10. September 2019

„Wir haben einen leidensvollen Weg ohne Ende angetreten …“ Vor 75 Jahren wurden die Nordsiebenbürger Sachsen evakuiert

Im September 1944 wurden 35000 Nordsiebenbürger Sachsen vor der herannahenden Roten Armee aus dem Nösnergau und dem Reener Ländchen evakuiert. Mit dem Treck flüchteten zudem Sachsen aus sieben Gemeinden des Kokelgebiets in Südsiebenbürgen. Wer kann die Ereignisse vor 75 Jahren besser beleuchten als Studiendirektor i.R. Horst Göbbel, der während des Trecks in einem ungarischen Dorf geboren wurde? Der Historiker stellt fest, dass die Siebenbürger Sachsen unterwegs waren aus einer vertrauten, jahrhundertelang erprobten Welt in eine höchst ungewisse Zukunft. Die Bedrohungen der Flucht hätten sie dank ihres Überlebenswillens und Realitätssinns, mit einem Mindestmaß an Zuversicht, überstanden. Die Evakuierung von 1944 hätte sie nicht umgeworfen, sondern gewissermaßen zukunftskompatibel gemacht. Lesen Sie im Folgenden, wie Horst Göbbel die Geschehnisse vor 75 Jahren beleuchtet und aus heutiger Sicht versucht einzuordnen.
„In unserem Waggon waren acht schwangere Frauen mit ihren Kindern. In der Nacht breiteten wir uns das Stroh aus, eine Decke drauf, das war unser Bett. Früh morgens wurde alles aufgeräumt, alle saßen am Boden, Stühle gab es ja keine. Am 2. Oktober 1944, 9.00 Uhr früh, eine Woche nach dem Tod meiner Schwiegermutter, habe ich im Waggon in einer Ecke auf Stroh ein Mädchen und einen Jungen geboren. Die Tochter der Hebamme brachte von der Lokomotive warmes Wasser. Damit wurden die Zwillinge ein wenig gewaschen und dann angezogen. Wir befanden uns in Ofehérto. Die Hebamme fragte mich, wie sollen die Kinder heißen? Ich dachte lange nach, dann sagte ich Horst und Erika. In der Nacht zum 3. Oktober ging es dann wieder weiter bis Nyiregyháza, wo wir dann fünf Tage lang auf einem toten Gleis warteten. Am Tag vorher hatte es dort Bombenangriffe gegeben, wir sahen noch die Bombentrichter. …“ (Maria Göbbel, 1914-2003)

Warum im Viehwaggon? Warum so weit weg von zu Hause? Was war überhaupt geschehen?
Deutsch-Zeplinger durchqueren im September 1944 ...
Deutsch-Zeplinger durchqueren im September 1944 Billak. Fotoarchiv Kroner/Göbbel
Im Herbst 1944 fand die Evakuierung der Nordsiebenbürger Sachsen statt. Zusammenfassend hält Dr. Michael Kroner zu den damaligen Vorgängen fest (Text ergänzt): Aufgrund eines von der nordsiebenbürgischen Kreisleitung der deutschen Volksgruppe (Robert Gassner, Generaldechant Dr. Karl Molitoris) rechtzeitig vorbereiteten Planes erfolgte beim Herannahen der Roten Armee im September 1944 die Evakuierung der Sachsen aus dem Nösnergau und dem Reener Ländchen (seit 1940 zu Ungarn gehörend). Eine Evakuierung der Sachsen aus Südsiebenbürgen war nicht vorbereitet worden. Sie wäre nach dem Frontwechsel Rumäniens (23. August 1944) auch nicht möglich gewesen. So ergriffen aus Südsiebenbürgen bloß Einzelpersonen oder kleinere Gruppen mit den abziehenden deutschen Truppen die Flucht. Panikartig wurden außerdem am 6. September 1944 die im Kokelgebiet gelegenen Dörfer Felldorf, Katzendorf, Maniersch, Rode, Zendersch und Zuckmantel evakuiert, am 8. September die Gemeinde Draas.

Die nordsiebenbürgischen Trecks aus 34 Orten aus dem Raum Bistritz, aus elf Gemeinden aus dem Reener Ländchen und aus den sieben genannten Dörfern aus dem Kokelgebiet verließen zwischen dem (6.) 10. und 20. September 1944 ihre Gemeinden. Die Stadtbevölkerung wurde mit Zügen und Lastkraftwagen der Wehrmacht evakuiert. „Der kleine Trost, den man uns gegeben hatte, dass wir in zwei bis drei Tagen wieder in unseren Häusern sein würden, wollte uns nicht recht erquicken. Es wurde wenig gesprochen und nichts vorausgesagt. Aber jeder las in den ernsten und geängstigten Gesichtszügen des anderen seine eigenen Gedanken, die ihm sagten: Wir haben einen leidensvollen Weg ohne Ende angetreten…“ Dies schreibt Johann Mann aus Maniersch in seinem Erlebnisbericht.
Evakuierung aus Siebenbürgen im Herbst 1944. ...
Evakuierung aus Siebenbürgen im Herbst 1944. Darstellung von Hans-Werner Schuster.
Der letzte Eisenbahntransport mit deutschen Flüchtlingen verließ Bistritz am 27. September 1944. Am 12. Oktober zog die Rote Armee in die Stadt ein. Etwa 95 % der sächsischen Bevölkerung hatten die Flucht ergriffen (ca. 35.000). Die Trecks kamen bei verstopften Straßen, meist auf Nebenstrecken, nur langsam vorwärts. Anfang Oktober überschritten sie die Theiß und zwischen dem 25. Oktober und 10. November die damalige Reichsgrenze zwischen Ungarn und Österreich. Sie wurden größtenteils in Nieder- und Oberösterreich untergebracht. Die mit der Eisenbahn Evakuierten landeten in Schlesien, im „Warthegau“, im Erzgebirge und im Sudetenland in Lagern der „Volksdeutschen Mittelstelle“. Doch schon einige Monate später, als die sowjetische Front sich im Frühjahr 1945 näherte, erfolgte zum Teil eine zweite Flucht, die auch nach Kriegsende (9. Mai 1945) in westliche Richtung fortgesetzt wurde. So gelangte ein Teil der Evakuierten nach Niederbayern und von dort nach Mittelfranken (z.B. Lechnitzer in Rothenburg). Die Evakuierung verlangte bei ca. 35.000 evakuierten Nordsiebenbürger Sachsen weniger als 100 verlorene Menschenleben. Dagegen hat die Deportation von mehr als 70.000 Frauen und Männern aus Südsiebenbürgen im Januar 1945 in die Sowjetunion einen Blutzoll von etwa 14.000 Opfern ergeben.

Die bei Kriegsende in den sowjetischen Besatzungszonen Deutschlands und Österreichs sowie in der Tschechoslowakei befindlichen ca. 5000 Sachsen wurden im Juni/Juli 1945 nach Siebenbürgen rückgeführt. (Familie Göbbel aus Jaad gehörte dazu. In Ungarn starb Erika im Alter von knapp zehn Monaten.) Da ihr Besitz samt Häusern enteignet worden war, mussten die meisten außerhalb ihrer Heimatgemeinden Unterkunft suchen. Die arbeitsfähigen Männer und Frauen wurden interniert und zu Zwangsarbeit an verschiedenen Stellen eingesetzt. Repressalien, Verfolgungen und Demütigungen kamen hinzu. Die Anerkennung der rumänischen Staatsbürgerschaft wurde zunächst verweigert. Die einzige Institution, die den Rückgeführten beistand, war die evangelische Kirche. Die deutsche Grundschule von Bistritz konnte erst 1947 mit zwei Klassen den Unterricht aufnehmen, um dann in den folgenden Jahren aufgestockt zu werden. Die Gemeinden erhielten erst später deutschsprachige Schulabteilungen. Es dauerte Jahre, bis sich die Heimgekehrten von dem schweren Schicksalsschlag etwas erholten. Mittlerweile haben fast alle Sachsen Nordsiebenbürgens im Zuge der Familienzusammenführung und Aussiedlung dieses einst deutsche Gebiet verlassen. Soweit Dr. Michael Kroner.
Evakuierung mit der Eisenbahn im September 1944. ...
Evakuierung mit der Eisenbahn im September 1944. Fotoarchiv Kroner/Göbbel
Wie ist das Geschehen vor 75 Jahren heute einzuordnen?

Diese Evakuierung bzw. Flucht der Deutschen aus Nordsiebenbürgen im Herbst 1944 hat eigentlich – und das möchte ich hier klarstellen – fünf Jahre vorher am 1. September 1939 – vor genau 80 Jahren – mit dem verbrecherischen Überfall Nazideutschlands auf Polen begonnen. Es gibt Kausalitäten, die nicht übersehen werden dürfen, es gibt deutsche Schuld, es gibt grauenhafte Verbrechen, die Deutsche anderen zufügten, die nicht totgeschwiegen werden dürfen. Ebenso rechtfertigen von Deutschen begangene Untaten nicht die an ihnen verübten Verbrechen der Sieger.

Im Herbst 1944 waren die Nordsiebenbürger Sachsen unterwegs. Unterwegs aus einer vertrauten Vergangenheit in eine höchst ungewisse Zukunft, aus der althergebrachten Geborgenheit einer in jeder Hinsicht festgefügten, klar definierten, jahrhundertelang erprobten recht sicheren Welt in die große Ungewissheit einer Zeit und Welt ohne klar definierte Koordinaten, aus dem beschaulichen, fast idyllischen, in besonderem Maße geliebten Siebenbürgen ins damalige für den einzelnen völlig unbekannte, mit ungeheurer Wucht in die totale Katastrophe eines selbstverschuldeten Krieges sich bewegende Deutsche Reich, unterwegs aus dem Stand des selbstbewussten Eigentümers und selbständigen Produzenten notwendiger Lebensgüter – insbesondere Lebensmittel – in den Stand des auf fremde Hilfe, genauer auf Überlebenshilfe angewiesenen Obdachlosen, unterwegs aus selbsterarbeitetem Wohlstand in oft bittere Armut, unterwegs aus einer idealisierten Welt, die unweigerlich zusammenbrach, in eine neue, unbekannte, im Werden begriffene, bedrohliche Welt, in eine Situation für den einzelnen nie dagewesener Herausforderungen.
Feierliche Einweihung des Evakuierungsdenkmals in ...
Feierliche Einweihung des Evakuierungsdenkmals in Bistritz am 14. September 2014 Fotoarchiv Göbbel
Dass Katastrophen Geburtshelfer für Neues sein können, hat die Geschichte häufiger gezeigt. In größter Not besinnen sich Menschen, hier die Siebenbürger Sachsen, auf ihre Kardinaltugend: ihren Überlebenswillen, ihren ungebrochenen Wiederaufbauwillen. Leidensfähigkeit, Hartnäckigkeit, Fleiß, Sparsamkeit, Geradlinigkeit, Zuverlässigkeit, Loyalität gegenüber staatlichen und kirchlichen Behörden, Festhalten am christlichen Glauben, Toleranz, Durchsetzungsvermögen auch unter widrigsten Bedingungen, Mut und Bereitschaft zum Neuanfang waren ihre ständigen Begleiter. Dies geschah nach Wandervölker- und Türkeneinfällen sowie Kriegen in früheren Jahrhunderten, nach der Katastrophe von 1944/45 in Siebenbürgen, nach der Evakuierung, nach der Kriegsgefangenschaft, nach der Deportation 1945 zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion, nach dem sehr schwierigen Neuanfang in Österreich, nach der Aussiedlung nach Deutschland.

Wir schreiben das Jahr 2019. 75 Jahre danach sind Klagen und Jammern nicht angebracht.

Wir wollen keineswegs die großen Bürden, den großen Schmerz, das Leid, die Entbehrungen der Evakuierten verschweigen. Wir wollen keineswegs aus dem Blick verlieren, dass die Evakuierung 1944 (ebenso wie die unmittelbar darauf folgende Deportation in die Sowjetunion 1945 und die für uns in Siebenbürgen negative Nachkriegsentwicklung) unser Volk existentiell so tief getroffen hat, dass an eine Fortführung der davor herrschenden geordneten Verhältnisse nicht mehr zu denken war. Aber: Wir dürfen auch andere wesentliche Aspekte nicht beiseiteschieben und uns einfach in den Chor der Jammernden und Klagenden einreihen.

Wir wollen realistisch untersuchen und sauber differenzieren.

Auch die Nordsiebenbürger Sachsen wurden – wie viele andere Völker – schwer getroffen von diesem zweiten mächtigen Donner der Weltgeschichte im 20. Jahrhundert und auch für sie galt es, sich mit dem Ungewöhnlichen auseinanderzusetzen. Zunächst herrschte absolute Perspektivlosigkeit. Die existentielle Bedrohung war riesig. Sie übertrifft sicherlich unsere Vorstellungskraft. Die Versorgung war katastrophal, lebensnotwendige Einrichtungen funktionierten nicht, die alltägliche Mühsal des Flüchtlingslebens war niederschmetternd – in Österreich ebenso wie in Siebenbürgen. Unsere Väter und Großväter, sie wurden 1944 ihrem Zuhause entrissen. Jedoch hatten sie ein Mindestmaß an Zuversicht, sie hatten den angeborenen Realitätssinn. Nicht lähmendes Entsetzen und ohnmächtige Hektik bestimmte ihr Tun im Angesicht dieses historischen Einschnitts mit wechselnden Lebensumständen, mit weniger Sicherheit, mit weniger Planbarkeit, mit weniger Behaglichkeit und Ruhe, mit vielen Brüchen und Unwägbarkeiten, sondern – wie gesagt – ein Mindestmaß an Zuversicht. Manchmal muss etwas auch ertragen und bewältigt werden. Dabei ist Anpassungsfähigkeit gefragt, Erfahrungen der Vorfahren sind willkommen, Identitätsbewusstsein, das Wissen und Wollen, einer Gemeinschaft anzugehören, der Lebenswille, die Kraft zum Neubeginn, das waren letztlich die Trümpfe, die unsere Evakuierten nicht verloren hatten. Und dieses Bewusstsein fehlte den Evakuierten nicht. Die Bedrohungen der Flucht wurden als Herausforderungen akzeptiert. Die Evakuierung von 1944 hat uns nicht umgeworfen. Die Evakuierung von 1944 hat uns im Ergebnis gestärkt, hat uns – salopp gesagt – zukunftskompatibel gemacht.
Bürgermeister Ovidiu Crețu bei der ...
Bürgermeister Ovidiu Crețu bei der Einweihung des Denkmals für Georg Fischer (1843-1923), Direktor des Ev. Gymnasiums (1882-1914), am 22. Juli 2017. Unter Fischers Leitung entstand der Neubau des Gymnasiums 1908-1910 auf der Fleischerallee. Foto: Mihai Ruști
Dass seit fünf Jahren in Bistritz ein Denkmal der Evakuierung von 1944 steht, wirkt ebenso wie die 2017 vor dem ehemals Evangelischen Gymnasium feierlich aufgestellte Büste des Direktors Georg Fischer wie ein kleines Wunder nach der bleiernen Zeit der kommunistischen Diktatur. Zusammen mit der Renovierung der Evangelischen Kirche, der Herausgabe zahlreicher Schriften oder der Präsentation von Kunstausstellungen geschieht im letzten Jahrzehnt in Nordsiebenbürgen viel Bewundernswertes.

Die HOG Bistritz-Nösen (Vorsitzender Dr. Hans Georg Franchy), die rumänische Stadtverwaltung unter Bürgermeister Ovidiu Crețu, die Ev. Kirchengemeinde zeigen auch damit ihre feste Entschlossenheit, sinnvoll zusammenzuarbeiten, das große Erbe der Siebenbürger Sachsen auch in Nordsiebenbürgen wachzuhalten und künftigen Generationen bereitzustellen.

Horst Göbbel

Schlagwörter: Evakuierung, Flucht und Evakuierung, Nordsiebenbürgen, Zweiter Weltkrieg, Horst Göbbel

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