Zweiten Weltkrieges und in den Nachkriegsjahren zugestoßen ist. Auf den Schlachtfeldern dieses verheerenden Weltbrandes ließen auch viele junge Siebenbürger Sachsen, Angehörige der rumänischen Armee oder deutscher Militärverbände, ihr Leben. Die Aufgabe der politischen Mündigkeit, die Orientierung an großdeutsch-nationalsozialistischem Gedankengut hatte, als sich das Blatt wendete, bittere Folgen, nämlich die kollektive Stigmatisierung unserer Gemeinschaft. Die Aushebungen für die Russlanddeportation, die in Siebenbürgen am 11. Januar 1945 einsetzten (Weber, I, S. 259), und die Enteignungen durch das zweite rumänische Bodenreformgesetz, das am 23. März des gleichen Jahres veröffentlicht wurde, waren Maßnahmen, die gezielt gegen die Rumäniendeutschen, Banater Schwaben wie Siebenbürger Sachsen, gerichtet waren, die die Mehrheit unserer Landsleute in Mitleidenschaft zogen, ihnen heute kaum noch vorstellbare Demütigungen und Erniedrigungen, Leid, Not und Tod bescherten und letztendlich katastrophale Folgen für den Fortbestand unserer Gemeinschaft in der angestammten Heimat haben sollten. Diese beiden Tage des Schicksalsjahres 1945, der 11. Januar oder der 23. März, könnten meines Erachtens bei der Suche eines geeigneten Datums für einen siebenbürgisch-sächsischen Volkstrauertag als Inspirationsquelle dienen.

Liebe Landsleute, weil in diesem Jahr hier in Dinkelsbühl auch der 800 Jahre seit der ersten urkundlichen Erwähnung des Burzenlandes gedacht wurde und weil ich aus dem Burzenland komme bzw. in Kronstadt meinen Wohnsitz habe, möchte ich hier nicht unerwähnt lassen, wie wir uns im Burzenland um unsere siebenbürgisch-sächsische bzw. burzenländisch-sächsische Erinnerungskultur bemühen. Es geht dabei in erster Linie um die Michael-Weiß-Gedenkfeier, die jährlich im Oktober beim sogenannten Studentendenkmal in Marienburg stattfindet und die ich in meinen Ansprachen regelmäßig auch als Volkstrauertag der Burzenländer Sachsen bezeichne. Bekanntlich hat am 16. Oktober 1612, vor 399 Jahren, bei Marienburg, rumänisch Feldioara, ungarisch Földvár, 20 km nördlich von Kronstadt gelegen, eine Schlacht stattgefunden, in der der siebenbürgische Fürst Gabriel Bathory, ein Tyrann, und der Kronstädter Stadtrichter Michael Weiß einander gegenüberstanden. Bathorys Ziel war es, Kronstadt zu bezwingen, wie ihm das zwei Jahre zuvor bereits, unter Anwendung von List und Tücke, mit Hermannstadt gelungen war. Die Schlacht ging verloren, Michael Weiß fand zusammen mit rund 300 Landsleuten, Kronstädtern und Bewohnern der umliegenden sächsischen Gemeinden des Burzenlandes, den Tod. Zu den auf dem Schlachtfeld zurückgebliebenen Toten gehörten auch zahlreiche Honterusschüler, einigen Quellen zufolge 39, nach anderen 22. Immerhin, trotz dieses Sieges konnte Bathory Kronstadt nicht einnehmen, und ein Jahr später wurde er von seiner Leibgarde ermordet.

Die Nachwelt hat Michael Weiß ein ehrendes Andenken bewahrt. Im Jahr 1912 gab es in Kronstadt, anlässlich der 300. Jährung, eine große Veranstaltung zum Gedenken an die Schlacht von Marienburg. Damals wurde beschlossen, aus freiwilligen Spenden in Marienburg ein Denkmal für die gefallenen „Studenten“ zu errichten. Dieses Denkmal wurde im folgenden Jahr, 1913, in Anwesenheit von Tausenden von Menschen, eingeweiht, und seither hat hier, bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, jährlich am 16. Oktober, dem Tag der Schlacht, eine Gedenkfeier stattgefunden, für deren Organisation der Coetus Honteri, die Schülerselbstverwaltungsorganisation des Honterusgymnasiums, zuständig war. Im Jahr 1998 wurde die Tradition dieser Gedenkfeiern wieder aufgenommen, nachdem das Studentendenkmal Mitte der 90er Jahre mit Mitteln der Siebenbürgisch-Sächsischen Stiftung restauriert worden war. Für die Organisation der Gedenkfeier sind nun das Demokratische Forum der Deutschen im Kreis Kronstadt, die Honterusgemeinde (d. h. die Evangelische Stadtpfarrgemeinde A.B. Kronstadt) und die Honterusschule zuständig.

Sicherlich, unsere heutigen Michael-Weiß-Gedenkfeiern unterscheiden sich gründlich von jenen, die in der Zwischenkriegszeit in Marienburg stattgefunden haben. Damals wurde der Tod auf dem Schlachtfeld, den Michael Weiß und die „Studenten“ der Honterusschule erlitten hatten, zum Mythos hochstilisiert und als solcher instrumentalisiert und zur Nachahmung empfohlen, und tatsächlich: Nach dem 23. August 1944, als Rumänien das Waffenbündnis mit Deutschland aufkündigte und sich den Alliierten anschloss, was zur Folge hatte, dass auch aus Kronstadt die deutschen Truppen abzogen, haben sich diesen zahlreiche junge Siebenbürger Sachsen, auch Honterus-Schüler, zugesellt, von denen dann nicht wenige, völlig kriegsunerfahren, in den folgenden Wochen und Monaten, noch auf siebenbürgischem Boden, in den Kämpfen gegen die vorrückenden sowjetischen und rumänischen Truppen den frühen Tod gefunden haben.

Es dürfte klar sein, dass es uns heute anlässlich der Michael-Weiß-Gedenkfeiern in Marienburg nicht mehr darum geht, den Tod auf dem Schlachtfeld zu glorifizieren. Vielmehr wollen wir uns alljährlich unserer Vorfahren erinnern, die in den acht Jahrhunderten dokumentarisch belegter Burzenländer sächsischer Geschichte in der Heimat oder in der Fremde als Opfer von Terror und Gewaltherrschaft, von Diktatur, Krieg und Deportation ihr Leben lassen mussten. Marienburg eignet sich aber auch aus einem weiteren Grund sehr gut als Ort unseres jährlichen burzenländischen Totengedenkens: Das Studentendenkmal ist hier nämlich nicht das einzige Mahnmal, das uns an Leid und Tod unserer Vorfahren, an die Katastrophen unserer Geschichte erinnert. Bei der Ausfahrt aus Marienburg in Richtung Rothbach sieht man rechter Hand, 200-300 Meter von der Landstraße entfernt, ein großes schwarzes Kreuz. Dort befindet sich eine Gedenkstätte, die einerseits an in der Kriegsgefangenschaft gestorbene Sowjetsoldaten erinnert, andererseits daran, dass sich in Marienburg im Herbst 1944 ein Internierungslager befand, in das Tausende von Menschen, hauptsächlich Ungarn, aber auch Deutsche, gesperrt wurden. Die Lebensbedingungen waren derart grausam, dass dort rund 300 Häftlinge den Tod fanden. Sie alle, Kriegsgefangene und internierte Zivilisten, die hier sterben mussten, schließen wir jährlich in unser Gedenken mit ein und wollen das auch heute hier in Dinkelsbühl tun.

Unsere Gedenkfeiern in Marienburg, unser Totengedenken hier in Dinkelsbühl sind keine sinnentleerte Zeremonie, sondern eine Notwendigkeit. Denn eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass sich die Gräuel der Vergangenheit nicht wiederholen können, ist, dass sie nicht in Vergessenheit geraten, dass sie lebendige Erinnerung bleiben. Vor einigen Jahren haben Jugendliche in Kronstadt in deutscher Sprache ein Theaterstück – „Die Welle“ - aufgeführt, dessen Handlung auf einer wahren Begebenheit beruht. In den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts unternahm ein US-amerikanischer High-School-Lehrer ein Experiment. Er wollte seinen Schülern beweisen, dass die Bereitschaft, sich einem Massenwahn hinzugeben und die Menschenwürde mit Füßen zu treten, in jedem Menschen angelegt ist. Das Experiment, das die Schüler auf totale Gruppendisziplin einschwor, war - im negativen Sinne - derart erfolgreich, dass es außer Kontrolle geriet und bereits nach fünf Tagen abgebrochen werden musste. Auch diese Geschichte lehrt uns, wie wichtig es ist, dass jedes Volk - die Siebenbürger Sachsen mit inbegriffen - in seiner Erinnerungskultur die richtigen Akzente setzt.

Schlagwörter: Dinkelsbühl, Heimattag 2011, Rede, Gedenkstätte, Wittstock

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